Von Heilsgeschichte erzählen

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Rinse Reeling Brouwer

Von Heilsgeschichte erzählen

Rinse Reeling Brouwer, emeritierter Professor für theologische Hermeneutik der Bibel an der Protestantisch Theologischen Universität in Amsterdam, erzählt im Gespräch mit Klara Butting von seinem Glauben an die Heilung der Geschichte Gottes mit uns Menschen.

Lieber Rinse,

ich habe bei Karl Barth gelesen, dass Mozart uns in der Gegenwart hören lässt, was wir am Ende der Tage sehen werden, nämlich „die Schickung im Zusammenhang“. Was meint Karl Barth damit? Kannst du ihm an dieser Stelle nachsprechen bzw. nachglauben?

Die Strophe des alten Kirchengesangs lautet: Da werde ich im Licht erkennen / was ich auf Erden dunkel sah / da wunderbar und heilig nennen / was unerforschlich hier geschah / da denkt mein Geist mit Preis und Dank / die Schickung im Zusammenhang. Karl Barth redet in der Kirchlichen Dogmatik davon unmittelbar bevor er sich der schrecklichen Wirklichkeit zuwendet, die er “das Nichtige“ nennt: Das ist die Bedrohung der guten Schöpfung, die sich doch unter Gottes Fügung ereignet. Ich glaube, es ist nicht möglich sich damit zu befassen, es sei dann, man bekennt mit Paulus: “jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen (gleichwie ich erkannt bin)“. In diesem „dann“ steckt etwas Therapeutisches, etwas Heilendes: “dann“ werde ich alle Wunden, die mir beigebracht worden sind, alle Traumen und Verletzungen, die auf mir lasten, die ich vor meinem Tod nie völlig in ihren Ursachen und Folgen verstehen und verarbeiten kann, verstehen und ich kann endlich Frieden damit finden. Diese Sichtweise hat auch eine starke intellektuelle Komponente: Die deutschen Idealisten die diese Strophe in ihrem Gesangbuch fanden und wahrscheinlich auch Karl Barth als Erbe des idealismus, wollen endlich mal verstehen, was immer unverständlich war, bei Tätern und bei Opfern, bei Andern und bei sich selbst, als Täter und als Opfer.

Kann ich ihnen das nachsagen? Für mich ist wichtig, was Walter Benjamin gesagt hat: “Der Unsterblichkeitsglauben darf sich nie am eigenen Dasein entzünden“. Hoffnung tragen wir für alle Toten, „nur um der Hoffnungslosen willen“. Es geht also nicht in erster Instanz darum, dass mein eigenes Wissensbedürfnis letztendlich befriedigt wird, sondern darum, dass Alle, die gekränkt, vergessen, aus dem Gedächtnis getilgt sind, dennoch im Gedächtnis des ewigen Gottes bewahrt und gegenwärtig sind. Weniger als das darf ich nicht glauben, so sage ich mir selbst. Wie ich es aber denken kann, mit meinem eigenen Bewusstsein je in diesem ewigen Gedächtnis Gottes mit aufgenommen zu sein, ja, davon habe ich eigentlich kaum eine Vorstellung.

Ich möchte in Hinblick auf die Rede von „Gottes Fügung“ noch einmal nachfragen. In dem Glaubensbekenntnis Dietrich Bonhoeffers heißt es, dass „Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Ist das für Dich zu wenig?


Damit verlässt due den Gesichtspunkt der Ewigkeit und kommst zu der Gottesgeschichte in der Zeit. Ich bin nicht der Überzeugung, dass es von der zweiten zur ersten Betrachtungsweise eine gerade Linie geben kann. Das Reich des ewigen Lichtes ist nicht als die Verlängerung oder als der Endpunkt eines historischen Prozesses aufzufassen. Die Figur, die ich bevorzuge, ist eher die Folgende, die ich beim Philosophen Giorgio Agamben las (im Aufsatz ‚Schöpfung und Erlösung‘, aufgenommen im Band Nacktheiten, 2010). Das Glaubenswissen, dass im ewigen Gedächtnis Gottes alles Unrecht und alle Tränen ewig bewahrt und gegenwärtig sind, darf ich im Rücken haben. Von dort her bin ich der Geschichte meiner Lebenstage vor Gottes Angesicht überliefert. Ja, ich bin frei, es zuzulassen, mich daran verloren zu geben. Wenn alle Namen in Gottes Wissen gekannt sind, brauche ich mir selber keinen Namen in der Geschichte zu machen. Wenn alles Unansehnliche bei Gott gerettet ist, kann ich mit vielen der Rettungslosigkeit preisgegebenen Geschöpfen ein bisschen gemeinsam zu leben versuchen. “Wenn das Weizenkorn, das in die Erde fällt, nicht stirbt, bleibt es allein“ (Johannes 12, 24). Das ist keine Lebensstrategie: wir Menschen sind nicht zu dem Kamikaze da. Es ist auch keine Tugend der Ritterlichkeit, wie man in der Romantik wohl gedacht hat: man sollte sich auf diesem Umweg letztendlich die eigene Opferbereitschaft und damit sich selbst beweisen. Nein, es ist eine Skizze des Weges Gottes in der Zeit, der in seinem Wort nicht allein bleiben will, sondern mit den Menschen, unter den Menschen, für die Menschen da sein will, besonders für diejenigen Menschen, die ohne Gott sind. In den zitierten Worten Bonhoeffers vernehme ich darum nicht eine Geschichtsbetrachtung, keinen Versuch, Gottes Umgang z.B. mit Hitler zu deuten, sondern eine Aussage der Bereitschaft, dem Weg Gottes in die Tiefe und ins Dunkel, sei es auch nur – wie bei den Frauen am Kreuz – “von ferne“, zu folgen, darauf zu verweisen und davon im eigenen Leben und im eigenen Lebensverlust zu zeugen.

Ich kann mit der Vorstellung, dass wir von der Rettung herkommen, viel anfangen. Doch zugleich geschieht dieses Bewahrt- und Gerettet sein, von dem wir herkommen, auch in der Zeit. Jesus hat mit seiner Treue die Herrschaftsstrukturen dieser Welt besiegt. D.h. was Gott ist, sollen wir tun – in Liebesgeschichten, Versöhnungsprozessen, in Regeln für Menschenwürde, Umweltschutz, Tierschutz. „Das Reich des ewigen Lichts“, auf das wir hoffen, ist nicht die Verlängerung historischer Prozesse, aber es kommt in Auseinandersetzung unter uns zum Vorschein, oder? In diesem „oder?“ sind zwei Fragen enthalten:1.  Dürfen wir hoffen, dass das, was in Gott wirklich ist, sich unter uns und manchmal auch durch uns und in uns verwirklicht? – und 2. dürfen wir hoffen, dass Gott zur Erde kommt und unter uns wohnt?

Ja, Gott wird bei uns wohnen, wie er in das Zelt der Begegnung gekommen ist, das von den Kindern Israels in der Wüste errichtet wurde. Und wie Er dort mit Mose Mund zu Mund geredet hat, so wird Er es tun (so ist uns gesagt) und so tut er es vielleicht schon heute. In diesem Zelt ist das Geheimnis der ganzen Schöpfung, der Erde unter dem Himmel, bewahrt (Exodus 40). Zwar ist die Erde, wie sie in dieser Weltzeit ist, immer schwer bedroht. Petrus redet von einer neuen Erde unter einem neuen Himmel, weil die ‚Elemente‘ (Strukturen) der alten Erde nicht beizubehalten sind (2 Petrus 3,12f.). Die Astrophysik redet von einer beschränkten Lebensdauer des Planeten. Das ist eine andere Sprache. Dennoch verstehen wir heute, eher als frühere Geschlechter es taten, wie sehr auch diese Erde der Sterblichkeit ausgesetzt ist. Jedenfalls droht sie frühzeitig in eine Lage zu geraten, wo sie für das menschliche Leben nur Chaos und keine Bewohnbarkeit mehr aufzeigt. Wenn sie dann den Weg allen Fleisches gehen wird, sollte  es nicht unter unserer Verantwortung geschehen, dass die verletzliche Grundlage vieler Geschöpfe unnötig durch permanente Vergeudung beschleunigt wird. Gerade wer von der Erlösung her von der Endlichkeit auch unserer Umwelt weiß, soll da aufmerksam sein.

Aber werden wir etwas davon sehen, von einer neuen Erde?

Ich muss dabei oft an die letzte Strophe der berühmten Hymne des Isaac Watts denken: ”Could we but climb where Moses stood / and view the landscape o’er / not Jordan’s stream, not death’s cold flood / should fright us from the shore”. Mose auf dem Berg Nebo sieht das Land der Verheißung, aber er darf es nicht betreten. Zwischen der Tora und den Propheten fließt ein Fluss des Todes. Aber dennoch ist die Verheißung sehr nah. Auch wenn es uns wie Mose nicht gegeben ist, mit unseren Füssen auf die neue Erde zu treten, dann ist uns doch jedenfalls im Zelt der Begegnung die Tora gegeben, die sowohl die Erwartung lebendig hält, wie mit ihren Weisungen konkrete Handlungsperspektive bietet. Wir müssen wieder neu über solche Weisungen in unserer Lage nachzudenken, aber eine “Richtung und Linie“ (Barth) ist uns gegeben.

Ich habe bei deinen Worten das Gefühl, dass das Wissen um unsere Fehlbarkeit und um die Sterblichkeit der Erde mehr Gewicht hat als die Verheißung, dass diese Erde sich in einen Lebensort für alle verwandeln wird. Was ist mit der Frage, die Heiko Kornelis Miskotte die Frage des Judentums an die Kirche genannt hat: Erwarten auch wir noch den Messias-König und sein herrliches Reich?

In dem Fall reden wir nicht vom ewigen Zusammensein mit dem Messias, wie bei der ersten Frage über die Ewigkeit, sondern vom Vorletzten, von der Augenblick eines viel und viel besseren Leben auf der Erde schon in diesem Äon. Die Losung Karl Barths aus 1922 scheint mir noch immer richtig: „Ohne Chiliasmus, und wenn es nur ein Quentschen wäre, keine Ethik“! Wir sind nicht handlungsfähig, wenn wir uns das mögliche Reich gar nicht vorstellen können.

Die Bindung des Satans für tausend Jahre nennt die Offenbarung als Voraussetzung eines Reiches des Friedens für die Menschen und für die Erde. Zugleich ist es terminiert: siebzig Geschlechter, tausend Jahre, es kann auch für einen Tag sein: da blitzt das Reich auf. Und wir vernehmen: dieses Reich ist das Vorletzte; das endgültige Urteil steht noch aus. Dennoch ist die Wende auch schon vollzogen. Das wichtigste ist schon gesagt und  die Verbrecher sind schon verurteilt. Mit unserem üblichen Verständnis der Zeit kommen wir hier nicht aus. Das tausendjährige Reich kann jetzt schon da sein, wenn wir aufmerksam darauf achten.

Eine schwierige Frage ist, wer die Subjekte sind, die mit Christo im Vorletzten herrschen? Wenn man das Herrschaftssubjekt soziologisch bestimmt (die Mehrheit oder die Minderheit, die richtige Gläubigen oder eine Partei) kann es nur schief gehen. Paulus hat hier das prophetische Bild des “Restes“ aufgenommen (Römer 9,27; 11,5); das zieht mich an. In der Johannes-Apokalypse heißen diejenigen, die mit Christo regieren „die Seelen deren, die enthauptet sind um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen, und die nicht angebetet haben das Tier“ (20,4). Die wahren politischen Subjekte auf der bewohnbaren Erde sind also die Gestorbenen, die dennoch leben und die durch ihre Kampferfahrung hindurch irgendwie gereinigt sind. Auch hier weiß ich wirklich nicht, wie ich mir das denken kann, und dennoch vermute ich, dass es wichtig ist, mir hierüber Gedanken zu machen.

Zweimal beobachtest du in unserem Gespräch eine Wendung vom Ewigen zum Zeitlichen. Was mich verwirrt. Denn ist diese Unterscheidung möglich, wenn wir über Gottes Geschichte nachdenken? Du nennt die Gestorbenen Subjekte der Geschichte hin zu einer bewohnbaren Erde. Was ich sehr schön finde. Und auch wir wissen, dass unsere Arbeit für eine solche neugestaltet Erde nicht vergeblich ist, weil Gott sie mitwirklichen lässt „in Ewigkeit“ (1 Korinther 15,58).  D.h. doch aber, dass der Gesichtspunkt der Ewigkeit und die Gottesgeschichte in der Zeit untrennbar zusammengehören. Das macht die biblische Gottheit (oder was die Alten versucht haben mithilfe der Trinität zu bekennen) doch gerade aus. Martin Buber sagt deshalb statt Ewigkeit „Weltzeit“. Weil dieses „Das-es-auf-dieser-Erde-was-wird-mit-dem-guten-Leben“ zu Gott gehört.

Du hast gut gespürt, liebe Klara, dass ich immer zögerlicher werde angesichts eines ökumenischen Konsenses, der sich in der Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg abgezeichnet hat. Ein klassischer Ausdruck hat dieser im 39. Paragraph des Konzilsdokument Gaudium und Spes gefunden: „Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann. Alle guten Erträgnisse der Natur und unserer Bemühungen nämlich, die Güter menschlicher Würde, brüder[schwester]licher Gemeinschaft und Freiheit, müssen im Geist des Herrn und gemäß seinem Gebot auf Erden gemehrt werden; dann werden wir sie wiederfinden, gereinigt von jedem Makel, lichtvoll und verklärt“. Das ist nicht falsch gesagt, und ich kann verstehen weshalb es im Jahr 1965 auf dieser Weise gesagt werden sollte, aber der Unterschied zwischen dem Reich der Gnade und dem Reich der Glorie ist hier doch wohl sehr schwach artikuliert.

Ich würde sagen: obwohl unsre Welt ihr Urteil in der Geschichte der Gekreuzigten schon hinter sich hat, brauchen wir doch dringend noch ein ernsthaftes Gespräch mit Ihm über den sogenannten Fortschritt dieser Welt und seine Folgen, unsere kollektive und persönliche Verantwortlichkeit dafür und seine Präsenz dabei. Und obwohl wir, die Seinigen, schon partizipieren in der trinitarische Geschichte des Gottes, der in Christo für uns und im Geist in uns ist, müssen wir dringend in einer Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ erfahren, was diese trinitarische Geschichte nun letztendlich für den dreieinige Gott selber und damit für uns, auch für uns in diesem heutigen Leben, bedeutet.

Ich selbst bevorzuge deshalb für das Leben in dieser, unserer Zeit das von Calvin benutzte Bild des Wachtpostens, auf dem wir uns nach dem Kommen des ewigen Lebens umsehen (Institutio III.9.4). Es impliziert den Kampf zwischen der kommenden und der vergehenden Welt. Es bringt zum Ausdruck, dass wir selbst die Entscheidung im Gefecht nicht liefern können, dass aber wohl Wachsamkeit, und damit eine – sei es eine begrenzte – Tätigkeit von uns gefragt ist. Weiter besagt es, dass wir uns nach Ablösung von unseren Posten sehnen. Das Bild des Wachtpostens ist von Hoffnung geprägt, unterminiert aber nicht die Ernsthaftigkeit. Es ist Ausdruck nicht eines euphorischen, wohl aber eines wirklichkeitsnahen Zeitbewusstseins. Es ist eine Vorstellung mit der ein Mensch – ich jedenfalls – besser durchhalten kann.

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R.H. Reeling Brouwer

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