Neugierig auf den Sozialismus

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1. Sommer 1971 besuchte ich zum ersten Mal die DDR. Es war in der Zeit der Verhandlungen der Vier Mächte der Anti-Hitler Koalition über ein Abkommen zum Status Berlins. Es ging dabei auch um Kontaktmöglichkeiten für Menschen aus beiden Teilen der Stadt, die bis dahin aufs Äuβerste eingegrenzt waren. Aus der quasi-unschuldigen Ruhe der Niederlande kommend, erkannte ich: Hier befinde ich mich an einem Ort im Spannungszentrum der Weltpolitik und mir wurde bewusst, wie sehr der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende war. Im Westen Deutschlands begann meine Generation damals die Eltern über ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus zu befragen. Im Osten aber, obwohl es auch dort an Verdrängungen und Verdeckungen dieser Vergangenheit nicht fehlte, war die Nachkriegszeit unlösbar verknüpft mit der Existenz dieses Staates DDR. Zweifellos traf man auch hier – noch – mit Unbelehrbaren zusammen (‚Ach Sie sind aus Holland; wie schön war es dort, als ich 1941 an der Nordsee stationiert war.’). Aber es gab auch andere DDR-Bürger. Ich war vor allem beeindruckt von Begegnungen mit Christen, die das Leben an dieser unverkennbar schwierigeren Seite des geteilten Deutschlands auf sich nahmen als ein Tragen der Folgen der Verbrechen des eigenen Volkes in der jüngsten Vergangenheit. Mit dem ‚Darmstädter Wort’ (1947) bekannten sie: ‚Wir sind in die Irre gegangen …’. So gesehen ist die gut vierzigjährige Existenz der Deutschen Demokratischen Republik mit einer biblischen Konnotation behaftet: Es gab für diese Generation einen Zug durch die Wüste, die auf diese Weise ‚den Zorn getragen’ hat. Aber dieser Zug nahm auch wieder ein Ende und brauchte nicht auch noch eine neue Generation zu belasten (4. Mosche 14: 33-34; 5. Mosche 1: 34-39; Ps. 90: 7-8).

2. Mein Vater, der Zwangsarbeiter in Berlin gewesen war, wollte nach dem Krieg Deutschland nicht mehr besuchen. Meine positiven Berichte über die Niederländische Ökumenische Gemeinde und dem Hendrik-KraemereG-Huis brachten ihn aber dazu mit mir nach Berlin zu reisen. Dieser Besuch hat ihm gut getan. Er erfuhr, wie die Stadt sich in ihrem Vorteil verändert hat – nicht mehr die Adler der Nazis am Eingang des Flughafengebäudes von Tempelhof – und er erfreute sich an den Gesprächen mit der Pfarrerin Bé Ruys über seine persönliche Geschichte. Außerdem interessierte er sich als sozialistischer Bürgermeister in einer niederländischen Kleinstadt für Berlin als Hauptstadt der DDR, z.B., wie es möglich war im Stadtzentrum soziale Mietwohnungen zu realisieren. Eine solche positive Neugierde gegenüber dem Projekt des Sozialismus war auch mir nicht fremd. Aber dieser Sozialismus bekam für mich auf Dauer ein eher paradoxes Gesicht, das mit der Paradoxie des Bolschewismus zu tun hatte. Dieser Sozialismus hatte zwar den Anspruch, die reifen Früchte der Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus zu ernten, aber meinem romantischen Geist erschien er gerade attraktiv, weil die sich unaufhaltsam fortwälzende Lokomotive der Geschichte in ihm eine Stillegung widerfuhr. Er erstrebte mit einer rationalen Planwirtschaft das Ziel eines total transparenten gesellschaftlichen Prozesses, aber war zugleich nur durch ein flächendeckendes System der Bespitzelung im Stande Information über die Lage der Nation zu bekommen. Er beanspruchte, die Demokratie bis in den ökonomisch-sozialen Bereich erweitert zu haben, aber zugleich zeigte er sich den Initiativen der Bevölkerung gegenüber (über)ängstlich, auch wenn diese Initiativen durchaus im Sinne des sozialistischen Projekts waren. Dadurch verhinderte er auch manchen Christen, der bereit war sich zu einer ‚Kirche im Sozialismus’ zu bekennen, sich selbständig über das Konzept einer sozialistischen Gesellschaft Gedanken zu machen. Dieser Sozialismus benützte groβe Worte, die aber nicht stimmten. Er kannte auch seine kleinen Absurditäten, die einen westlich sozialisierten Menschen wieder charmieren konnten. Dass z.B. der Vorrang der Werktätigen zur Folge hatte, dass während der Mittagspause, wenn viele dieser Werktätigen einkaufen gehen wollten, viele Kassen gerade geschlossen hatten, weil die ebenfalls werktätigen Kassiererinnen natürlich auch ein Recht auf Pause hatten, lieβ mich schmunzeln. Seit 1990 fehlt mir dieser Lachspiegel.

3. Mit dem Antritt Honeckers und dem VIII. Parteitag beschloss die SED die konsumtiven Möglichkeiten der Bevölkerung zu vergrößern (die sog. Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik). Das konnte die DDR sich nur leisten, indem sie auf dem internationalen Kapitalmarkt Kredite aufnahm. Das geschah aber zu einer Zeit, in der sich die ersten Anzeichen einer ökonomischen Krise bemerkbar machten. Und was es bedeutet, wenn ein Staat nicht fähig ist seine Zinsen zu bezahlen, das hat das IWF weltweit zur Genüge gezeigt, heutzutage sehr anschaulich im Süden der EU. Es scheint mir deshalb im Nachhinein fraglich, ob sich der Sozialismus in Anbetracht seiner Verflechtung mit der finanziellen Weltordnung überhaupt hätte halten können. Und wenn er seinen nicht-konsumistischen Prinzipien treu geblieben wäre, hätte das nur zu einer Nordkoreanischen Isolierung von der Umwelt geführt. Es gab Stimmen, die für diesen Weg plädiert haben – im theologischen Bereich tat das vor allem ‚Die Weiβenseeer Blätter’, das sich zunehmend als Ort einer kommunistischen anti-Honecker Opposition zu profilieren schien –, aber dieser Weg hätte sich im Kontext der Kommunikationsrevolution rasch als undurchführbar gezeigt. Mit vielen Anderen habe ich deshalb Gorbatschow wie einen Deuterojesajanischen Gesalbten begrüßt. Sein Programm war zwar anachronistisch: er träumte von einem humanen Sozialismus, der sich mit den progressiven westlichen Werten vertrug, während im Osten die Grundlage für eine Erneuerung, wie der Prager Frühling einer hätte sein können, längst entfallen war. Auβerdem war im Westen der Neoliberalismus in einer Weise dominant geworden, dass er nolens volens erkennen musste, dass eine Erneuerung des Sozialismus aussichtslos war und ihm nichts anderes blieb  – und das ist sein bleibender Verdienst! – als eine friedliche Übergabe zu ermöglichen. Ich erinnere mich aber auch an die  letzten Tage der DDR, die nach den Maβstäben der Welt Tage des Untergangs waren, als einen wahren Ausbruch von Kreativität und Partizipation, in den Bürgerbewegungen und in den Kirchen – im konziliaren Prozess – sowie im Neuen Denken nicht weniger Kommunisten selber, die als messianische Splitter nicht verloren gehen können.

4. Ich erinnerte an die Generation jener Christen in der DDR, die ihr Leben dort auf sich nahmen als ein Tragen der Folgen der Verbrechen des eigenen Volkes im Nationalsozialismus. Es kann aber die Frage gestellt werden, ob ich mich als Mitglied meiner Generation mit der Bejahung ihrer Existenz in der DDR nicht aufs neue schuldig gemacht habe. Ich habe das auch einmal so formuliert. Auf einem niederländischen Kirchentag 1998 in Kampen sagte ich: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir uns bei unserem Versuch den Zwiespalt des Kalten Krieges zu durchbrechen vor allem auf die andere, dem Westen gegenüber feindliche Partei verlieβen. Wir haben dem Glauben, dass diese Alternative erhalten werden konnte, indem man auf die Macht atomarer Waffen vertraute und dass der Sozialismus die Geschichte auf seiner Seite hatte, nicht widersprochen. Wir sind jenen, die uns von ihrem Leiden unter dieser Macht erzählten, arrogant und rechthaberisch gegenüber getreten. Wir haben alte Richtigkeiten wiederholt, auch als ihr Grund schon entfallen war. Wir haben unsere Freunde und Freundinnen im Osten angehalten an einem erneuerten Sozialismus weiter zu arbeiten und projizierten so immer noch unsere Träume auf sie, auch als sie uns sagten, dass die Chancen einer solchen Erneuerung vorüber und sie in ihrem Kampf völlig ermattet waren.“ Was ich damals mit diesen Worten gesagt habe, möchte ich jetzt einfach so stehen lassen.

Rinse Reeling Brouwer (geb. 1953)

Amsterdam

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R.H. Reeling Brouwer

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