Spinoza und seine “nichtreligiöse Religion”

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Vortragsreihe ‘Religion und Philosophie in Deutschland. Von Luther bis Heine’

Lambertus-Saal der Lambertikirche, Oldenburg, 20. Oktober 2015, 19.30 Uhr

1. Der häretische Jude

Sein erster Biograph, der Arzt Jean-Maximilien Lucas, berichtet von einem aufgeweckten Jungen, dem Sohn des Geschäftsmannes und parnas (Vorstehers) der portugiesischen Synagoge Amsterdams, Michael Espinosa:

 ‘Er war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als er Schwierigkeiten aufwies, die die größten Gelehrten unter den Juden Mühe hatten zu lösen, und obwohl eine so große Jugend noch kaum das Alter der Unterscheidungsgabe ist, besaß er trotzdem genug davon, um zu bemerken, dass seine Zweifel seinen Lehrer in Verlegenheit brachten. Aus Furcht, ihn zu reizen, stellte er sich, als sei er von seinen Antworten volkommen befriedigt, und er begnügte sich, sie aufzuschreiben, um sich ihrer zu ihrer Zeit und an ihrem Orte zu bedienen’[1]

Zwar ist Baruch in den Teilnehmerlisten der spezifisch rabbinischen Fortbildung nach dem “Talmud Tora”-Unterricht nicht aufzufinden – sehr wohl dagegen in der Mitgliederliste des Studienvereins “Ets Heim”, wo sein Name nach dem Bannfluch im Jahre 1656 gestrichen worden ist[2] –, aber doch kann man hier an Fragen denken, die er später aus den Kommentaren zu Deuteronomium bezüglich der Autorschaft der sogenannten ‘Fünf Bücher Mose’ zitiert:

‘Jenseits des Jordan usw.; vorausgesetzt, du verstehst das Geheimnis der Zwölf; und auch Moses hat das Gesetz geschrieben; und der Kanaaniter war damals im Lande; auf dem Berg Gottes wird es offenbart werden; und auch sein Bett hier, ein Bett aus Eisen; dann wirst du die Wahrheit erkennen.’

Im Theologisch-Politischen Traktat wird Spinoza diese kryptischen Sätze folgendermaßen erklären:

‘Mit diesen wenigen Worten bloßer Andeutung macht er doch deutlich, dass es nicht Moses war, der den Pentateuch geschrieben hat, sondern irgendein anderer, der viel später lebte’ – Spinoza meinte wohl den Priester Ezra, nach dem Exil – ‘und dass das von Moses geschriebene Buch ein anderes Werk war. Um das zu beweisen, verweist er auf mehrere Punkte: 1. [Zu Jenseits des Jordan:] Die Vorrede des Deuteronomium konnte von Moses, der den Jordan nicht überschritt, nicht geschrieben werden’ – 2. Moses’ ganzen Buch ist auf dem Umfang eines einzigen Altars niedergeschrieben, der nach dem Bericht der Rabbinen aus nur 12 Steinen bestand, woraus sich ergibt, dass Moses’ ganzen Buch einen weit geringeren Umfang hatte als der Pentateuch. Das hat unser Autor mit das Geheimnis der Zwölf zum Ausdruck bringen wollen (…) – 3. In Deut. 31,9 heißt es: Und Moses hat das Gesetz geschrieben, was nicht Moses’ Worte sein können (…) – 4. In Gen. 12,6 fügt der Erzähler bei dem Bericht über Abrahams Wanderung durch das Land hinzu: Der Kanaaniter war zu jener Zeit noch im Lande, was klarerweise ausschließt, dass es zu der Zeit, in der er dies schreibt, noch so war. Diese Worte müssen demnach nach Moses’ Tod geschrieben worden sein. (…) – 5. In Genesis 22,14 heißt der Berg Morya Berg Gottes, welchen Namen er erst bekam, nachdem er für den Bau des Tempels geweiht worden war; dazu war er jedoch zur Zeit Moses’ nocht nicht auserwählt. (…) – 6. In Deut. 3 ist in die Erzählung von Og, dem König von Basan, folgende Stelle eingeschoben: Allein Og war von den Riesen übriggeblieben, und siehe, sein Bett war ein Bett aus Eisen. Dieser Einschub zeigt ganz klar, dass der Schreiber dieser Bücher lange nach Moses gelebt hat; denn so zu sprechen ist nur dem eigen, der von längst vergangenen Dingen erzählt und für die Beglaubigung seiner Erzählung auf Überbleibsel aus jener Zeit verweist (…).’[3]

Sein großer Traktat gehört somit zur Geburtsstunde dessen, was man später als die historisch-kritische Methode in der Forschung der Bibel bezeichnen wird. Spinozas Fragen werden von Anfang an auch begleitet sein von Äußerungen eines philosophischen Zweifels an der Lehre der Rabbiner. Weshalb sollte man Wunder annehmen bei Phänomenen, deren Ursachen man mit den Mitteln der neueren Physik viel besser erklären kann? Weshalb Gott als einen ‘eifrigen Gott’ verkünden, als ob Er, einem Menschen gleich, selber auch eine Partei inmitten menschliches Parteigezänks wäre?

Wenn Baruch oder Bento sich dann, nach dem Tod des Vaters 1654, bei der lateinischen Schule des ehemaligen Jesuiten Franciscus van der Enden anmeldet und die übliche Scholastik kennenlernt, vervielfältigen sich seine Vorbehalte. Denn gerade ihre Abhängigkeit von einer überholten Metaphysik macht die theologische Argumentation schwerlich haltbar. In der freimütigen, ja agressiven Vorrede des genannten Traktats wird Spinoza von den Theologen sagen:

‘Wenn sie irgend etwas an göttlicher Erleuchtung besäßen, müßte das aus ihrer Lehre deutlich werden. Ich räume ein, daß sie für die tiefsten Mysterien der Schrift nie genug Bewunderung haben zeigen können, konstatiere aber, dass sie nichts weiter als die Spekulationen der Aristoteliker und Platoniker gelehrt haben, denen sie die Schrift angepaßt haben, um nicht den Eindruck zu erwecken, Anhänger der Heiden zu sein. Es hat ihnen dabei nicht gereicht, mit den Griechen Unsinn zu reden, auch die Propheten wollten sie mit ihnen wahnsinnig sein lassen….’.[4]

Für die Leitung der portugiesisch-jüdischen Gemeinschaft bildeten solche Gedanken ein Problem. Ihre Herkunft aus der Welt der Marranen, die zur Konversion zum Römischen Katholizismus in der iberischen Vergangenheit gezwungen worden waren, zog ohnehin eine labile Identität nach sich; es hat schon mehrere Konflikte mit Freidenkern gegeben, aber mit der Unterzeichnung des Dokuments zur Aufenthaltsbenehmigung in der Republik, das von Hugo Grotius verfasst war, hatte die Leitung sich verpflichtet ketzerische Äusserungen vorzubeugen. Die Forscher sind sich nicht ganz einig, in wieweit neben geschäftlichen Vergehen auch solche häretischen Auffassungen Bento’s – an sich gar nicht außergewöhnlichen – Bannfluch am 27. Juli 1656 (in der christlichen Zeitrechnung) unvermeidlich gemacht haben. Es kommt mir aber vor, dass der dann 23-Jähriger Jüngling dessen Unvermeidlichkeit faktisch akzeptiert hat. Jedenfalls hat er keinen Versuch gemacht, sich mit einem Reuebekenntnis aufs neue bei den parnassim zu melden. Auch ist er keine neue religiöse Bindung eingegangen – und diese Bindungslosigkeit weist wohl auf etwas Außergewöhnliches, eine neue Handlungsweise in der europäischen Modernität, hin. Baruch, jetzt Benedictus Spinoza war nicht, wie man wohl zu Unrecht oft behauptet hat, ein einsamer Denker, denn er war auf neuer Weise mit Gelehrten, Freunden und Geistesverwandten vernetzt. Er war es aber – und da war er sich sehr bewußt – in einer für ihn gefährlichen Umgebung, die das nicht verstand und es nicht verstehen wollte. Deshalb zeigt sein ex libris eine Rose mit stachlichem Dorn (spinosa) und mit der Warnung: « caute », paß mal auf!

2. Der Gott Spinozas in der Ethik, speziell im ersten Teil, Lehrsatz 11.

Allmählich entwickelt Spinoza dann seine eigene Gedanken, wie es in einem erst in 19ten Jahrhundert in niederländischer Sprache wiedergefundene Schrift, die ‘Kurze Abhandlung’, heißt, ‘von Gott, dem Menschen und dessen Glück’. Anfänglich – auch nachdem Spinoza wegen des Betreibens der Rabbiner aus Amsterdam vertrieben wurde und sich in Rijnsburg bei der Universitätstadt Leiden angesiedelt hatte – ist das Sprachfeld noch ziemlich christlich-neuplatonisch geprägt, aber am Anfang der sechziger Jahren, wenn er sich zum Neubau  seines Werkes ‘nach geometrischer Methode dargestellt’ entschließt, nimmt es eine vorwiegend strenge Gestalt an, mit Definitionen, Grundsätze (Axiomen) und einem deduktiven Kette der aufeinander und auseinander folgenden Lehrsätze (Propositionen). In dieser Letztgestalt wird das Werk eine Ethik heißen, als die Entfaltung eines Weges zum Glück und zum Heil, aber diese Handlungstheorie setzt eine gründliche Destruierung der überlieferten Metaphysik voraus. Dennoch, oder gerade deshalb, heißt es einfach: erster Teil, De Deo, von Gott. Diese Destruierung der Tradition erscheint wie eine neue Gotteslehre. Deshalb hat Salomon van Til, der reformierte Theologe des Jahrhundertwechsels in ’t Voor-hof der Heydenen aus 1694 von einer ‘ongodistische godistery’ bei Spinoza geredet, einen Ausdruck, den ich im Titel des jetztigen Vortrag als ‘eine nichtreligiöse Religion’ wiedergegeben habe; aber es geht mir um den Gottesbegriff, in welchem das Werk Gott die Ehre gibt und ‘Gott’ zugleich destruiert. Ich kommentiere nun zuerst den elften Lehrsatz des ersten Teils, der eine Steigerung der sorgfältig aufgebauten Reihe der vorangehenden Sätze bildet:

‘Gott oder die Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt, existiert notwendig.’[5]

Für Aristoteles gab es in der Welt eine ganze Reihe unreduzierbare Substanzen. Für Descartes dagegen gab es wesentlich zwei Substanzen, die sich nicht auf einander reduzieren ließen: Denken und Ausdehnung. Da draußen und da droben gibt es dann auch noch eine Instanz, welche im Verborgenen den Zusammenhang, die Erkennbarkeit und die Wirklichkeit beider Substanzen garantiert: Gott. Spinoza hat einige Probleme mit dieser Auffassung. Wird die cartesianische Gottheit die Erkennbarkeit wirklich garantieren, oder wird sie ihr eher frustieren? Sodann: läuft der Dualismus der beiden cartesianischen Substanzen nicht die Gefahr einer Hierarchisierung, wo die res cogitans oder die Seele – wie ein kleiner, persönlicher Gott – sich faktisch über die Ausdehnung erhebt und sich selbst damit im Zentrum aller Dinge setzt? Spinoza befürwortet eine radikale Dezentrierung des Subjektes. Zwar anerkannt auch er die gegenseitige Unreduzierbarkeit von Denken und Ausdehnung, aber er will diese ganz anders begründen als Descartes es getan hat, und zwar durch die Konstruktion (in den ersten zehn Propositionen) der unreduzierbaren Attribute die nur in einer einzigen Substanz gedacht werden können. Die Substanz ‘besteht aus’ (Martial Guéroult übersetzt: sie wird ‘konstituiert durch’) den Attributen. Nur wo sie existieren, existiert auch die Substanz. Die Substanz existiert deshalb nicht unabhängig von jenen Attributen. Umgekehrt: jedes Attribut – wie es heißt –  ‘drückt (ewige und unendliche) Wesenheit aus’. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat 1968 eine wichtige Studie Spinoza et le problème de l’expression publiziert, in der er ausführt, dass hier eine richtige und wichtige Neuerung Spinozas vorliegt. Die übliche Alternative zum Begriff eines persönlichen Gottes war die neuplatonische: aus einer Ursubstanz fließen viele Krafte und Gedanken hervor auf der Weise einer Emanation: das was ausfließt ist zugleich eine Verminderung des Seins, ein Verlust im Vergleich mit dem Urzustand, ein ‘Erkälten’, wie die Mythologie es sagt. Aber die Figur eines ‘Ausdrückens’ besagt etwas anderes als die einer Emanation: es gibt hier kein Wesen der Substanz außerhalb der Attribute in denen sie sich ausdrückt, sie ist nicht eine Tiefe hinter der Attributen, aber sie existiert sosusagen an der Oberfläche der Existenz der Attributen. Es handelt sich nicht um den Grund des Seins, sondern um das Sein selbst, und das wird quasi ‘gefeiert’ in der Wirklichkeit der Attribute.

Sodann: ‘Unter Gott verstehe ich das unbedingt unendliche Wesen, das heißt die Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jede ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt’ (Definition 6). Nur die Kategorie der Unendlichkeit ermöglicht es, an sich unreduzierbare Attribute dennoch als in der Substanz existierend zu denken. Und diese Kategorie enthält keineswegs eine negativ-theologische Infragestellung der Substanz, sondern gerade ihre richtige Begründung als die Wirklichkeit, in der Alles existiert und in der Alles gedacht werden kann (Lehrsatz 15). Man bemerke, dass in diesem ersten Teil der Ethik von der cartesianischen Dualität von Denken und Ausdehnung faktisch noch gar nicht die Rede ist. Das wird erst im zweiten Teil, von der menschlichen Seele und von ihr Vermögen die Attribute zur erkennen, geschehen. Im ersten Teil sieht es so aus, dass es in der unendlichen Substanz eine Unendlichkeit unendlicher Attributen gibt, unabhängig von der Frage ob sie vom Menschen wahrnehmbar sind.

Sodann: dasjenige was der elften Lehrsatz im Vergleich mit der sechsten Definition hinzufügt ist gerade die These: ‘Ein solcher Gott sive (das heißt) die Substanz (…) existiert notwendig.’ Es handelt sich um die klassische Frage des Beweises der Existenz Gottes. Die ganze Deduktion der nochfolgenden Lehrsätzen mit ihren Beweisen ist völlig abhängig von der Richtigkeit dieses Beweises. Im scholium (in einer Anmerkung) bei Lehrsatz 11 bemerkt Spinoza, dass er zwei Beweise a priori geliefert hat, und das sein dritter Beweis zwar a posteriori aussieht, aber doch im Grunde in einer a priori-Gestalt umsetzbar sei. Das will sagen: er geht nicht von der Existenz der Welt aus, um in dieser Spuren Gottes nachzuweisen, wie z.B. Thomas von Aquin das gemacht hat, aber er denkt völlig von der Erkenntnis der Gott-Substanz her. Warum das so sein muss, werden wir später sehen.

3. Mehr zum Gottesbegriff der Ethik und zur Ethik in ganzen

Man kann Lehrsatz 11 auch sehr einfach zusammenfassen: ‘was ist, das ist da!’ Die Gott-Substanz existiert einfach, das ist die Voraussetzung des Ganzen, und deshalb existiert Alles in dieser Substanz und kann Alles nur in dieser Substanz gedacht werden. Von daher werden wir jetzt versuchen, einen Überblick des ersten Teils und danach der vollständigen Ethik zu erhalten.

Die Lehrsätze 11-15 bieten Bestimmungen der Existenzweise Gottes: Notwendigkeit, Unteilbarkeit – ein Problem bei einer Figur mehrerer unendlichen Attributen in der einen unendlichen Substanz – und Einheit – alle Dinge in Ihm, oder, kann man sagen: Pan-en-theismus.

Von der Lehrsatz 16 an ist die Macht Gottes der Gegenstand der Deduktion. Gott ist die Ursache aller Dinge und der Grund alles Denkens. In Lehrsatz 18 heißt es unumwunden:

            ‘Gott ist die inbleibende, aber nicht die übergehende Ursache aller Dinge.’[6]

Die Gott-Substanz ist zwar das Größte, das Allumfassende, aber sie ist keine transzendente Instanz. Sie ist in allen Dingen: Pan-theismus. In dieser Weise ist sie nicht nur die Ursache, sondern auch die Folge, nicht nur die bewirkende Instanz, sondern auch das Bewirkte, nicht nur unendlich wirksam (21-23), sondern auch gegenwärtig in allen endlichen Modifikationen (24-29). Das bekannte deus sive natura (Eth. IV, Vorrede[7]), Gott das heißt die Natur, erscheint hier als Folge des mehr grundsätzlichen deus sive substantia.

Nachdem auf dieser Weise das Konzept einer Schöpfung aus dem Nichts destruiert ist, folgt noch die Zerstörung der Vorstellung eines persönlichen Gottes, der denken, wollen und dann auch diesen seinen Wille in seiner Macht durchsetzen sollte (31-36). Die Gott-Substanz denkt nicht, sondern das ganze Wissen im Kosmos existiert im Unendlichen (Ep. 64), und das konkrete Wissen jedes beschränkten Wesens existiert in einer endlichen Modifikation Gottes. Die Gott-Substanz will auch nicht, sie fasst keine Beschlüsse, aber ihre sogenannten Dekrete sind nichts anders als die Gesetze der Gott-Natur, des Gottes der auch als Folge seiner Ursächlichkeit auftritt. Von der Vorstellung einer personalitas Dei (Persönlichkeit Gottes), bemerkt Spinoza, könne er kein klares Konzept entwickeln (Cogitata Metaphysica II.8). Deshalb sind das Denken und das Wollen inadäquate Vorstellungen, die man sich von der Macht Gottes macht, und davon gilt (Lehrsatz 34):

‘Gottes Macht ist seine Wesenheit selbst’[8]

Das Wirken der Gott-Substanz in aller Dingen (16-36) ist deshalb gerade mit ihrer ewigen Essenz (1-15) zu identifizieren. Das was ist und was sich als mächtig – von der dritten Teil (Lehrsatz 6) an wird es sich zeigen: als conatus, d.h. als Selbsterhaltungstrieb – erweist, habe ich deshalb einfach bei meiner weiteren ethischen Reflexion als unausweichbare Gegebenheit zu akzeptieren.

Am Ende des ersten Teils befindet sich dann noch ein wichtiger Anhang. Denn wenn die Deduktion eines Gottesbegriffs der Perspektivlosigkeit des Seins, folgt man Spinozas Befund, der einzige richtige und wissenschaftliche Begriff Gottes ist, wie kann es dann sein, dass die große Mehrheit der Menschheit mit einer ganz andere Gottesvorstellung zu leben pflegt? Hier, sagt Spinoza, habe er eine ganze Reihe von Vorurteilen zu beseitigen, die sich nicht mit seinen Überlegungen decken.[9] Man muss nämlich wissen, dass Menschen ohne Erkenntnis von der Ursachen der Dinge zur Welt kommen. Ihre Erfahungen und Beobachtungen interpretieren sie vor allem perspektivisch. Sie erleben sich selbst im Mittelpunkt der Welt, und fragen sich, was ihnen nützlich sei. So werden sie auch andere Menschen, die Natur und dann auch Gott und die Götter in ihrer eigenen Perpektive einverleiben, und fragen: wie können alle diese nützlich sein für mich? Zugleich werden sie voraussetzen, dass auch die anderen Wesen in diesem Sinn eine perspektivische Existenz führen, und ihre eigene Interessen verfolgen. Und auf dieser Weise entsteht dann die Voraussetzung, dass Gott ein personales Wesen mit eigenem Wille und Intention sei, der vielleicht auch ‘fur mich’ nützlich auftreten könnte. Und wenn der Mensch die Ursachen der Geschehnissen seines Lebens gar nicht mehr verstehen kann, rekurriert er auf einen dem Menschen verborgenen, unerkennbaren Willen Gottes, und sein Gott wird ihm damit zu einer ‘Freistatt der Unwissenheit’ (asylum ignorantiae).[10] Als die erkenntnistheoretische Basis dieser Mechanismen weist Spinoza zum Schluß die erste Art des Erkenntnisvermögens auf: die imaginatio (Einbildung; Baensch übersetzt: Vorstellung). Diese Vermögensart ist gegeben mit des Menschen Leiblichkeit und deshalb unaufhebbar. Sie ist aber wohl zu korrigieren, und zwar mit Hilfe der ratio (Baench: des Verstandes), der richtigen und adäquaten wissenschaftlichen Einsicht. Und damit ist das Programm eines Weges zum Leben gegeben: versuche, für dich die anfängliche Effekte der Vorstellung durch eine Entwicklung des Verstandes zu korrigieren, und versuche deshalb den Aberglauben (Eth. III Lehrsatz 50 Anm.) zurückzudrängen, und so zu einem Weisen zu werden.

Die Struktur der weiteren Entfaltung der Ethik is damit vorgezeichnet. Im zweiten Teil handelt es sich um die menschliche Seele, als endliche Modifikation des göttlichen Attributs des Denkens, die zugleich eine Idee des Körpers ist, der selber eine endliche Modifikation des göttlichen Attributs der Ausdehnung bildet. Von der Korrespondenz beider her entwickelt Spinoza dann seine Theorie der Arten des Erkenntnisvermögens: die imaginatio (Eth. II, Lehrsätze 13-31), welche mit der perspektivischen Existenz des Körpers verbunden ist (als Erkenntnis und Verkennung zugleich), die ratio, die als Wissenschaft der adäquaten Erkenntnis von der Vorstellung der inadäquaten Erkenntnis zu unterscheiden ist (Unterschied: 32-36; Verstand: 37-44), und dann drittens die scientia intuitiva oder das anschauende Wissen (45-47). Wo der Verstand nur diskursiv deduzieren und argumentieren kann, ist dieses anschauende Wissen imstande, alle Dingen in einem Blick zu durchschauen und damit das höchste Glück zu erreichen.

Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage entfaltet sich dann die eigentliche ethische Durchführung. Das dritte Teil skizziert die psychologische Wirkung der Affekte, die kraft der Erkenntnisart der Vorstellung viele soziale Konflikte schüren. Das vierte Teil (‘Von der menschlichen Knechtschaft’) erörtert, wie das Verstand leider nur eine sehr schwache Gegenkraft zu entwicklen vermag, und kaum imstande ist die Herrschaft der Vorstellungen zu widerstehen. Und das fünfte Teil endlich (‘Von der menschlichen Freiheit’) zeigt, wie es dann doch auch einen positiven Affekt gibt, der die ratio in ihrer Schwäche helfen kann, nämlich die geistige Liebe zu Gott (amor intellectualis Dei, Eth. V Lehrsatz 32). Es handelt sich um eine Liebe zu Gott, die wohl von Gott her kommt, ‘insoweit er (Gott) durch die Wesenheit der  [sc. endlichen] menschliche Seele … erklärt werden kann’ (Eth. V Lehrsatz 36). Aber auch hier wird die Gottheit noch keine Persönlichkeit, so daß (Eth. V. Lehrsatz 19)

‘wer  Gott liebt, nicht danach kann streben, dass Gott ihn wiederliebt’.[11]

Wo kommt nun dieses anschauendes Wissen als das höchste Glück und die höchste Freiheit des Menschen her? Sie ist einerseits eine Folge: der Gipfel in der Steigerung, welche die Ethik in ihrer aufeinander folgenden Teilen aufweist. Aber zugleich ist die Struktur des Werkes auch zirkulär: das Ende bildet zu gleicher Zeit die Voraussetzung für den Anfang. Denn die Definitionen und Grundsätze des ersten Teils sind faktisch aus dem Blick des anschauenden Wissens gesehen und formuliert worden, so wie die Beweise faktisch ‘die Augen der Seele, vermöge deren sie die Dinge sieht und beobachtet’ sind (Eth. V. Lehrsatz 23 Anm.; vergl. Gueroult). Man muß also eigentlich schon die Gabe der Anschauung empfangen haben, bevor man die Perpektivlosigkeit des Gottes der Ethik anerkennen und genießen kann. Mit einem Variante des berühmten Diktums Anselms könnte man sagen: (nicht: credo, ich glaube, sondern:) intueor ut intelligam, ich schaue an, um zu verstehen. Man könnte hier die visio Dei per essentiam (die Anschauung Gottes seinem Wesen nach) in Erinnerung rufen, mit der Thomas von Aquin aus der Mystik seiner Zeit bekannt war, aber die er in einer subtilen Argumentation doch nicht als eine Möglichkeit des Menschen auf der Erde, der noch nicht der ewigen Herrlichkeit teilhaftig ist, anerkennen kann.[12] Spinoza aber hatte diesen Anspruch, und auf dieser Weise ist er radikaler rationalistische Aufklärer und Mystiker zugleich – eine Konstellation die zu einer sehr vielseitigen und widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte seines Werkes Anlaß gegeben hat.

4. Die Anziehungskraft Spinozas auf die deutschen Dichter und Denker der Goethezeit

Diese Rezeption setzte schon während Spinozas Lebens ein, und sie hat in den ihm folgenden Generationen – wenn auch manchmal im Verborgenen – nie aufgehört, wie Jonathan Israel in seinen Studien zur ‘radikalen Aufklärung’ in letzter Zeit zeigen konnte. Auch Leibniz hatte schon 1672-76 versucht, ein Manuskript der – aus Vorsicht erst postum herausgegebenen – Ethik einzusehen und er hat sich in seinem Werk stillschweigend damit auseinander gesetzt. Aber der große Durchbruch gelang der Erinnerung an Spinoza in Deutschland bekanntlich erst 1785 als Friedrich Heinrich  Jacobis Schrift ‘Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn’ erschien.[13] Mendelssohn war sehr erschrocken von Jacobis Mitteilung, sein verstorbener Freund Lessing sei ein Spinozist gewesen, also ein Leugner der Existenz eines außerweltlichen transzendenten personalen Gottes. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, und viele Stimmen ergriffen Partei für oder gegen Spinoza. Jacobi selber plädierte für einen nicht-pantheistischen Theismus, und Mendelssohn nahm sich vor, den Ruf Lessings zu verteidigen, aber er starb. Goethe war, ohne es zu wissen, von Jacobi in die Debatte hineingezogen worden, weil dieser einen noch unveröffentlichte Prometheusode des Dichters, die man religionskritisch interpretieren könnte, ohne Zustimmung des Autors als gesondertes Blatt seinem Buch mitgegeben hatte;[14] und Herder sah sich veranlaßt, eine eigene Variante des Spinozismus zu entwicklen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Jacobi und Mendelssohn einerseits Spinozas Lehre als einen verhüllten Atheismus und Materialismus auffassten, Goethe und Herder andrerseit in ihr eine Möglichkeit entdeckten, viele überholten positive religiöse Vorstellungen hinter sich zu lassen und dennoch in einer neuen Art die Religiösität selbst aufzubewahren, sei es in der Gestalt eines naturalistischen Spiritualismus (so eher Herder), sei es in der Weise eines geisterfüllten Naturalismus (so eher Goethe).

Aus einem breiten Fächer von Positionen aus dieser Zeit wähle ich diejenige des Theologen Friedrich Schleiermachers. In einer seiner Anmerkungen zum Spinozismus aus dem Winter 1793-94 schreibt er:

‘Das eigentlich wahre und reelle in der Seele ist das Gefühl des Seyns, der unmittelbare Begriff wie es Spinoza nennt; dieser läßt sich aber niemals wahrnehmen, sondern es werden nur einzelne Begriffe und Willensäußerungen wahrgenommen, und außer diesen existirt auch nichts in der Seele, in keinem Moment der Zeit; kann man aber deswegen sagen [nämlich wie es Mendelssohn tat, RRB] die einzelnen Begriffen hätten ihr abgesondertes, individuelles Daseyn? Nein, eigentlich existirt nichts, als das Gefühl des Seyenden: der unmittelbare Begrif. Die einzelnen Begriffe sind nur seine Offenbarungen (die idealistische Übersetzung für Spinozas Modifikationen, RRB).’[15]

Während Jacobi sich auf den ersten Teil der Ethik mit seiner mechanistisch-kausalen Deduktion konzentriert hatte, ahnt der junge Schleiermacher die Wichtigkeit des auf der Erkenntnisart der scientia intuitiva aufgebauten fünften Teils. Das mystische anschauende Wissen ist ihm wichtiger als alle religiöse Vorstellungen und Begriffe, ‘voll Religion war er [Spinoza] und voll heiligen Geistes’, wie es an einer berühmten Stelle in den Reden über die Religion an den Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) heißt. Schleiermacher findet hier bei Spinoza, was er viel später das Gefühl schlechhinniger Abhängigkeit nennen wird, das kein Wissen ist, sondern mehr als jede Diskursivität, nämlich eine tiefe Intuition. Es handelt sich um ein Gefühl der Abhängigkeit von Gott (als ‘das Woher’ der Abhängigkeit) in absolutem, und um das einer Abhängigkeit von der Welt in relativem Sinn. Wenn seine Kirchenbehörde ihn kritisiert, als seien für ihn diese beide Instanzen (Gott und die Welt) zu sehr verwoben nach pantheïstischer Art, ist er bereit, näher zu differenzieren, denn wichtiger als die Aussagen über Gott und die Welt an sich sind ihm doch die sprachlose Äusserungen des Gefühls. Wichtig ist ihm vor allem – auch in Hinblick auf das Verhältnis der Religion zur modernen Physik –, dass das  Erleben, wie das Weltganze in sich zusammenhängt, nicht von einer Kraft von aussen gestört wird und doch gerade die religiöse Intuition eher bestätigt als unterminiert. Im ersten Teil seiner Glaubenslehre wird Schleiermacher das näher entfalten. Dennoch ist es für ihn nicht genug. Man kann sich nicht auf der ‘Beschreibung des frommen Selstbewußtseins, sofern sich darin das Verhältnis zwischen der Welt und Gott ausdrückt’, beschränken. Denn:

‘gewiß ist doch, daß eine Allmacht, von der ich nicht weiß, welches ihr Ziel ist und wodurch sie in Bewegung gesetzt wird, eine Allwissenheit, von der ich nicht weiß, wie sie die Gegenstände ihres Wissens stellt und schätzt, eine Allgegenwart, von der ich nicht weiß, was die ausstrahlt und was sie an sich zieht, nur unbestimmte und wenig lebendige Vorstellungen sind, ganz anders aber, wenn in dem Bewußtsein der neuen geistigen Schöpfung die Allmacht, in der Wirksamkeit des göttlichen Geistes die Allgegenwart, im Bewußtseyn göttlicher Gnade und Wohlgefallen die Allwissenheit sich kund giebt.’[16]

Spinoza hatte die Existenz der aristotelischen causae finales, Zweckursachen, geleugnet. Schleiermacher akzeptiert, daß der Verlauf der Welt zwar in Gott und von Gott her geschieht, aber daß man keinen bewußten göttlichen Wille, keine bestimmten göttlichen Ziele annehmen darf. Dennoch ist ihm die Idee der Teleologie wichtig. Es muß ein Reich der Zwecke geben. Es soll nicht nur ein allumfassendes Wissen, sondern auch eine allumfassende Weisheit geben; nicht nur eine allseitige Macht, sondern eine Macht zur Befreiung des Menschen; nicht nur eine Allgegenwart, aber auch eine in die ganze Menschheit, ja in die ganze Kosmos sich ausbreitende Gegenwart des Geistes der Liebe. Hier ist Schleiermacher dem romantischen Neuspinozismus verwandt. Das ‘mystagogische’ fünfte Teil der Ethik ist ihm auch in dieser Hinsicht wichtiger als das ‘mechanistische’ erste Teil. Es ist eine mögliche Lesart der Ethik, auch wenn sie diese Schrift vielleicht über ihre Grenzen führt und ‘christlicher’ interpretiert, als von Spinoza gemeint ist.

5. Spinoza’s praktisch-vernünftige Theorie der Religion und der Religionen

In der Goethezeit und auch weiter im 19. Jahrundert war man vom alternativen Weg des Heils in der Ethik fasziniert, und hatte weniger Interesse am zweiten großen Werk Spinozas: der Theologisch-politische Traktat. Spinoza hat um 1665 seine Arbeit an der Ethik unterbrochen, um sich diesem eher politisch-pilosophischen Projekt zuzuwenden. Er schrieb es in Voorburg, und danach auch in Den Haag, also in der Nähe des Regierungssitzes der Republik. Spinoza war mit der Fraktion der Republikaner um den Ratspensionär (den Regierenden) Johan de Witt herum verbunden, und nachdem das Buch 1670 anonym erschienen war, gab es einen Sturm von Angriffen, namentlich von reformierten kirchlichen Behörden, worauf es kurz nach dem Machtwechsel von 1672 (wahrscheinlich auf Anweisung des Oraniers Wilhelm III) verboten wurde. Auf dem Titelblatt lesen wir:

‘Theologisch-politischer Traktat, enthaltend einige Abhandlungen, in denen gezeigt wird, dass die Freiheit zu philosophieren nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden im Staat zugestanden werden kann, sondern auch nicht aufgehoben werden kann, ohne zugleich den Frieden im Staat und die Frömmigkeit aufzuheben.’[17]

In zwanzigsten Kapitel heißt es, dass ‘in einem freien Staat es jedem erlaubt ist zu denken, was er will, und zu sagen was er denkt’. Offenbar handelt es sich um mehr als um die Freiheit des Gewissens, nämlich auch um die Freiheit der Meinungsäusserung, insbesondere um die Freiheit zu philosophieren, also um das Ausüben des Berufs wie Spinoza selbst und seine Freunde ihn öffentlich betrieben. Diese Freiheit ist erstens für die Frömmigkeit unentbehrlich – davon reden die ersten fünfzehn Kapitel des Werks – und zweitens für den Frieden im Staat ebenso – wie in den letzten fünf Kapitel argumentiert wird.

Die erste Untersuchung wendet sich also Art und Wesen der Frömmigkeit zu, d.h. der faktisch existierenden Religionen im Unterschied zum spezifisch-philosophischen Weg zum Heil wie dieser in der Ethik skizziert ist. Wir sagten schon, dass die Frömmigkeit in der Art der Erkenntnis der imaginatio (Vorstellung) begründet ist, und damit an die perspektivische, körperlichen Existenz des Menschen gebunden ist (s.o., Ethik I, appendix). Es ist damit unmöglich, sie ‘aufzuheben’, wie manche spätere Religionskritiker das wohl gerne haben möchten. Sie ist aber wohl in ihren Schranken zu halten, und damit in ihrer relativen Nützlichkeit zu nehmen. Erstens untersucht Spinoza dazu die Eigenart der religiösen Erfahrung (in den Kapiteln 1-2). Wir vernehmen zu den Propheten Israels:

,Nichts hindert Gott, das, was wir kraft des natürlichen Lichts erkennen können, den Menschen mit anderen Mitteln mitzuteilen. (…) Auf jeden Fall muß alles, was darüber gesagt werden kann, allein der Schrift entnommen werden. Denn was können wir über Dinge, die über die Grenzen unseres Verstandes hinausgehen, aussagen, wenn nicht das, was uns von den Propheten selbst, mündlich oder schriftlich, mitgeteilt worden ist?’[18]

Die Propheten selber berufen sich auf eine Offenbarung, die sie empfangen haben sollten. Spinoza will das nicht in Frage stellen. Er registriert einfach, dass das Woher ihrer Aussagen ‘über die Grenzen unseres Verstandes hinausgeht’. Das ist offenbar nicht weiter hinterfragbar, und es deutet eine andere Art der göttlichen Mitteilung als diejenige ‘des natürlichen Lichts’ (also der Grundlage der Ethik) an. Die Einbildungskraft ist keine Wissenschaft, und muss nach ihrer spezifischen Effekt befragt werden. Diese kann gefährlich sein, braucht es aber nicht unbedingt zu sein. Sie ist wirksam über die Sprache, welche nach dem Ende der lebendigen Prophetie in der Schrift festgelegt ist. Man kann diese Zeugnisse nur annehmen (sola scriptura), wenn man sie nicht mit den Auskünften des natürlichen Lichts verwirrt.

Sodann untersucht Spinoza die Partikularität der religiösen Traditionen, namentlich der hebräischen (die Kapitel 3-6). Die Juden halten sich für auserwählt, sie haben das Gesetz des Moses eingeführt, dazu bestimmte Zeremonien und spezifische –  übrigens nach den Kriterien der Ethik völlig unannehmbare – wundervolle Erzählungen überliefert. Was dies erweist, ist das jede partikulare Tradition geschichtlich ist, so wie jede partikulare Offenbarung sprachlich ist.[19] Das wird für jede religiöse Tradition gelten, welche damit dann auch zu relativieren ist. In den Kapiteln 7-11 wird diese These dann in einer historisch-kritischen Hermeneutik der Bibel, insbesondere des Alten Testamentes – von der wir am Anfang dieses Vortrags schon ein Beispiel geboten haben – illustriert und entfaltet.

Die Kapitel 12-15 ziehen das Fazit aus dem ersten Teil des Traktats. Man könnte in moderner Sprache sagen, dass funktionalistisch-soziologisch gesehen der Glaube einen nützlichen gesellschaftlichen Effekt hat: er spornt die Leute zum Gehorsam an, das heißt: zum Tun der Gerechtigkeit und zur betrachtenden Hinwendung zur Nächstenliebe. Wenn die – an sich unkontrollierbare – Einbildung der religiösen Vorstellung zu Gerechtigkeit und Liebe führt, kann man sie nur begrüßen; sie bildet dann einen Pfeiler der res publica, des Gemeinwohls. Die Philosophie kann das in ihrer Phänomenologie des Religiösen aufzeigen, und erweist sich damit als ein Bündnispartner der Frömmigkeit.

Aber was passiert, wenn die Frömmigkeit die durch ihre sprachlich-historischen Art gesetzten Schranken nicht akzeptieren will? Was nun, wenn sie sich darüber hinaus mit einer Metaphysik verknüpft, welche wesentlich nicht zu ihr gehört? Was  nun, wenn die Vertreter der Religion die Theokratie, die in den Tagen des Moses verständlich war, neu einzuführen wünschen? Nun denn, so legt Spinoza im zweiten Teil des Traktats (in den Kapiteln 16-20) dar, in diesem Fall bietet die Philosophie dem Staat eine Lösung, um seinen inneren Frieden bewahren zu können. Die höchste Autorität soll der Religion ihre Schranken weisen, sie soll das ius circa sacra üben, und sie soll der Religion helfen – eher mit dem Instrument einer Staatskirche als ohne diese –, den Glaubensgehorsam innerhalb des staatlichen Gesetzes zu verwirklichen. In den letzten Jahren seines Lebens mußte Spinoza erfahren, dass der Souverän in der Republik der Vereinigten Niederlande immer weniger imstande war, diese Autorität an sich zu ziehen, und dass faktisch nur eine Partei im gesellschaftlichen Kraftfeld dazu einigermaße bereit war – und das war gerade die Partei der Verlierer von 1672 (als De Witt und sein Bruder Cornelis vom Pöbel ermordet wurden). Die letzte Schrift Spinozas, der (unvollendete) Tractatus Politicus, ist darum nicht ohne Töne der Resignation. Doch nicht alle seine Schüler und Bewunderer haben sich dauerhaft in diese Stimmung der Resignation gefügt.


[1] Baruch de Spinoza, Lebensbescheibungen und Dokumente (Sämtliche Werke Bd. 7, Philosophische Bibliothek Band 96 b), Hamburg: Felix Meiner, 1998, 22f.

[2] Die Liste ist abgedrückt bei Theun de Vries, Spinoza in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1970, 24.

[3] Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen  versehen von Wolfgang Bartuschat (Sämtliche Werke Bd 3, Philosophische Bibliothek Band 93), Hamburg: Felix Meiner, 2012, Achtes Kapitel (3), 146-148.

[4] Theologisch-politischer Traktat, Vorrede (9), 8.

[5] Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übersetzt und mit Anmerkungen von Otto Baensch. Mit einer Einl. von Rudolf Schottlaender und einer Bibliogr. von Wolfgang Bartuschat (Sämtliche Werke Band 2, Philosophische Bibliothek Band 92), Hamburg: Felix Meiner, 1994, 11. Die Übersetzung ‘unendlich vielen Attributen’ enthält eigentlich einen Widerspruch: die Unendlichkeit erkennt keine Zahl oder Vielheit.

[6] Die Ethik (Anm. 5), 24.

[7] Die Ethik (Anm. 5), 187.

[8] Die Ethik (Anm. 5), 38.

[9] Die Ethik (Anm. 5), 39ff.

[10] Die Ethik (Anm. 5), 44.

[11] Die Ethik (Anm. 5), 278.

[12] Thomas von Aquin, Summa Theologica I q. 12 und II/2 q. 173 und q. 175.

[13] Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, bearbeitet von Marion Lauschke, Philosophische Bibliothek Band 517, Hamburg: Felix Meiner, 2000.

[14] Ebd. 51-53.

[15] F.D.E. Schleiermacher, Jugendschriften 1787-1796, Kritische Gesamtausgabe I/1, Berlin 1984, 126. Zitiert bei Rinse Reeling Brouwer, ‘Die Präsenz Spinozas in Schleiermachers “Reden”’, in: Nico Schreurs (Hrsg.), “Welche unendliche Fülle offenbart sich da…” Die Wirkungsgechichte von Schleiermachers “Reden über die Religion’, Assen: Van Gorcum, 2003, (124-134)126.

[16] ‘Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an dr. Lücke. Zweites Sendschreiben’ (1829), Kritische Gesamtausgabe 1.10, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, Berlin, 1990, (337-394)340.

[17] Theologisch-politischer Traktat, (Anm. 4), 1.

[18] Theologisch-politischer Traktat, (Anm. 4), Erstes Kapitel (5,6), 16.

[19] Theologisch-politischer Traktat, (Anm. 4), Vierzehntes Kapitel (13), 224: ‘Sodann hat die Philosophie Gemeinbegriffe zu ihrer Grundlage (…); der Glaube dagegen hat die historischen Berichte und die Sprache zu seiner Grundlage und muss sich allein auf die Schrift und die Offenbarung stützen’.

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R.H. Reeling Brouwer

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