‚Wort zum Geleit‘

Wort zum Geleit

Es ist Thomas Klein sehr zu danken, dass er die Initiative ergriffen hat, um ein Buch mit Texten von Dick Boer zu veröffentlichen. Zwar haben viele Theologen sich positiv mit marxistischem Denken auseinandergesetzt oder marxistisches Gedankengut in ihr eigenes Denken integriert. Ebenfalls gibt es  – in den letzten Jahren zunehmend – Marxisten bzw. vom Marxismus inspirierte Denker, die sich für Theologie interessieren. In den späten siebziger Jahren gab es auch Christen, nicht zuletzt Pfarrer, die selber Mitglied der Kommunistischen Partei wurden. Ihre Gründe waren aber nicht zuerst theoretischer, sondern vor allem praktischer Art. Ein Theologe jedoch, der sich fast ein Leben lang mit der Sache des Kommunismus verbunden hat, diese Verbundenheit auch immer wieder theoretisch begründete und verantwortete, sie auch nach der großen Niederlage 1989 nicht aufgab, ist eine Seltenheit, ja sie ist fast einmalig. Deshalb ist es wichtig die Texte, die dieser Theologe vor und nach der ‚Wende‘ schrieb, zu bewahren. Denn ihre Zeit mag (wie es scheint) gewesen sein, es kann wieder eine Zeit kommen, in der sie aufs Neue sprechen: der Gott der Bibel ist Herr über ‚alle Zeiten‘ (Ps. 90, 2). 

Als Student und schon bald als Freund von Dick Boer, seit den frühen siebziger Jahren eng mit ihm zusammenarbeitend, will ich

(1) um den deutschsprachigen Lesern die früheren Texte besser verständlich zu machen, einige biographische und geschichtliche Hintergründe aus den Niederlanden näher erklären;

(2) etwas zur Kategorie der ‚theopolitischen Existenz‘ im Buchtitel sagen, ins besondere zu der theopolitischen Existenz, wie sie für Dick Boer bezeichnend ist.

Zum ersten: Politische, kirchliche und akademische Kontexte

Dick Boer wurde am 10. Oktober 1939 in Amsterdam, geboren. Sein früh verstorbener Vater vermittelte ihm seine grundlegenden Erfahrungen der großen Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre – und das, was daraus, wie der Vater meinte endgültig, gelernt wurde: einen gesicherten Arbeitsplatz, eine anständige Altersfürsorge, bezahlbare Wohnungen, das Gesundheitswesen für alle zugänglich. Und wenn die Wirtschaft in eine Rezession zu geraten drohte, würde der Staat durch produktive Investitionen dafür sorgen, dass die Abwärtsspirale gestoppt würde. Sein Vater war wie alle damals Keynesianer.

Diese Erfahrung machte ihn zum Sozialisten, und Sozialist blieb er, auch nach dem Ende des fordistisch-industriellen Kapitalismus und der darauf folgenden neoliberalen Welle, die auch viele Linke sowohl in ihrer politischen Überzeugung als auch in ihrer Lebensweise verinnerlichten. Er dagegen befürchtete von Anfang an, dass das Verschwinden des real existierenden Sozialismus auf Dauer auch den Untergang der Sozialdemokratie bedeute.

Die Familie Boer gehörte zur ‚Hervormden‘ (zur reformierten, damals noch Groß-)Kirche. Dort unterrichteten und inspirierten ihn begabte und nonkonformistische Theologen wie der biblische Theologe Frans Breukelman. Sie trugen dazu bei, dass er nach seinem Geschichtsstudium beschloss Theologie zu studieren, mit der Absicht Pfarrer zu werden. Obwohl er sich nach seinem Empfinden seit Jahren am Rande der Kirche befindet und die Gemeinden, in denen er gearbeitet hat, ebenfalls dort ihren Ort hatten, ist und blieb die Basis seiner theologischen Existenz, wie im zweiten Teil der in diesem Buch gesammelten Texte klar zu lesen, die Auslegung der Schriften Israels – wie es einem reformierten Theologen geziemt. Ihrerseits hat die ‚Hervormde Kerk‘ sein biblisch-theologisches Engagement auch anerkannt, als sie ihn in den achtziger Jahren berief mit dem besonderen Auftrag Pfarrer in der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde in der DDR zu werden – als Nachfolger von Bé Ruijs, die erste, aber nie offiziell ordinierte der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde. Als Pfarrer in der DDR hat Dick Boer in der Zeit des (noch immer) Kalten Krieges mit einer auf die DDR-Aktualität zugeschnittenen Bibelauslegung versucht die DDR als sozialistische Alternative mit allen Widersprüchlichkeiten und Schwächen zu verstehen und verständlich zu machen. Obwohl er auf der äußersten linken Seite zu finden war, war er auch ein Vermittler zwischen DDR-skeptischen Niederländern und den mit ihrem Staat aufrichtig verbundenen DDR-Bürgern.

Mit der DDR auch familiär verbunden (seine Frau Margit stammt aus der DDR) wurde die DDR sein zweites Vaterland. Als er 1990, mitten in der ‚Wende‘, der (verborgene) Initiator der Bewegung ‚Für unser Land‘ wird, ist dieses ‚unser‘ für ihn nicht nur eine bloße Metapher, sondern vielleicht mehr als das: wie bei Abraham mehr sein Land als das Land seiner Geburt, als das Land seiner Muttersprache.

Die DDR trat also, könnte man sagen, eher in sein Leben als die Kommunistische Partei der Niederlande (CPN). Diese Partei hatte alte Wurzeln (ihr Vorläufer, die ‚Sociaal-Democratische Partij‘,  wurde 1909 gegründet und nannte sich seit 1919 Communistische Partij Holland). Während der deutschen Besatzung (1940-1945) erwarb sie wegen ihrer, anfänglich übrigens noch zögernden (wegen des Nichtangriffspakts zwischen Nazi-Deutschland und der SU), Rolle im Widerstand große Autorität, besonders in der Arbeiterschaft – der Februarstreik 1941, ein massenhafter Protest gegen die beginnende Judenverfolgung, war ihre Initiative; der nationalsozialistische Angriffskrieg gegen die Sowjetunion machte diese zu einem Verbündeten der Alliierten, was auch der CPN zugutekam. Aber schon bald nach der Befreiung, nach der Machtergreifung der Kommunisten in Prag (1948), wurden die Stadträte der CPN ‚exkommuniziert‘ und standen die Kommunisten generell unter dem Verdacht potenzielle Landesverräter zu sein. 1973, als Dick Boer Mitglied wurde, war die CPN, dank der internationalen Entspannung und der Studentenbewegung, wieder salonfähig(er). Viele junge Intellektuelle, auch aus christlichen Kreisen, schlossen sich der CPN an. Es kam zu Spannungen zwischen diesen Erneuerung erstrebenden Intellektuellen und der immer noch stalinistisch angehauchten Parteiführung (der Stalinist Paul de Groot war, obwohl seit 1967 ‚nur‘ Ehrenvorsitzender, bis 1978 der mächtigste Mann in der Partei). Die Zeitschrift Komma sollte diesen Intellektuellen einen Freiraum bieten, wenn auch innerhalb der von der Parteiführung gesetzten Grenzen. Dick Boer wurde als Redaktionssekretär der Vermittler, weil er für Erneuerung offen war, aber für die ‚alte Lehre‘ Verständnis hatte. Ihm kam es vor allem darauf an eine produktive Verbindung zwischen der Arbeiterbewegung, dem klassischen revolutionären Subjekt des Marxismus, und den neuen Bewegungen (Frauen-, Schwulen- und Umwelt-Bewegung) herzustellen. Als sich aber herausstellte, dass die Erneuerung auf eine ‚Sozialdemokratisierung‘ der Partei (Abschied vom Marxismus, Aufhebung des Verbots jeder Propaganda einer religiösen Weltanschauung) und schließlich auf ihre Auflösung hinauslief, wollte er nicht mehr von der Partie sein. Anders als viele seiner Genossen, anders als  auch ich, wurde er nicht Mitglied der Nachfolge-Partei, ‚Groen-Links‘ (Grüne Linke).

Schon 1966 hatte Dick Boer eine Anstellung an der Theologischen Fakultät der Universität von Amsterdam bekommen, zuerst als Assistent des hochgebildeten  und ironischen, lutherischen Kirchen- und Dogmenhistorikers C. W. Mönnich, später als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachgruppe ‚Geschichte der Theologie‘. In dieser Funktion hielt er seine viel gerühmten Vorlesungen zur Geschichte der protestantischen Theologie im 19.  und 20. Jahrhundert. In diesen Vorlesungen stand, wie Grietje van Ginneken, Dozentin für Frauenstudien, einmal sagte „immer etwa auf dem Spiel“ („Het ging altijd ergens over“)Zusammen mit seinen Kollegen, dem Religionsphilosophen Auke de Jong (seinem Doktorvater), dem Ökumeniker Theo Witvliet, dem Alttestamentler Karel Deurloo und seinem Assistenten Hans Peter Gramberg bildete er eine Arbeitsgemeinschaft, in der sich ‚Bibel, Dogma und Zeitung‘ (frei nach einem Wort von Karl Barth) gesellschaftskritisch zusammenfanden – so den Ruf der Amsterdamer Universität, eine ‚rote Universität‘ zu sein, bestätigend.

Aber als die Neoliberalisierung der Universität ihn zum Komplizen einer für ihn unannehmbaren Wissenschaftspolitik zu machen drohte, nützte er die Möglichkeit sich, 60 Jahre alt, frühzeitig pensionieren zu lassen. Das Ende eines dreißigjährigen Berufslebens war aber keineswegs das Ende seiner produktiven Tätigkeit: wie viele wichtige Bücher, Reden und Beiträge hat er uns in den sechzehn Jahren seines ‚Ruhestandes‘ noch geschenkt!

Sein wirkliches Zuhause aber waren die Kreise, in denen er Zusammenarbeit mit Freundschaft verbinden konnte. Denn ohne Freundschaft konnte er sich ein Engagement nicht vorstellen. Im Grunde sind die meisten der hier veröffentlichten Texte für Freunde geschrieben. Zu diesem Zuhause gehörten bzw. gehören u.a. die Bewegung der Christen für den Sozialismus, die Gruppe um die exegetische Zeitschrift Texte und Kontexte, die Christliche Friedenskonferenz, der Mitarbeiterkreis des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus, die Ökumenische Vereinigung La Roche, der flämisch-niederländische Runde Tisch ‚Christentum-Marxismus‘ und das Amsterdamer Lehrhaus. Dies sind die Kontexte, in denen Dick Boer seine Texte schreibt – einmalige, aber also keine einsamen Texte. Oft konnten seine FreundInnen seine Stellungnahmen nicht nachvollziehen, immer aber wird seine Stimme aufmerksam gehört und was er zu sagen hat ernst genommen.

Zum zweiten: Eine theopolitische Existenz

Die Wortverbindung ‚theopolitische Existenz‘ stammt von mir.[1] Sie bildet eine Kombination der Barthschen Losung aus 1933: ‚Theologische Existenz heute‘, und der Bezeichnung des Auftrages des Propheten Jesaja durch Martin Buber: ‚Die theopolitische Stunde‘. Zwischen den beiden Gliedern der Verbindung gibt es eine, von mir auch beabsichtigte, Spannung. Barth wollte gegen den von den Deutschen Christen (und nicht nur von ihnen) gefeierten ‚Kairos‘ des ‚Erwachens der deutschen Nation‘ die Unabhängigkeit der theologischen Arbeit sicherstellen: ‚Weiter arbeiten als wäre nichts geschehen‘.  Buber dagegen meint, dass die Warnung vor allen weltpolitischen Bündnissen und der Auftrag an den König in Jerusalem: ‚Hüte dich, halte dich still‘ (Jes. 7, 4) der effektiven Ausübung des Königtums Gottes (Theopolitik) dienen sollten, ein Ratschlag, der letztendlich auch politisch vernünftig sei. Also: das Primat der Theologie (Barth) und doch auch die politische Intervention von der von der Theologie gemeinten Theopolitik her (Buber) – beides war gemeint.

Dick Boer bezieht sich auf den Barth von 1933, aber nicht ohne dessen Position zu modifizieren. Nicht nur, dass er mit Recht bemerkt, dass Barth sein ‚weiter arbeiten als wäre nichts geschehen‘ unter anderen Umständen auch umkehren konnte (Am Volkstrauertag 1954: ‚Wir können nicht auf den Gräbern der

[vom Nationalsozialismus]

Geopferten essen und trinken, philosophieren und politisieren und tanzen als wäre nichts geschehen‘). Wichtiger ist, dass für ihn die Verbindung der theologischen Existenz mit dem Sozialismus mehr ist als nur ein Gleichnis, ja, fast eine Gleichung wird, jedenfalls ein point of no return. Deshalb bleibt eine Kirchliche Dogmatik, die dieses Gleichnis nicht explizit benennt, für ihn ‚abstrakt‘. Deshalb auch kann er sich eine theologische Existenz, die sich nicht (oder, wie ich eher sagen würde: nicht auch) im Rahmen dieser Gleichung bewegt, eigentlich nicht mehr vorstellen. Es ist seine Art die Fleischwerdung des göttlichen Wortes zu Ende zu denken, und dann auch alle Konsequenzen dieses Endes – zumindest gedanklich – auf sich zu nehmen. Diese Denkbewegung zeigt sich auch darin, dass Dick Boer Barths Vorschlag‚ die Schöpfung als äußeren Grund des Bundes zu verstehen, noch radikalisiert: Gottes ‚Nein‘ gegen das Nichtige (das Tohuwabohu, Gen. 1, 2) in seiner creatio ex nihilo ist für ihn geradezu die Quintessenz der Befreiungsgeschichte. Nicht alle seine Freunde konnten diese Radikalisierung nachvollziehen. So fragte einer, ob die tragische Dimension des Lebens ganz in die Politik oder in eine Befreiungsgeschichte ‚aufgehoben‘ werden kann. Aber für Dick Boer steht nun mal mit dem Nihil ‚Alles‘, auch seine ganze Seele, auf dem Spiel.

Und wie steht es mit der anderen Seite der Verbindung, die ‚theopolitische Existenz‘? Auch hier hat es bei Dick Boer eine Intensivierung gegeben, sei es in eine andere Richtung. In seiner biblischen Theologie, ‚Erlösung aus der Sklaverei‘, bemerkt er: ‚Man könnte diese biblische Theologie als ‚jüdisch‘ bezeichnen.‘[2] Er deutet damit auf eine Denkform hin, die besagt: Das Sein des biblischen Gottes war ein Sein in der Tat, er hat in den Tagen der Propheten theopolitisch in das Zeitgeschehen interveniert, aber es ist fraglich geworden, ob wir das immer noch von ihm erwarten können und sollen. Ist er nicht auch ein Gott, der sich verbirgt? Ist er nicht ein Gott geworden, der sich in seinem Wort gerade nicht (mehr) inkarniert? In seinem Kommentar zum biblischen Buch Hiob[3] interpretiert er das Gespräch zwischen Gott (dem biblischen Gott!) und Hiob (Hiob 38—42,6) so: der biblische Gott bedeutet zwar immer noch: er, der das Nichtige bekämpfte und sein Volk aus der Sklaverei hinausführte, aber für Hiob ist der Abstand zwischen dieser göttlichen Existenz und dem eigenen Leben einfach zu groß geworden, um ihn noch von seiner Erfahrung her bejahen zu können. Aber, weil Hiob von seinem Gott selber gehört hat, dass die Utopie der Befreiung u-topisch, zum Nicht-Ort, geworden ist, kann er getrost damit leben. Denn auch wenn Gott verborgen ist (sich verbirgt), wir haben immer noch sein Gebot, das Rechte zu tun (Jeschajahu Leibowitz). Dick Boer rechnet damit, dass diese Denkbewegung sich kaum noch in eine christliche Theologie integrieren lässt. Und ich muss gestehen in dieser Hinsicht ‚christlicher‘ (geblieben) zu sein als er. Aber unter Freunden, theopolitisch-existenziell so mit einander verbunden, lassen sich solche Differenzen aushalten – ein Leben lang, wenn es sein muss.

Eine letzte Bemerkung noch zu den Kommentaren, die Dick Boer seinen Texten beigefügt hat. Sie sind als retractationes im Sinne des alten Augustinus zu verstehen: Nicht so sehr als Widerrufungen des damals Gesagten, sondern vielmehr als Richtigstellungen im Lichte späterer Erfahrungen und Einsichten. Mich haben diese Kommentare sehr beeindruckt. Alles, wirklich alles schon Gesagte kann wieder neu besehen und neu durchdacht werden. Auf diese Weise können die LeserInnen die Texte gleichsam doppelt rezipieren: In ihrer Urfassung und in der Perspektive ihrer möglichen Zukunft. Damit hat Dick Boer uns wirklich auch Neues geschenkt und wir haben allen Grund ihm dafür zu danken.

Rinse Reeling Brouwer

Inhaber des Miskotte/Breukelman Lehrstuhls

Protestantische Theologische Universität, Amsterdam


[1]                     Rinse Reeling Brouwer, ‚De teloorgang van het communisme als bestanddeel van mijn theo-politieke existentie‘, in: Wending. Tijdschrift voor evangelie, Cultuur en samenleving 45(1990)6, 300-310.

[2]                     Dick Boer, Erlösung aus der Sklaverei. Versuch einer biblischen Theologie im Dienst der Befreiung, Münster 2008, 18.

[3]                     Dick Boer, Wenn nichts mehr stimmt – Hiob rettet den NAMEN‚ Wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres erscheinen.

About the author

R.H. Reeling Brouwer

Plaats een reactie