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HKWM Band 5.  Handlungsfähigkeit (I)

POTENTIA AGENDI / POTENTIA IN AGENDO (SPINOZA)

Das Bonmot des frühen Marx (spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahren wird er noch ganz anders von Spinoza zu reden wissen!), die spinozistische Substanz sei – als Antipode des Fichteschen Selbstbewußtseins – “die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen” (HF, MEW 2, 147) trifft nur in soweit zu, daß für Spinoza alle Dinge in der einen Substanz nach einer eigenen Logik und Dynamik – oder, wie es heute heißt: in einer Vernetzung, in einem Kraftfeld – existieren und (de)potenzieren, ohne daß ein “Selbstbewußtsein” sich darüber erheben kann. Schon Gott kommt keine potentia absoluta oder extraordinaria zu, welche die Erkenntnis seiner schon bekannten oder noch bekannt werdenden Gesetzen unterminieren könnte, denn seine potentia ist an der Identität mit seiner essentia (Ethik I, prop. 34) gebunden. Und ebenso “ist die potentia, mit der die Einzeldinge, und folglich auch der Mensch, ihr Sein erhalten [denn die potentia der Dingen ist ihre conatus, III, prop. 7 dem.], die potentia Gottes oder der Natur selbst, sofern er durch das wirkliche menschliche Wesen (essentia actualis) ausgelegt werden kann; also ist die potentia des Menschen, sofern es durch dessen wirklichen Wesen ausgelegt wird, ein Teil der unendlichen potentia, d.h. essentia Gottes oder der Natur”  (IV, prop. 4 dem.). Der Mensch verfügt nicht über eine eigene Substantialität (II, prop. 10), und ebensowenig verfügt sein Verstand über eine absolute (cartesianische) Freiheit oder eine absolute (stoische) Selbstbeherrschung (III, praef.; V, praef.; Ep. 58, G IV 267), denn er ist immer durch eine unendliche Reihe von Kausalitäten determiniert worden.

Aber diese Erkenntnis impliziert gerade keine abstrakte “Natur in der Trennung vom Menschen”, denkt nicht mit allem “bisherigen Materialismus” die Wirklichkeit “nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung” statt “als sinnlich menschliche Tätigkeit” (ThF 1, MEW 3, 5). Die Ethik sucht ja doch – jedenfalls für den Einzelnen – eine Handlungsperspektive zu skizzieren, und die politische Schriften untersuchen die Bedingungen für eine dazu am günstigsten Konjunktur. Neben eine Theorie des Kraftfeldes wird von Spinoza also auch eine Theorie der Kraftentfaltung geboten. Deshalb wird gleich nach den beiden ersten, grundlegenden, Teilen der Ethik (die Negri “destruierende”, d.h. die überlieferte, auch die überlieferte progressive Metaphysik unterminierende Teile nennt) den Handlungsbegriff eingeführt: “Ich sage, daß wir dann handeln (agere, der Jude und Genosse Jakob Stern übersetzte: tätig sind), wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d.h. wenn etwas in uns oder außer uns aus unserer Natur erfolgt, das nur durch sie klar und deutlich verstanden werden kann” (III, def. II). Es fällt auf, wie qualifizierend diesen Begriff definiert wird: die “adäquate Ursache” beim Ich wird von der nur teilweise nachvollziehbaren Ursache, d.h. die actio von der passio und (III, prop. 1) die adäquate von der inadäquaten Vorstellung demarkiert. Darum kann nicht von allem, was in der Wirklichkeit wirkt, gesagt werden, daß es handelt. Darum auch steht der Begriff der potentia agendi (technisch etwa mit ‘Tätigkeitsvermögen’ zu übersetzen; III postulata I zum erstenmal genannt) in einem spannungsvollen Verhältnis zu dem schon früher (II, prop. 17 schol.) introduzierten Begriff der potentia imaginandi (“Vorstellungsvermögen”). Zwar hat auch diese letzte eine Funktion innerhalb der Mechanismen der menschlichen Selbsterhaltung, aber zugleich ist sie Ursache der inadäquaten Vorstellungen (wie der schon  genannten Vorstellung der potentia absoluta Gottes oder derjenigen der absoluten Freiheit der menschlichen Seele).

Anfänglich sieht es so aus, als ob die potentia agendi mit der Macht des Körpers (III def. III), die potentia cogitandi (“Denkvermögen”, II, prop. 21 schol.) dagegen mit der Macht der Seele verbunden wird (II, prop. 7 cor. in der Korrespondenz der beiden uns bekannten unendlichen Attributen Gottes fundiert): “Die Vorstellung alles dessen, was die agendi potentia unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, [diese Vorstellung] vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt die cogitandi potentia unserer Seele” (III, prop. 11). Schon ein wenig weiter (von III, prop. 15 an) wird aber auch von einer potentia agendi der Seele bwz. des Menschen gesprochen. Dieser handelt, indem er denkt (“Der Mensch denkt”, II, ax. II; “Die wahre agendi potentia des Menschen, oder [=] die Tugend, ist die ratio”, IV, def. VIII; prop. 52 dem.). Im vierten Teil geht es darum, die Potenzen dieses denkenden Handelns zu optimieren. Die Umstände, unter welche dieses geschehen soll, werden von vornherein als äußerst bedrohend angesehen (IV, prop. III; auch IV, ap. cap. 32: “Die potentia humana ist sehr beschränkt, und wird von der potentia der äußeren Ursachen unendlich übertroffen”). Dennoch werden die Chancen einer besseren Selbstverwirklichung als die spontane, von der potentia imaginandi produzierte, untersucht. Wann und wo kann man einsehen, daß es klug und vorteilhaft ist, die Tugend zu üben? Hier erscheint u.a. der Mythos des homo oeconomicus: “Wenn jeder Mensch am meisten das ihm Nützliche sucht, dann sind die Menschen einander gegenseitig am meisten nützlich” (IV, prop. 35 cor. II). Aber Spinoza bleibt hier nicht stehen und geht von diesem Punkt aus weiter als Hobbes (was Adorno und Horkheimer [29] verkennt haben). Die höchste Selbstverwirklichung ist nämlich nicht in der Nutzmaximierung, sondern im Erkennen des Wahren, d.h. in der Erkenntnis Gottes (IV, prop. 28) und in den damit implizierten Handlungen (II, prop. 49 schol. G II 136, r. 1-2), zu finden. Dieser Erkenntnisakt schafft außerdem Sozialität unter den Menschen (IV, prop. 32; ap. cap. 7: “wenn der Mensch unter solchen Individuen lebt, die mit seiner Natur übereinstimmen, so wird dadurch seine agendi potentia gefördert oder genährt”; auch cap. 12). Wer wirklich sich selber emanzipiert, findet darin dann auch seine Gleichen!

Der Weg zur Freiheit, den der letzte Teil weist, ist aber (obwohl Matheron, der trotz der sehr schmalen textuellen Grundlage doch bis zum Ende an seinem Projekt, in der Ethik eine Wegweisung nicht nur für den Einzelnen, sondern zugleich für die ganze Menschengemeinschaft zurück in den adamitischen Ursprung zu finden, festhalten will) als eine Einsame zu betrachten. Vollendete Selbstverwirklichung ist eine Ausnahme. Dennoch ist die ganze skizzierte Kraftentfaltung auf sie gerichtet. Am Anfang des fünften Teiles findet eine Umkehrung der Perspektive statt: nach dem Vorrang des Körpers vom zweiten Teil an, gibt es nun doch offenbar auch so etwas wie einen Vorrang der Seele (vergleiche die marxistische Debatte zum Verhältnis zwischen der Determinierung durch das Ökonomische und dem Primat des Politischen). Nun wird die schon früher entwickelte Kategorie der potentia animi über die Affekte breit entfaltet (V, prop. 6; prop. 20 schol.; prop. 42 + schol.). Im wahren Erkennen wird das ganze Kraftfeld der menschlichen Leidenschaften und Konflikten verstanden und damit ist zugleich das wahre Handeln gegeben. “Sofern wir Gott betrachten, insofern handeln wir” (V, prop. 18 dem.). Kontemplation und Aktion werden hier (noch) nicht als Gegensätze, sondern vielmehr als Synonyme gesehen. Wenn in Gott den ganzen Kausalnexus bis in den Einzelheiten durchschaut wird, ist offenbar nicht nur die “Bedingung” zum rechten Handeln gegeben, sondern dieses selbst.

Der Affekt, durch welchen die potentia agendi vermehrt oder gefördert wird, ist die laetitia (® HKWM 4, Freude 2. ). Tristitia (Traurigkeit) hingegen ist ein Affekt, durch welchen die potentia agendi des Körpers vermindert oder gehemmt wird. Acquiescentia in se ipso (Selbstzufriedenheit) ist eine Freude, daraus entsprungen, daß der Mensch sich selbst und seine agendi potentia betrachtet, humilitas (Niedergeschlagenheit) ist eine Traurigkeit, daraus entsprungen, daß der Mensch seine impotentia und seine Schwäche betrachtet (III, aff. def. 25 und 26; s. auch III, prop. 55 schol.; IV, prop. 52 und 53). In seiner Selbstverwirklichung ist der Mensch also bei sich selbst und nicht in Dienst eines Fremden, ist er bei seiner Kraft und nicht seiner Passivität überlassen. Auch in dieser Hinsicht zeigt das spinozistische Programm einen emanzipatorischen Zug der Kraftentfaltung auf (und in soweit hat die etwas abenteuerliche Übersetzung von potentia agendi mit dem kritisch-psychologischen Begriff der “Handlungsfähigkeit” ihr Recht).

In den politischen Schriften dagegen, und namentlich in den späteren, tritt nicht nur rein statistisch die Frequenz des Ausdrucks potentia agendi, sondern auch die emanzipatorische Perspektive völlig zurück. Nach der Ermordung der Gebrüder De Witt in 1672 scheint Spinoza zu resignieren: im Tractatus Politicus bleibt nur eine komplexe Theorie des Kraftfeldes übrig.

Jedenfalls zwei Problemkreise können m.E. bei diesem Programm, insbesondere im Lichte einer Auswertung der Erfahrungen der Marxismen, zur Debatte stehen:

 Der Anspruch der potentia agendi als potentia cogitandi. Insoweit im deus-substantia ein “Kraftfeld” gedacht wird, konnte die herkömmliche Lehre einer potentia absoluta geleugnet und bekämpft  worden. Es ist aber fraglich, ob das für den Gott des letzten Teils der Ethik, “insofern er sich durch das Wesen der menschlichen Seele, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet, auslegt” (Eth. V, prop. 36) auch noch gilt. Der spinozistische Weise, der sich selbst und die Konstitutionsbedingungen seines Lebens in Gott begreift, ist im Besitz des hohen Anspruchs, im adäquaten Wissen zu handeln. Nur seines Gleichen teilen dieses Wissen. Wer von der potentia imaginandi abhängig ist, kann nicht anders als diesen Anspruch des Weisen (oder, in einem in polititischen Leninismus übersetzten Spinozismus: der Vorhut?) auf einem besseren Wissen als einen gesellschaftlichen Anspruch auf Macht, auch Macht über Anderen, sehen. Negri hatte seiner Spinoza-Lektüre einen sehr offensiven und subversiven Duktus gegeben: die kritische potentia (Selbstentfaltung) der Massen sollte jede potestas (unbegründete Autorität) angreifen. Nach Terpstra aber läuft dieser Traum schief: auch im Spinozismus meldet sich eine heimliche, ebenso unbegründete potestas – ein Wissen als eine potentia absoluta in neuer Gestalt? Also: wenn eine kritische Theorie heute in Spinoza einen unerwarteten Vor-Denker und Mit-Denker finden soll, an wem sie nur zu ihrem Schaden vorbei gehen kann, dann kann zugleich ihr Spinozismus nur ein häretischer sein: sie kann den Begriff der potentia agendi als Handlungsfähigkeit dann nur als einen weniger qualitativen, d.h. weniger absolutistischen Begriff wieder aufnehmen. Aber, sagt Althusser, “ein häretischer Spinozist zu sein, gehört zum Spinozismus fast dazu”…

‚ Die andere, die hintere Seite der eigenen Position. Ohne Zweifel hat das Insistieren auf der Wichtigkeit der Erkenntnis eine große Bedeutung, wo undurchsichtige Mächte gerade mit einem Appell auf ihre Undurchsichtigkeit legitimiert oder wenigstens akzeptiert werden. Und ebenso ohne Zweifel hat das Betonen der Freude als Konstitutionsbedingung des Handelns einen großen Wert für die Bildung kämpferischer Subjekten. Aber was macht man mit den nicht-kognitiven Aspekte des Lebens bei anderen Leuten und bei sich selbst? Hat die Emanzipation z.B. nichts mit Kindern zu tun, die fast völlig in der potentia imaginandi leben, nichts mit Behinderten, deren potentia agendi corporis et mentis ja doch ganz anders konstituiert ist als die des Weisen? Und sind die Momente der Passivität, der humilitas, in denen man einfach “down” ist und die Sprache der Revolution nicht mehr hören, nicht mehr glauben kann, nur Momente die man vergessen soll, weil sie nur “inadäquate” Erkenntnisse produzieren? Ist diese letzte Annahme eigentlich überhaupt wohl richtig? Ist der wichtigste, von der Freude produzierte,  Affekt wirklich die Acquiescentia in se ipso, und sind die anderen, die externen Faktoren nur als Hemmungen der Selbstverwirklichung zu betrachten, oder gibt es hier vielleicht auch einen eigenen Wert der Alterität zu bedenken? Eine aktuelle Theorie der Handlungsfähigkeit hat solche Fallgruben, die doch in der Geschichte sowohl mancher Spinozismen wie mancher Sozialismen nicht immer vermieden worden sind, zu umgehen. Eine aktuelle Spinoza-Lektüre hat von hier, d.h. von der Frage der Alterität her, die Ethik nochmal neu zu lesen, wo es ja doch am Anfang heißt: omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt   (Eth. I, ax. I).

Rinse Reeling Brouwer

Amsterdam

Bibliographie:

Spinoza, Opera. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Carl Gebhardt, Heidelberg 11925, 21972. II. Ethica, IV. Epistolae.

Die Ethik von B. Spinoza, neu übersetzt und mit einem einleitenden Vorwort versehen von J. Stern, Leipzig 1909.

Bocherini, Emilia G, Lexicon Spinozanum, 2 Tle., Den Haag 1970.                                  

Adorno, Th.W. und Horkheimer, M., Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt/M 1971 etc.

Althusser, L. Eléments d’ Autocritique, Paris 1974.

Bieling, R., Spinoza im Urteil von Marx und Engels, Berlin (FU) 1979.

Gueroult, M. Spinoza II. L’âme, Paris/Hildesheim/New York 1974.

Marx, K und Engels, Fr., Die heilige Familie 1845 (HF)

Marx, K, [Thesen über Feuerbach] 1845 (ThF)

Matheron, A., Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 21988.

Negri, A., L’anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza, Milan 1981.

Reeling Brouwer, R.H., De God van Spinoza, Kampen 1999.

Terpstra, M., De wending naar de politiek. Een studie over de begrippen ‘potentia’ en ‘potestas’ bij Spinoza, Nijmegen 1990.

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R.H. Reeling Brouwer

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