“Man wird von diesen Gesichtspunkten immer auch noch anders reden können“
Wie Karl Barth tatsächlich anders geredet hat und wie auch wir noch wieder anders reden können
- Die Gesichtspunkte
„Unsere Sache kann nur das aufrichtige, nach allen Seiten eindringende, ich möchte den Ausdruck wagen: das priesterliche Bewegen dieser Hoffnung und Not sein durch das der Lösung, die in Gott ist, der Weg zu uns freier gemacht wird. Und es ist selbstverständlich, dass das, was ich heute bieten kann, nur die Aufstellung der Gesichtspunkte ist, unter denen dieses Bewegen stattfinden muss, das heute das Eine Notwendige ist. Man wird von diesen Gesichtspunkten immer auch noch anders reden können; aber darin bin ich allerdings meiner Sache sicher, dass die Gesichtspunkte, von denen ich reden möchte, die notwendigen sind und das es neben ihnen keine andern gibt.“[1]
Am Schluss des ersten Abschnitts seiner Tambacher Rede kündigt Barth an, das „priesterliche Bewegen“ „unsere[r] Not und unsere[r] Hoffnung in Christus und in der Gesellschaft“ „durch die Aufstellung von Gesichtspunkten“ zur Sprache zu bringen. Im zweiten Abschnitt kommt er auf diese Gesichtspunkte nicht zurück, bis er dann kurz vor dem Schluss bemerkt: „das letzte Wort (zur Sache, das schon gesprochen ist) heißt Reich Gottes, Schöpfung, Erlösung, Vollendung der Welt durch Gott und in Gott“.[2] Die Sache selbst, das Reich Gottes als solches, ist offenbar nicht zu repräsentieren. Es kann nur darauf hingewiesen werden, nur von verschiedenen Gesichtspunkten her angesprochen werden. Das wird Barth dann tun in den Abschnitten drei bis fünf (nacheinander Schöpfung, Erlösung und Vollendung), während Abschnitt zwei nur die methodische Frage nach der Gottesgeschichte, die auch zur Gotteserkenntnis führt, stellen kann[3] – und damit die Armut jeder Methodologie zugibt.
1926 hält Barth in Amsterdam einen Vortrag über ‚Die Kirche und die Kultur‘. Das ihm aufgetragene Thema erinnert an das der Tambacher Tagung. Es ist dann auch kein Zufall, dass Barth in einer Fußnote bei der gedruckten Fassung eben zu diesem Text bemerkt: „Leser meiner früheren Schriften werden sich bei These 4-6 an die Abschnitte meines Tambacher Vortrags (…) erinnert fühlen.“ (Und dann folgt der oben zitierte Satz über die Gesichtspunkte, über die noch anders geredet werden kann, neben denen es aber keine anderen gibt.) „Heute nach 7 Jahren rede ich in der Tat etwas anders von diesen Gesichtspunkten. Sie durch andere zu ersetzen, bin ich seither nicht veranlasst worden“.[4] Die Gesichtspunkte werden dann als: Schöpfung, Versöhnung und Erlösung bezeichnet, womit Barth in der Tat von ihnen anders redet. Bei dieser Bezeichnung wird er bis zur Kirchlichen Dogmatik bleiben,[5] wenn es auch im Vergleich mit dem Text von 1926 zu bedeutenden Änderungen in der Auffassung der mit diesen Bezeichnungen gemeinten Perspektiven kommen wird.
1978 schrieb ich denn auch voller Begeisterung: „Aus dieser Verbindung [zwischen Tambacher und KD] erklärt sich sowohl die Bedeutung der Tambacher Rede als die Einheit des Barthschen Lebenswerkes: das Thema ‚Der Christ in der Gesellschaft‘ und die dogmatische Reflexion legen einander aus“.[6]
Diese Begeisterung habe ich noch immer: die Vorgehensweise, die Barth in Tambach wagt, setzt uns auf eine Spur, auf der auch die Dogmatik gehen kann und die uns daran hindert Barths dogmatische Texte abstrahierend von ihrer gesellschaftlichen Dimension zu studieren.
Ob man auch so weit gehen kann, die Struktur von ‚Der Christ in der Gesellschaft‘ und der Kirchlichen Dogmatik praktisch nahtlos zu parallelisieren, ist für mich aber fraglich geworden.[7] Abschnitt zwei, der nach dem besonderen Erkenntnisweg der Bewegung von Gott her fragt, beziehungsweise nach dem Wort Gottes, das wir unmöglich sagen können, könnte man noch mit den Prolegomena vergleichen. Aber auch dann ist es so, dass es für Barth zwar eine Sache (nämlich das Reich Gottes[8]) gibt, auf die die drei näher zu besprechenden Gesichtspunkten sich beziehen, aber die Sache selbst, wie gesagt, nicht direkt repräsentiert werden kann.[9] Eine ‚Lehre von Gott‘ jedoch (vergleichbar mit KD II) ist hier in Tambach noch weit weg. Stärker noch: wir wissen, dass Barth das erste Mal, dass er seine Dogmatik-Vorlesung (1927-1928 in Münster) an Hand der ‚drei Gesichtspunkte‘ aufbaut, die Loci der Gotteserkenntnis, der Wirklichkeit Gottes und der Erwählung alle behandelt unter dem ersten Gesichtspunkt, also in der Lehre von der Schöpfung, die sich unmittelbar an die Prolegomena anschließt.[10] Erst 1930 erwägt er, die Dogmatik an Hand von fünf Haupt-Loci aufzubauen, wobei Gott als das Subjekt seiner ‚Taten‘, der Schöpfung, der Versöhnung und der Erlösung, seinen eigenen Ort im zweiten Locus bekommt.[11]
Die Terminologie, mit der Barth – das erste Mal in seinem Vortrag in Aarburg in Juni 1919 – die ‚drei Gesichtspunkte’ auf den Begriff bringt, ist die von: regnum naturae – regnum gratiae – regnum gloriae.[12] Dieser Dreischritt Natur – Gnade – Herrlichkeit ist an sich tief in der westlich-augustinischen Tradition verwurzelt. F. H. Breukelman weist auf Thomas von Aquin hin, bei welchem die Gnade als eine Mitte zwischen Natur und Herrlichkeit bezeichnet wird, und auf Franciscus Turrettini, der von einer dreifachen Schule spricht, die (mit einer von den Viktorinern bekannten Metapher) aus einem dreifachen Buch lesen lernt: (1) das Buch der Schöpfung in der Welt natürlich, durch das Licht des Verstandes, (2) das Buch der Schrift in der Kirche übernatürlich, durch das Licht des Glaubens, und (3) das Buch des Lebens der Glückseligen im Himmel seligmachend, durch das Licht der Herrlichkeit.[13] Breukelman weist aber auch darauf hin, dass Barth mit diesem überlieferten Material auf eine ganz neue Weise umgeht. Er nennt dabei eine Reihe von Vorteilen,[14] von denen ich die ersten Zwei wiedergebe.
Der erste Vorteil ist die gesellschaftliche Kontextualisierung. So funktionierte bei Thomas von Aquin der Dreischritt im Rahmen eines feudal geordneten Bauwerks, worin drei Schichten gesehen wurden als hierarchisch über einander gesetzt (das auch bei Turrettini noch nachwirkt, dann im Bild einer aufsteigenden Unterrichtskarriere: von der Grundschule in der Natur über die Mittelschule in der Schrift zur höheren Schule im ewigen Leben). So widerspiegelt sich in der Entwicklung der protestantischen Lehre, in der der Trost des überwölbenden himmlischen Baldachins abnimmt und vielmehr die historica series, die Erzählung der Heilsgeschichte auf der horizontalen Ebene vom Paradies bis zur Vollendung, den Zusammenhang stützen soll, das Modell einer bürgerlichen Gesellschaft. Ja, so Breukelmans rhetorische Frage: was werden dann bei Barth in seiner neuen Begrifflichkeit der ‚Gesichtspunkte‘ in diesem ‚Revolutionszeitalter‘[15] die gesellschaftlichen Implikationen sein? Die Verbindung mit dem Sozialismus könnte eine Antwort auf dieser Frage sein und war vielleicht damals auch wohl die von uns erwünschte Antwort, obwohl wir uns gerade in den 1970er Jahren intensiv mit Denkern innerhalb der marxistischen Tradition beschäftigten (wie Walter Benjamin und Louis Althusser), die mit dem Hegelschen Erbe einer immanenten, mit der Geschichte gegebenen Teleologie zu brechen versuchten.[16] Der Bruch mit der linear-historischen, von Breukelman bürgerlich genannten, Anschauung war hier also ambivalent. Später gab es dann die Postmoderne und ihre Vertreter hatten nicht unrecht in ihrer kulturellen Diagnose eine Verwandtschaft mit Barth festzustellen. Wer von ‚Gesichtspunkten‘ spricht kennt ja eine Mehrzahl von Anschauungen, aber keine tragende Fundierung (sei es eine vertikale, sei es eine horizontale), die die Einheit der gemeinten Sache garantiert. Dagegen spricht wiederum, dass Barths Sprechen von ‚Gesichtspunkten‘ keine Vielfalt von Sprachspielen meint, die einander nie treffen und sich auch nicht ineinander übersetzen lassen. Die Kirchliche Dogmatik ist in meiner Perzeption zwar nicht ohne weiteres eine ‚Große Erzählung‘ und lässt sich auch nicht als Erzählung auf einen einheitlichen Nenner bringen. Sie bildet aber wohl eine Reihe von immer wieder neu unternommenen Annährungsversuchen von der von Gott initiierten Geschichte, die sich unserem Zugriff entzieht, aber uns doch wahrhaftig und auf immer andere Weise als immer wieder das Eine einmalige anredet.
Der zweite Vorteil, dass Barth von Gesichtspunkten spricht, ist nach Breukelman das Verbannen eines Denkens in der Theologie, das nur zwei Gesichtspunkte kennt. Thomas von Aquin sprach von einer zweifachen Modalität der Wahrheit, zwar nicht von Gottes Seite, aber durchaus von der Seite des menschlichen Beobachters.[17] Calvin sprach von einer zweifachen Gotteserkenntnis, einer von Gott dem Schöpfer und einer von Gott dem Erlöser – von der die Erste nach dem Sündenfall zwar nicht mehr auf eigenen Beinen stehen konnte, aber das musste dann erst pädagogisch entdeckt werden, bevor es benannt werden konnte. Auf derselben Linie lag auch die zweifache Funktion der Schrift – als Hilfe beim Lesen des Buches der Natur und als Hilfe für das Verstehen des Heils.[18] So gibt es in der Tradition eine in immer neuen Variationen auftretende Zweifältigkeit von Metaphysik und Glaubenslehre, gleichsam ein Konkordat der geltenden Weltanschauung und der Predigt des Heils, parallel zum Konkordat von Staat und Kirche. All dieses wird, meint Breukelman, aufgebrochen, wenn der dritte Gesichtspunkt vorgebracht wird: die Eschatologie, nicht als Verlängerung dessen, was schon gegeben ist, sondern als eine ganz neue und selbständige Dimension, die auch die Pole der altbewährten Dualitäten unter Druck setzt. Was Neutestamentiker am Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckten als die radikal-eschatologische Erwartung der frühen Christenheit, wurde also, könnte man sagen, systematisch-theologisch fruchtbar gemacht. Mir scheint aber, dass Breukelman doch vor allem denkt an die spätere Ausarbeitung der drei Gesichtspunkte von Tambach, wie Barth diese vom Barmer Bekenntnis der einfachen Gotteserkenntnis her in der Erkenntnislehre von KD II/1 zum Ausgangspunkt nehmen wird: der eine Gott lässt sich in der Dreiheit seiner Taten erkennen. Solcherart trinitarisch formuliert hören wir es 1919 noch nicht und vermutlich hat Barth es damals auch so (noch) nicht im Kopf gehabt.
Wir sind aber, als wir von den ‚drei Reichen‘ sprachen, noch nicht genau genug gewesen. Die Herausgeber der Tambacher Rede in der Gesamtausgabe (Hans-Anton Drewes in Zusammenarbeit mit Friedrich-Wilhelm Marquardt†) weisen nämlich auf einen Unterschied in der nachreformatorischen Lutherischen Theologie hin: in der Lehre der drei Ämter Christi (Prophet, Priester und König) wurden seit Johann Gerhard die drei Reiche innerhalb seines Königtums lokalisiert. In diesem Zusammenhang ist dann von der Dreizahl regnum naturae, regnum gratiae und regnum gloriae die Rede. Sie (die Herausgeber) fanden diese Unterscheidung im Handbuch der altlutherischen Dogmatik von Heinrich Schmidt (1858), über welche Barth aber erst 1924 in Göttingen verfügen konnte.[19] Maarten den Dulk hat aber herausgefunden, dass Barth diese ‚Drei-Reichen-Lehre‘ in den Vorlesungen von Julius Kaftan in Berlin in 1906-07 kennen gelernt haben könnte. Denn in seiner Dogmatik (1897) schreibt Kaftan: „im regnum naturae, auch regnum potentiae genannt, sind ihm [Christum] alle Kreaturen unterthan. Im regnum gratiae regiert er seine streitende Kirche auf Erden (…). Im regnum gloriae endlich sind ihm die seligen Geister unterthan. In dieses Reich mündet das Reich der Gnade ein, es ist dessen Vollendung.“[20] In der reformierten Scholastik schien diese Unterscheidung zu fehlen, aber am 28. März 2019 verteidigte Jonathan Beeke in Groningen seine Dissertation, in der er behauptet sie bei Benedict Pictet und Wilhelmus à Brakel, also am Ende des reformierten Altprotestantismus gefunden zu haben.[21] Dort aber handelt es sich vor allem um den dualen Unterschied zwischen dem essenziellen Königtum des Sohnes als zweite Person der Trinität, der allgemein ontologisch ist, und dem des gottmenschlichen Mittlers Jesus Christus, der auf das Heil für seine Kirche gerichtet ist. Einerseits stellt sich hier heraus, dass die ‚Zweireichenlehre‘ der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts nicht zuerst auf der politischen Ebene des Verhältnisses von Staat und Kirche gesucht werden soll, sondern (so man will: als politicum) im Herzen der Christologie. Andererseits zeigt sich hier, dass das Denken in zwei Gesichtspunkten, gegen die Breukelman so ein tiefes Misstrauen hegte, wirklich bis in alle Poren der reformierten Lehre durchgedrungen war.
Inzwischen sollte klar geworden sein, dass Barth bei seinem Sprechen von den ‚drei Reichen’ nicht bei dem, wie er es in Tambach tat, stehen blieb. So tritt an Stelle des Begriffs ‚Reich‘ allmählich das ‚Wort’ und dann der ‚Bund‘.[22] Der Begriff ‚Natur‘ verschwindet nach und nach aus seinem Vokabular (wenn auch nie ganz), so auch der Begriff ‚Schöpfungsordnung‘. Und anstatt des Dreischritts Schöpfung – Erlösung – Vollendung spricht Barth vom Dreischritt Schöpfung – Versöhnung – Erlösung. Dies ruft eine Reihe von Fragen hervor:
- Ist Barth bei seiner Ansicht der Schöpfung geblieben, auch wenn er später meinte die Verbindung mit dem Naturbegriff aufgeben zu müssen?
- Was passiert mit dem Reich der Gnade, als dem Bereich der Streitenden Kirche, wenn Versöhnung dafür der bestimmende Begriff wird?
- Und wird Barth das Übergewicht des Reiches der Herrlichkeit, als die Synthese, die sowohl die These der Schöpfung als auch die Antithese der Gnade zugleich hervorruft und unter Druck setzt, noch beibehalten?
Wie im Titel meines Referats angegeben, will ich es nicht belassen bei einer Rekonstruktion, wie Barth das in Tambach Angefangene weitergedacht hat. Ich will es auch von der Gegenwart her evaluieren und dabei die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir auch beim ‚späten‘ Barth nicht stehen bleiben können, aber zu einer Wiederaufnahme früherer Gewichtungen innerhalb der drei Gesichtspunkte oder gar zu neuen Akzentsetzungen kommen müssen. Zuerst aber lasse ich meine Erörterung von einer Gegenstimme unterbrechen.
- Eine Falsifizierung (A. van de Beek)
Die meisten Leser der Tambacher Rede werden folgenden Eindruck gewonnen haben: der Redner steht zwar mitten in der Vielheit der Bewegungen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg nach einer Erneuerung im demokratischen und sozialistischen Sinn sehnen, aber er will doch vor allem betonen, dass die Bewegung, die sich in Christus vollzieht, das absolute Primat hat und, dass wir unsere Teilnahme am Zeitgeschehen also in Christus begreifen müssen und nicht umgekehrt.
Der Dogmatiker A. (Bram) van de Beek ist aber der Meinung, dass bei Barth selber doch eigentlich das Umgekehrte der Fall ist. Seine eigene Theologie konzentriert sich ebenfalls auf ‚Christus, und dieser gekreuzigt‘, aber das bedeutet keineswegs, dass er sich in Barths Theologie wiedererkennt. Im Gegenteil, im sechsten und letzten Band seiner Reihe ‚Sprechen über Gott‘ ist an zwei Stellen von Barth die Rede, im Zusammenhang mit der Gottesfrage und mit der Drei-Einheit. Sein Eindruck ist: „hinter der augenscheinlich offenbarungsorientierten Theologie steckt im Grunde ein spekulatives Denken, womit Barth seine Alternative bietet für die Theologie des 19. Jahrhunderts, die auf der bestehenden Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft basierte“. Diese Alternative kam an, „weil sie am richtigen Moment wieder eine Perspektive zu bieten wusste, nicht auf ein himmlisches Königreich, sondern auf ein geordnetes, verantwortliches Zusammenleben“. „Er zeigt ein alternativ ideologisch-theologisches System als Begründung eines alternativen Zusammenlebens“. Eigentlich ist Barth ein Denker des Geistes und dieser Geist ist voll der Ideale der Modernität – und, wenn es darauf ankommt, nicht des Werkes Christi und unser Mit-Ihm-Sterben.[23]
Eine Reaktion auf Van de Beeks Perzeption von Barths Christologie, Trinitätslehre, Ekklesiologie und Freiheitskonzept lasse ich im Moment auf sich beruhen.[24] Es geht jetzt nur darum, dass es offenbar möglich ist, Barth so zu lesen als ginge es ihm letztendlich nicht um die Bewegung von Gott in Christus, sondern um etwas anderes, wofür Christus dann bloß das Vehikel wäre. Frans Breukelman war der Meinung, dass diese Gefahr zwar in der Theologiegeschichte immer auf der Lauer lag, aber dass Barths Plädoyer für eine einfache Gotteserkenntnis diese Gefahr ausbannen könnte.[25] Dass es möglich ist Barth zu lesen, wie Van der Beek das tut, zeigt, dass es so einfach nun doch nicht ist.
Mein Lehrbuch Grondvormen van theologische systematiek, das zum erheblichen Teil auf die theologiegeschichtlichen Studien Breukelmans basiert, endet mit einer Aufgabe für die Studierenden. Sie lautet: „Bei Origenes können wir die Frage stellen: Christus mag bei ihm zwar im Zentrum stehen, aber ist er mehr als nur ein Beispiel, eine Präfiguration der platonischen Denkfigur des Weges jeder Seele zurück in die Ewigkeit?“ So auch bei Thomas von Aquin: „ist der dritte Teil seiner theologischen Summa (über Inkarnation und Sakrament) nur ein Anhang oder doch der Klimax und Grundlage der doppelten Bewegung, von Gott auszugehen und zu Gott zurückzukehren, die die beiden ersten Teile kennzeichnet?“ Und bei Schleiermacher: fallen die Entscheidungen im ersten Teil der Glaubenslehre und ist der zweite Teil über den Gegensatz von Sünde und Gnade als ein Anhang zu betrachten oder ist es die Absicht des Autors, dass „der Vater zuerst in Christus geschaut wäre“? Schließlich bei Marquardt: „Christus mag dann „der Magister sein von allen und in jeder Hinsicht“, der den Christen zum Juden bringt und dann mit dem Juden erst die rechte Sicht auf sich selbst verschafft, aber kann und darf Er auch der Herr und Meister sein, der den Lernprozess beim halachischen und andersartigen Judentum letztendlich selber wieder normiert?“[26] Diesen Fragen hätte ich also noch eine ähnliche Frage über Barth hinzufugen können.
Es ist, bei aller Schärfe der theologischen Debatte, eine unzulässige Grenzüberschreitung die Christlichkeit des Gesprächspartners in Zweifel zu ziehen.[27] Van de Beek aber bewegt sich mindestens auf der Grenze. Gleichwohl wirkt seine Diagnose der Barthschen Theologie auf mich als ein Signal, dass jeder theologische Entwurf der Entwurf eines impius ist und, dass wir immer, im Lichte der iustificatio impii, zuerst die Frage stellen müssen, wo wir selbst theologisch sündigen. „Methodische Erörterungen haben immer etwas Missliches, Unmögliches und Gefährliches“[28] und wir verfügen nicht über die Mittel dem entkommen zu können.
3. Schöpfung: das Regiment Christi im Reich der Natur
Der Utrechter Dogmatiker Hans Hasselaar schrieb 1978 in der Zeitschrift In de Waagschaal einen schönen Artikel über die Tambacher Rede. Der Anlass wird das Erscheinen unserer niederländischen Übersetzung gewesen sein, obwohl diese weder von ihm noch von der Redaktion erwähnt wird, vielleicht, weil er uns im Verdacht hatte nur am ‚jungen‘ Barth interessiert zu sein. Einige seiner Sätze haben mich die Jahre hindurch beschäftigt:
„Natürlich sind in der Tambacher Rede die Eierschalen einer früheren theologischen Epoche noch nicht ganz abgeworfen. Es fällt zum Beispiel auf, wie Sokrates und Platon plötzlich als Kronzeugen auftreten dürfen und auch die wiederholte Verwendung hegelscher Terminologie ist unübersehbar. Auf manche Begriffe (Schöpfungslehre!) wird Barth später nicht mehr zurückkommen oder er wird sie in einer ganz anderen Weise thematisieren. Dazu kommt dann noch mindestens seine spätere Ethik. Gleichwohl: es gibt in dieser jungen Nachkriegsarbeit für uns genug zu lernen über die Freiheit eines Christenmenschen und demnach über die uns damit aufgetragene Verantwortlichkeit.“[29]
Das Erste, das an diesen Sätzen auffällt, ist, dass Hasselaar das unbekümmerte nebeneinander Auftreten von Theologen und Philosophen sieht als Eierschalen[30] aus einer früheren Periode. Vorausgesetzt ist dabei, dass dies bei den späteren Barth nicht mehr der Fall sei. Ich gebe zu, dass Barth sich in der Tat in dieser Frage in der Kirchlichen Dogmatik ‚behutsamer‘ äußert, aber auch dann steht für ihn ‚Behutsamkeit‘ neben ‚Aufgeschlossenheit‘.[31] Theologie ist ja Nach-denken und man kann nun mal nur scharf oder unscharf, realistische oder idealistisch denken – ein ‚christliches‘ Denken gibt es nicht und der Theologe wird also immer dann wieder das Eine, dann wieder das Andere tun. Wie hätte Barth zum Beispiel die Lehre der Schrift neu durchdenken können ohne eine erhebliche Portion kantianischen Kritizismus und die leibliche Auferstehung ohne Feuerbach und Marx? Die ganze Fragestellung des ‚Verhältnisses von Theologie und Philosophie‘ hielt auch der spätere Barth für abstrakt und leicht mythologisierend.[32] Es sind Menschen, die philosophisch und welche, die theologisch denken. Auch wenn der Ausgangspunkt unterschiedlich ist, dann noch begegnen sie einander, berühren einander, lernen voneinander und können einander unter Umständen auch finden, immer an einem ganz konkreten Punkt gemeinsamer Sorge.
Was nun konkret Tambach betrifft, bin ich geneigt die Hegel-Bezüge nicht allzu schwer zu nehmen. In meiner Wahrnehmung war es mit Barths Hegel-Studium in der Zeit noch nicht so weit her und es hätte ihm, wäre er danach gefragt worden, auch nicht viel ausgemacht, ob sein Spiel mit dem Dreischritt von These, Antithese, Synthese und die Synthese dann als Wurzel und tragenden Grund und keineswegs als „Fortsetzung, Konsequenz und nächste Stufe“ der beiden Ersten, als Hegel-Auslegung zulässig war.[33] Anders ist es mit der Berufung auf Plato. Denn diese greift zurück auf den Vortrag seines Bruders Heinrich Barth auf der Aarauer Studentenkonferenz Anfang April 1919, den Barth, als er seinen Vortrag schrieb, auf seinem Schreibtisch liegen hatte.[34] Dass die Idee des Ursprungs keine metaphysische Dinglichkeit betrifft, sondern gerade die transzendental-kritische Revolution vor allen Revolutionen, stammt von der kantianischen Relektüre Platos. Auch die Erinnerung an die Lebenskunst Sokrates‘ als ein kritisches Wissen um die Idee[35] schließt daran an. Für mich hat dieses zwar nur vorläufige, aber in aller Vorläufigkeit auch gelungene Zusammengehen von Theologie und Philosophie funktioniert als eine Perspektive, die mir bei meinen Versuchen einer Begegnung mit (wenn auch mit einiger Mühe) Spinoza oder (schon wesentlich verheißungsvoller) Agamben bleibend vor Augen stand.[36]
Die andere Frage, vor der die zitierten Sätze von Hasselaar uns stellen, ist die, wie das Sprechen über die Schöpfung in Tambach sich verhält zu Barths späteren Ausführung dieses locus. Mir scheint, dass genau das, dass die Schöpfung nicht als selbständiger Anfang, sondern als erster Gesichtspunkt vom Denken des Ursprungs her zur Sprache gebracht wird, beachtenswert dem (in der Tat: ‚ganz anderen‘) Ansatz vorgreift, den er in den frühen Vierzigerjahren finden wird. Da bildet die ewige Erwählung (als ‚Gottes Urentscheidung‘) in Jesus Christus, supralapsarisch, den ewigen Hintergrund des göttlichen Schöpfungshandelns (KD II/2-KD III/1), während – aber das ist neu – auf der horizontalen Ebene die Schöpfung den Bund mit Israel als causa interna hat (KD III/1, § 41.3). Aber gegen diesen Hintergrund im Ursprung ruht dann die ‚These‘ der ‚naiven‘ Lebenserfahrung mehr in sich selber als es später der Fall zu sein scheint – obwohl einiges für die These spricht, dass die Schöpfung auch in der Kirchlichen Dogmatik nicht bloß kritisch funktioniert, sondern auch affirmativ: der Mensch darf bei aller Ambivalenz, die dem Leben eigen ist, wirklich vernehmen und erfahren Boden unter den Füssen zu haben.[37]
Stark im Tambacher Ansatz scheint mir zu sein, dass das Leben, wie es in sich selbst gelebt wird, auch im elementarsten Sinn wie Essen, Schlafen, Älterwerden zur Sprache kommt, ohne gleich in eine ‚höhere‘ Teleologie verkapselt zu werden.[38] Diese Stärke hat aber auch ihre Schwäche. Schön zu lesen und immer wieder zu lesen ist Barths Wiedergabe der Gleichnisse Jesu als Beschreibung des Alltags und dennoch voller Eschatologie.[39] Trotzdem lese ich mit größerer Zustimmung, was Barth später, in 1959, schreiben wird: „Jesus spricht, schafft ja diese Gleichnisse (…); aus dem ‚alltäglichen Leben‘ gegriffene und erzählte Vorgänge … sind diese Gleichnisse genau genommen höchstens im Blick auf ihre Materialien zu nennen. (…) In den meisten Fällen sind die erzählten Ereignisse doch sehr außergewöhnliche, kuriose, teilweise ziemlich unwahrscheinlich sich abspielende, jedenfalls nur als höchst einmalig verständlich zu machenden Ereignissen“.[40] Das ist auch meine Erfahrung beim Lesen und bei der Predigtvorbereitung. Es geht wirklich um die Geheimnisse des Himmelreiches, die einen immer wieder auf dem falschen Fuß erwischen. Das war in Tambach so nicht zu hören.
Wie könnte man das Sprechen von der Schöpfung in 1919 nun dogmatisch kennzeichnen? Vielleicht kann hier ein Blick auf den schon genannten Amsterdamer Vortrag aus 1926 behilflich sein. Dieser spielt sich zwar in einem anderen Sprachfeld ab – Barth befindet sich gerade in einer ‚Pause‘ zwischen seinen Göttinger und seinen Münsteraner Vorlesungen über die Dogmatik. Im vierten Teil, über diesen Gesichtspunkt der Schöpfung, ist von ‚das Regiment Christi im regnum naturae‘ als ‚das Reich des Logos oberhalb des Gegensatzes von Sündenfall und Versöhnung‘ die Rede. An sich können Sünder darüber nichts sagen, aber auf Grund der Inkarnation und der Versöhnung ist es doch möglich, dass diese Voraussetzung ‚auflebt’. „In der theologia revelata ist die theologia naturalis (sic!), in der Wirklichkeit der göttlichen Gnade ist die Wahrheit der göttlichen Schöpfung mit enthalten und ans Licht gebracht“. So leuchtet der Rechtsanspruch Gottes an seinem Geschöpf auf und wird die geschaffene Wirklichkeit zur Verheißung.[41]
Das ist noch ganz Thomas – das damals ihm zugeschriebene „Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vervollkommnet sie“ wird von Barth zitiert – oder Calvin – die Erkenntnis des Deus Redemptor inkludiert die des Deus Creator – oder auch Schleiermacher – im durch den Gegensatz (von Sünde und Gnade) bestimmten frommen Selbstbewusstsein ist das fromme Selbstbewusstsein als solches „immer schon vorausgesetzt, aber auch immer mit enthalten“. Der Logos bleibt hier außerhalb des Fleisches, denn es ist der ewige Sohn, nicht der fleischgewordene Jesus, der die Schöpfung trägt, ganz dem orthodox reformierten Muster entsprechend.
Bis weit in den Zwanzigerjahren hinein wird Barth in dieser Weise den Gesichtspunkt der Schöpfung (unbekümmert mit dem Begriff ‚Natur‘ verbunden) einen Ort geben, der sich gewissermaßen neben den Gesichtspunkten von Versöhnung und Erlösung befindet. Die Dreiheit der Gesichtspunkte bleibt eine 1+2=3, wie 1926, und die Zeit, dass er die Schöpfungstat von der Lehre der Trinität und der Erwählung her konzipieren wird, liegt noch vor ihm.[42] Obwohl also das Sprechen über die Schöpfung in Tambach einen Überschuss kennt (namentlich in seiner Aufmerksamkeit für die alltägliche ‚Banalität‘), zeigt mir die dogmatische Auslegung in den Zwanzigerjahren auch, dass sie nicht ausreicht. In dieser Hinsicht kann ich den zitierten Worten von Hasselaar nur zustimmen.
4. Von ‚Erlösung und Vollendung‘ zu ‚Versöhnung und Erlösung‘. Das Regiment Christi in den Reichen der Gnade und der Herrlichkeit.
Die Erkenntnisse, die Barth bei der Arbeit an seinem Vortrag gewann, sind im zweiten Römerbrief deutlich zu spüren, aber gerade nicht bezüglich der drei Gesichtspunkte. Fortwährend ist dort vom klassischen Paar Schöpfung und Erlösung die Rede und zwar un-dualistisch, weil die Erlösung eine Wiederherstellung und Erneuerung der gefallenen Schöpfung beinhaltet. Anfang und Ende zusammen (ohne eine ‚Mitte‘) setzen eine Welt unter Spannung, die auf keine Weise vermag, ihr eigens Heil zu bewirken. Die Introduktion des Wortes Versöhnung ist eher unauffällig. Wo es bei Paulus vorkommt, kann Barth gut damit arbeiten – in Röm. 3:25 hilastèrion, Deckel der Versöhnung, und in Röm. 5:10 katallagein („wenn wir als Feinde mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, so werden wir umso gewisser als Versöhnte gerettet werden durch sein Leben“), aber das ist für die Struktur nicht entscheidend.[43]
Das wird anders in den Göttinger Dogmatikvorlesungen des Sommersemesters von 1925. Dann wird ‚die Lehre der Versöhnung’ zum Oberbegriff des ganzen Komplexes von Gnadenbund, Christologie, Soteriologie, den Sakramenten und der Kirche, wie er das im Lehrbuch von Heppe vorgefunden hat. Heppe selbst gibt zu diesem Oberbegriff keinen Anlass, denn bei ihm hat der Begriff ‚Versöhnung‘ nur eine ganz beschränkte Bedeutung.[44] Ist es vielleicht doch Paulus, der ihn dazu gebracht hat? „Versöhnung heißt Friedensschluss, Herstellung der Möglichkeit eines Zusammenseins in Liebe. Dieser Friedensschluss zwischen Gott und Mensch ist geschehen. Es gibt ein Zusammensein von Gott und Mensch jenseits dessen, was wir kennen als Verdammnis, Feindschaft, Fremdheit. Von Gott aus, schlechterdings nur von Gott aus.“[45] Alle Kritik an Gesellschaft und dem, was für Kritik gehalten wurde, war in Tambach auf den Nenner ‚Reich der Gnade’ gebracht worden, aber von der Gnade selbst war im vierten Teil eigentlich kaum explizite die Rede. Jetzt kann die Geschichte Christi als eine Geschichte der Versöhnung zum Zusammenhang werden, in welchem alle Kritik ihren Platz bekommt. Jesus herrscht in medio inimicorum, heißt es denn auch im fünften Teil des Amsterdamer Vortrags und dort ist auch der Ort, wo wir zu hören bekommen, was wir als geheiligte Sünder tun müssen.[46]
Weil das Wort ‚Versöhnung‘ fortan funktioniert als Bezeichnung des mittleren der drei Gesichtspunkte, kann der Begriff ‚Erlösung‘ für die Eschatologie reserviert werden als die Grenze, die unserem Leben von der Ewigkeit her gesetzt ist, über Schöpfung und Versöhnung hinaus. In Amsterdam betont Barth, dass es der Dienst der Kirche ist, der Gesellschaft diesen Gesichtspunkt zu bezeugen. Gerade das Andeuten der Störung, die mit dem eschatologischen Vorbehalt dem Lauf der Dinge in allen gesellschaftlichen Sektoren gegenüber gegeben ist, darf die Gesellschaft von ihr erwarten. Und Barth fügt dem, äußerst kontextuell, hinzu, dass dies in der damaligen kulturellen Situation höchst aktuell ist. Von der guten Schöpfung wusste in ihrer Weise auch die Aufklärung, von Sünde und Gnade, Evangelium und Gesetz haben Pietismus und Erweckungsbewegung die Gesellschaft ebenfalls versucht zu durchdringen, aber das Wissen um des ganz Anderen des Reiches der Herrlichkeit ist aufs Dürftigste verkümmert. Hätten die Kirchen dieses Wissen noch gehabt, dann hätten sie der Kriegspropaganda ihrer eigenen Nation in 1914 nicht unterstützt und hätten auch auf der kürzlich stattgefundenen Stockholmer Konferenz für Life and Work kräftigere Worte gefunden.[47]
Nach 1926 bleibt der Dreischritt Schöpfung – Versöhnung – Erlösung festen Bestandteil der dogmatischen und ethischen Schriften Barths. Auf die Notwendigkeit einer einseitig-kontextuellen Betonung des dritten Gesichtspunkts kommt er aber meines Wissens nicht mehr zurück. Als er 1938 wegen seines politischen Widerstandes gegen das Dritte Reich angegriffen wurde, als hätte er nie einen eschatologischen Vorbehalt gelehrt, bemerkt er, dass „der eschatologische Charakter der ganzen christlichen Botschaft’ (…) nach wie vor den Mittelpunkt meiner theologischen Lehre bildet“, dass aber „eine abstrakt eschatologischen Erwartung ohne Gegenwartsbedeutung“ nicht in seinem Kopf, sondern vermutlich vor allem in den Köpfen vieler seiner Leser steckte.[48]
Aber mit dem Stärkerwerden der ‚christologischen Konzentration‘[49] kommt der Schwerpunkt immer weniger beim dritten und immer mehr beim zweiten Gesichtspunkt zu liegen. In der Gotteslehre, der Schöpfungslehre und insbesondere in der Versöhnungslehre der Fünfzigerjahre beherrscht Jesus Christus als der lebendige Herr die breite ’Mitte‘ seiner theologischen Überlegungen, während er dem Gesichtspunkt der kommenden Herrlichkeit relativ wenig spezifische Aufmerksamkeit widmet. Eginhard Meijering bietet im fünften und letzten Band seiner Reihe mit Stücken aus der Kirchlichen Dogmatik eine kommentierte Paraphrase und Übersetzung einiger Fragmente aus der Anthropologie, der Vorsehungslehre und der Schöpfungsethik, in denen das ewige Leben zur Sprache kommt, ergänzt mit dem letzten Paragraphen aus dem dritten Band der Versöhnungslehre über den Heiligen Geist und der christlichen Hoffnung.[50] Das Ergebnis der Lektüre ist nicht eindeutig. Barth ist überzeugt, dass der Teil des Credos, der von einem ewigen Leben-für-Gott spricht, Gültigkeit hat. Zugleich verwirft er frühkirchliche Lehre der unsterblichen Seele und akzeptiert er die Sterblichkeit des Menschen als solche (abgesehen von allem Sterben als Folge der Sünde und des Übels) als Bestandteil der guten Schöpfung – eine Wendung, die er sicherlich in den Zwanzigerjahren noch nicht gemacht und die auch mit der Verarbeitung eines von Denkern wie Heidegger geprägten Geistesklimas zu tun hatte. Barth betont stark, dass die Hoffnung auf die ewige Herrlichkeit nicht auf Kosten der Akzeptanz dieses Leben auf der Erde unter dem Himmel gehen darf. Aber, ob das ewige Leben vorstellbar ist, besonders als Bewusstseinszustand von Menschen und anderen Kreaturen, bleibt unklar.
Barth ist zum fünften und abschließenden Hauptlocus der KD nicht mehr gekommen. Meijering vermutet, dass uns da wenig Überraschungen erwartet hätten. Eine gelungene Kompilation der eschatologischen Bemerkungen, besonders in der Versöhnungslehre, hätte ausgereicht.[51] Meine Vermutung geht in eine andere Richtung. In seinem Brief an Jürgen Moltmann in Reaktion auf dessen berühmter Theologie der Hoffnung ist Barths wichtigste Kritik, dass dieser zu einseitig auf die Eschatologie setzt und zu wenig ein trinitarisches Gleichgewicht bewahrt, sodass „dem regnum naturae und dem regnum gratiae die gleiche Ehre zu erweisen wäre“ wie die eschata – plötzlich kehrt die Begrifflichkeit von Tambach zurück, möglicherweise veranlasst durch die Herausgabe dieses Textes durch Moltmann! Aber Barth macht noch eine andere Bemerkung, wenn das auch nicht sein Hauptpunkt ist, nämlich, dass man sich in der Theologie der Hoffnung, die offenbar Prolegomena zu einer Eschatologie bieten will, „vergeblich nach einer konkreten Eschatologie, d.h. nach einer Erhellung von Begriffen wie Wiederkunft, Totenauferstehung, ewiges Leben etc., umsieht“ (das letzte Gericht fehlt hier!).[52] Barth selber hatte offenbar anderes im Sinn: hätte er die KD V noch geschrieben, er wäre nicht beim kantianischen Begriff der Eschatologie als ‚Grenze’ stehen geblieben, sondern hätte den Mut aufgebracht von den Schriften her etwas über das Jenseits dieser Grenze zu sagen, auch wenn wir davon nichts wissen. Vieles bei dem Barth der Sechzigerjahre erinnert (trotz Hasselaar) an den ‚jungen‘ Barth. Wer weiss, ob er nicht auch auf seine frühe Eschatologie zurückgegriffen hätte? Ich selbst meine jedenfalls, dass es für uns gute Gründe gibt, das zu tun.
5. Auswertung: eine Relektüre der Barthschen Eschatologie von 1919 und ‚die politische Frage(n) von heute‘
Breukelman hat, wie vorher schon Miskotte, darauf hingewiesen, dass Barths ‚Trennen’ von Versöhnung und Erlösung es der Ekklesia leichter machte vor die Synagoge zu treten, deren Frage ja ist, wie man behaupten kann, der Messias sei gekommen, wenn die Welt noch so unerlöst aussieht.[53] Ich weiß mich (wie schmerzlich das auch ist) gesegnet in meiner theologischen Existenz das Erscheinen (1988-1997) der Dogmatik von Friedrich-Wilhelm Marquardt erlebt zu haben, die beherrscht wird von der einen Frage: wann wird die Ekklesia die Frage der Synagoge endlich an sich heranlassen? Es ist kein Zufall, dass drei der sieben Bände dieser Dogmatik der Eschatologie (noch um eine Band über Utopie erweitert) gewidmet sind, dominiert von der doppelten Frage: dürfen wir hoffen? und wenn ja: was gibt es noch zu hoffen? Und es zeugt von Mut, dass er im dritten Band auf die Fragen eingeht, die Barth bei Moltmann vermisste: Wiederkunft, Auferstehung des Fleisches, letztes Gericht (er schon) und ewiges Leben.[54] Zugleich aber geht es in der Behandlung des – unter großem Vorbehalt – Erhofften um mehr als einen ‚dritten‘ Gesichtspunkt der Herrlichkeit ‚neben‘ dem zweiten der Versöhnung. Die Frage des Judentums führt bei Marquardt dazu, dass jedes Sprechen von einem ‚Perfektum der Erfüllung’ in Jesus Christus (‚es ist vollbracht‘) ihm zutiefst verdächtig geworden ist. Und das geht weiter als, dass dieses Perfektum das noch zu erwartende Kommen von ihm, den wir gedenken, nicht genügend berücksichtigt wird. Er will radikal brechen mit diesem Erbe Luthers und ebenfalls mit dem des späteren Barth, insofern dieser Luther in dessen Nachdruck auf das Perfektum folgt.
An diesem Punkt habe ich es nie fertig gebracht Marquardt zu folgen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm über Miskottes Bezeichnung des Namens als ‚Grundlos – in der Mitte‘.[55] Marquardt konnte die Grundlosigkeit, also die Unmöglichkeit einer metaphysischen Rede von Gott, gut folgen. Aber, dass der Name noch ‚in unserer Mitte‘ sein könnte: nein, das konnte er nach so viel jüdischer Erfahrung der Gottesfinsternis nicht mehr glauben. Ich will von dieser Erfahrung absolut nichts abtun – sie ist m.E. zum Beispiel auch als der tiefste Grund der ‚Abfälligkeit‘ eines ketzerischen Juden wie Spinoza zu sehen[56] – und ich bin mir bewusst, dass sie auch am Rande des Kanons (Koheleth; Hiob[57]) bereits präsent ist. Aber ich bin (und bleibe, immer noch) zu sehr ein auf die zentrale biblische Botschaft orientierter Theologe, um auf die Anwesenheit des Namens bekirbenu und des verborgenen Umgangs mit dem Namen verzichten zu können.
Trotzdem ist es meines Erachtens wichtig zu bedenken, dass der ‚dritte‘ Gesichtspunkt eine Perspektive einbringt, die im ‚zweiten‘ (in Zusammenspiel mit dem ‚ersten‘) für sich genommen so nicht zu finden ist. Ich will das erläutern an Hand von Barths Notizen für seinen Pfingstvortrag ‚Christliches Leben‘ in Aarburg im Juni 1919, der, wie gesagt, weitgehend als Grundlage der Tambacher Rede diente.[58]
„Wir warten nicht nur bessrer, reformierter, revolutionierter Verhältnisse, sondern eines n(euen) H(immels) u. einer n(euen) Erde [2 Petr. 3,13]. Das neue Jerus[alem] hat nicht das Geringste zu tun mit der neuen Schweiz und mit d. internat[ionalen] Zukunftsstaat[,] sondern es kommt, von Gott zuvor bereitet[,] auf die Erde [vgl. Apk. 21,2], wenn s. Stunde da ist. Die Schöpfungsordnung[,] die X wiederbringt, wird zugleich völlig umgeordnet. [Bleistifteinfügung zwischen den Zeilen: weder finden sich im neuen Jerusalem natürliche Lichter wie Sonne und Mond noch ein Tempel; Apk. 21, 21-27]. Es stehen der Vervolkommnung der jetz[igen] Verhältnisse Schranken entgegen, die nur Gott selbst brechen kann. Gott aber wird sie brechen. Der Tod wird nicht mehr sein [Apk. 21,4]. Die Sexualität auch nicht. Der Kampf ums Dasein auch nicht. Gott wird Alles in Allen sein [1. Kor. 15,28], wie er es innerhalb der Entwicklung[,] in der wir jetzt stehen, nicht sein kann. Das ist der Fortgang der Wahrheit in X.“
Den historischen Kontext will ich hier nicht kommentieren, sondern nur einige Bemerkungen machen im Hinblick auf die Frage nach ‚die Kirche und die politische(n) Frage von heute‘, wie Religionskritik, Gewalt, Identitätspolitik, Klimakrise und die Machtkonzentration bei großen Unternehmen und Vermögen.[59]
„Und ich sah keinen Tempel darin“
Diese Perspektive rührt an den ersten Abschnitt der Tambacher Rede. „Ein abgesondertes Heiligtum ist kein Heiligtum“, „es kann kein Drinnen geben, solange es ein Draußen gibt“, aber „jene Absonderung des religiösen Gebietes hat“ doch „einen Grund“.[60] Die Wenigen, die das ‚Den Namen in der Mitte‘ bekennen, stehen neben dem Hauptstrom des gesellschaftlichen Lebens, sie suchen Schutz beim Kreuz, wenn sie auch nicht glauben können, sie würden für immer in der Absonderung existieren müssen. Wie sehr sie auch wissen, dass die Aufhebung der Gegensätze innerhalb / außerhalb des Kreuzes mit dem Kreuz selbst gegeben ist, sie können es mit keinem kirchlichen Erneuerungsplan (oder einem Strategic Plan im theologischen Wissenschaftsbetrieb) mehr als nur vorübergehend sichtbar machen. Das kann man nur aushalten im Wissen, dass das Lamm im Neuen Jerusalem gegenwärtig sein wird – und von dort her schon jetzt, hier und da, aber vollauf, wirklich – für Israel und für alle Völker. Sogar die besonderen Gezeiten und liturgischen Feiern, angezeigt von Sonne und Mond, sind dann überholt. Denn sie sind durch die Nacht hindurch in eine Sphäre von Licht aus Licht und Finsternis geführt worden (Da Costa).
„Und der Tod wird nicht mehr sein“
Der Tod ist nicht der erste Feind. Denn damit würden wir der Religion in ihrer übelsten Form Nahrung geben, in der die Neigung sich zu rüsten gegen jede Todesgefahr alle Mitmenschen zu potenziellen Feinden macht. Nein, wir haben vielmehr den Tod zu akzeptieren, aber in der Weise, auf der Barth das tut in seiner Schöpfungsethik. Wir sind geschaffen im Gleichnis der Saat, die in den dunklen Acker fällt, dazu bestimmt, um in der Erde zu bleiben, wo die Gräber sind. Uns berührt der Schmerz aller, die verschwunden, verfolgt, weggerückt sind, aber wir akzeptieren, dass, über alle Sünde und Gewalt hinaus, das Sterben zur guten Schöpfung gehört. Aber auch das können wir nur aushalten, wenn wir wissen, dass die Auferstehung dieses einen Menschen, des Messias, eine Mehrzahl impliziert: die Auferstehung der Toten. Gerade im Wissen, dass der Tod als letzter Feind besiegt ist (1. Kor. 15:26), wird es uns möglich ihn mit Franziskus als ‚Schwester Tod’ zu begrüßen und ihren Herrn ihretwegen zu loben. Wer um die Auferstehung weiss, ist auch gerüstet sich in einem Weg nach unten zu verlieren.[61]
Und so ist es auch mit dem Tod dieser Erde unter dem Himmel. Im zweiten Petrusbrief handelt es sich, so meine ich jedenfalls, um einen Ostermotiv: die stoicheia, die Machtstrukturen der alten Welt vergehen, damit endlich Gerechtigkeit sich einstellt. Was die Astrophysik uns lehrt über die beschränkte Lebensdauer des Planeten Erde bewegt sich auf einer anderen Ebene und in einer ganz anderen Sprache. Trotzdem ist sie brauchbar, weil sie uns auf ihre Weise die Sterblichkeit unserer Lebenswelt bewusst macht. So oder so, die Erde geht den Weg allen Fleisches, aber die Lebensdauer der so wie so schon verletzlichen Lebensgrundlage für Mensch und Tier unnötig zu verkürzen, wie es die Menschheit in hohem Tempo tut, ist jedoch genau so unverantwortlich, wie jede unnötige Beschleunigung des Sterbens einer einzelnen Kreatur. Gerade wer sich wegen Ostern der Endlichkeit auch der Umwelt des Menschenkindes bewusst ist, wird jede Schludrigkeit im Umgang mit ihr vermeiden. Dafür braucht man aber Osterglauben.
„Die Sexualität auch nicht“
Die Wendung in der Theologie des zwanzigsten Jahrhundert weg von der Konzentration auf das Heil im Himmel zu der Geschichte der Befreiung auf Erden, brachte mit sich, dass man aufs Neue ein Gespür bekam für das Genießen der guten Schöpfungsgabe der Sexualität. Hier wären viele Geschichten des Aufatmens, der Erleichterung, Selbstfindung, Entdeckung der unendlich variierten ‚Einfälle der Schöpfers‘ zu erzählen. Zugleich gilt es die Warnung von Michel Foucault zu bedenken: der Diskurs der sexuellen Befreiung ist ein Diskurs, der uns zwingt, Wahrheiten über unser ‚Selbst‘ zu definieren. Er setzt uns und andere fest in genau umschriebenen Identitäten, die eine Identitätspolitik des einen gegen den anderen hervorruft.[62] Das Bild, das so entsteht, ist ambivalent und die ‚Affären‘ nehmen kein Ende.
Schon vor Jahrzehnten kamen wir in der ‚Schwulen Theologie‘ zur Schlussfolgerung, dass wir uns auf dem Kampfplatz des regnum gratiae unvermeidlich einen Namen, eine sexuelle Identität geben lassen mussten. Zugleich war das nur zu ertragen, solange wir um das regnum gloriae wussten, worin Christus jede Abgrenzung, die in seinem Namen gemacht werden konnte, aufheben wird.[63] Karl Barth hat in seiner Schöpfungsethik die Ehe von Mann und Frau als Gleichnis des Bundes von Gott mit Israel bezeichnet. Paulus‘ Andeutung in 1. Korinther 7, sich im Hinblick auf das baldige Kommen des Herrn solcher Verbindung zu entsagen, hat er aber als eine ‚Dezentrierung‘ dieser zentralen Bundesmetapher funktionieren lassen.[64] Das lese ich als eschatologischen Vorbehalt in actu. Zugleich aber ist es mir nie scharf genug gewesen. Vielmehr war ich fasziniert vom Nachdruck, den Erik Peterson (als junger Mann in der näheren Umgebung von Barth verkehrend) auf das große Interesse, das die frühe Kirche für die Engel im Himmel hegte, die ‚nicht freien noch sich freien lassen‘ (Markus 12:25), gelegt hat.[65] In dieser Zeit zu sagen, dass unsere Kultur in irgendeiner Weise Menschen braucht, die etwas vom ‚Leben der Engel‘ sichtbar machen und damit die fundamentale Relativierung aller sexuellen Identitäten vom Eschaton her schon in dieser Welt abbilden, ist schwierig. Der offensichtliche Bankrott der totalen Pervertierung dieser Erkenntnis, insbesondere durch die männliche Machtausübung der Kirche der Romana (und nicht nur dieser Kirche) hat es nahezu unmöglich gemacht. Darauf verzichten will ich aber nicht.
„Der Kampf ums Dasein auch nicht“
Über die wissenschaftliche Bedeutung der Evolutionstheorie kann kein Zweifel bestehen. Wenn Barth in seinen Safenwiler Predigten immer wieder das Konzept eines Kampfes ums Dasein kritisiert, worin der Stärkste gewinnt, kehrt er sich wohl vor allem gegen einen Sozialdarwinismus, also gegen einen ideologischen Gebrauch dieser Theorie. Trotzdem ist nur das zu sagen zu bequem. Darwin hat sehr wohl auf den brutalen, amoralischen und gewalttätigen Charakter des regnum naturae hinweisen wollen – von dem er auch selber erschrocken war. Und, wenn der dritte Abschnitt der Tambacher Rede von der „Schlechtigkeit, Entartung und Verwirrung“ spricht, in die wir uns fügen, wenn wir die Herrschaft Christi über die Schöpfung mit dem So-Sein der Dinge in Verbindung bringen, handelt es sich auch hierum.[66]
Wenn Barth 1919 den Kampf für eine neue Schweiz oder ein neues Deutschland in die Perspektive der Erwartung des Neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herabfährt, stellt, dann haben wir heute auch allen Grund dasselbe zu tun mit dem Kampf gegen die Zerstörung der Biodiversität und die Erwärmung der Erde so wie alles andere, was in der heutigen Klimadebatte (und darüber hinaus) diskutiert wird. Es geht nicht nur darum, die adamah und was auf ihr lebt zu behüten und zu bewahren, es geht auch darum mit den Kräften zur Befreiung zu rechnen, die in der Erde selbst leben (Bloch) und über die viele Psalmen so mythologisch singen können. Wir können aber auch die Brutalität des ‚Kampfes ums Dasein‘ nicht verkennen. Die Verbindung einer Theorie eines sich selbst reproduzierendes Ökosystems mit der Göttin Gaia bedeutete die Wiedereinführung eines Heidentums, das uns nicht weiterhilft. Hier gilt die Erkenntnis von Barths zweiten Römerbrief, dass die Erlösung die Wiederherstellung der ursprünglichen, noch nicht gefallenen Schöpfung bedeutet. Ein schönes Beispiel gibt Barth in seiner Exegese von Genesis 1:29.30, wenn er unterstreicht, dass am sechsten Tag „alles Grün des Krauts“ „zum Essen“ geschenkt wird – sowohl an Menschen als an Tier. Nicht nur der Mensch ist hier vegetarisch, die Tiere unter einander sind es auch! ‚Am Anfang‘ war es so: der Wolf gastet beim Lamm und der Panther beim Böckchen (Jes. 11, 6f.).[67] Siehe da: „echte Eschatologie leuchtet auch nach rückwärts“.[68] Kürzlich wurde in Göteborg eine Dissertation verteidigt, in der Barth zu den Denkern gerechnet wird, die während des Interbellums den Gedanken der Unsterblichkeit gegen die Schattenseiten der Darwin’schen Theorie eingebracht haben.[69] Das ist richtig. Wir haben den Unterschied zwischen dem regnum gloriae und dieser gefallenen Schöpfung im Auge zu behalten, gerade wenn wir uns einsetzen für die Erhaltung dieser Erde als bewohnbar für Mensch und Tier, darauf setzend, dass uns dafür noch genügend Zeit gegeben ist.
„Gott wird Alles in Allen sein“
Ausnahmsweise verfügen wir beim berühmten Perikopen 1. Korinther 15:24-28 über einen Exkurs des späten Barth, aus welchem wir beispielhaft ersehen können, wie er sich das Verhältnis zwischen zweitem und drittem Gesichtspunkt, der ‚Mitte‘ und dem Ende, vorgestellt hat. Was meint Paulus, wenn er sagt, dass Christus in seiner letzten Parusie die Königsherrschaft dem Vater übergeben wird, damit Gott alles in Allen sei?[70] Barth denkt: wir müssen diese Stelle mit dem Lied in Phil. 2, 6ff. verbinden, das handelt vom Gehorsam des Sohnes bis zum Ende. Der ganze Weg des Herrn ist ein Weg der Unterwerfung und der Dienstbarkeit. Gerade in dieser Unterwerfung hat er ohne Vorbehalt göttlich gehandelt. Seine letzte Unterwerfung macht es also möglich, dass von diesem Gott nicht anders als so gesprochen werden kann: also von totaler Dienstbarkeit nach allen Seiten und an Alle. Damit, so füge ich hinzu, ist die Ostererzählung von Exodus wirklich zu Ende geführt: andere in deinem Dienst für dich arbeiten zu lassen (das tat Pharao) wird jetzt wirklich komplett von einer völlig freiwilligen Verfügbarkeit zum Dienst abgelöst. Dann erst wird vollkommen wahr, was Luther in diesem Leben schon hier und da vor sich sah: dass der eine Mensch dem anderen zum Christus wird.
Noch
einmal: wie können wir es aushalten in dieser Zeit, in der Christus herrscht
inmitten seiner Feinde, ohne dem Wissen um dieses ganz andere ‚Ende‘, um diese world without end? Die schmutzige Arbeit
wird auf eine ‚Unterklasse‘ abgeschoben, die sich mit immer weniger Einkommen
begnügen muss. Welche Arbeit getan wird, wird in hohem Maße bestimmt von
einigen wenigen Monopolisten, die an jeder Art von Konsumption, was ihr Sinn
auch sein mag, verdienen wollen. Riesige Vermögen wachsen ins Unendliche,
während die Steuereinnahmen nur sinken. Uneigennützige Dienstbarkeit, wer ist
dazu noch fähig? Nein, keine „pessimistische
Diskreditierung des Diesseits und unserer Tätigkeit im Diesseits“![71] Unser Tun kann noch immer begnadet sein. Es kann
das aber nur, weil diese Begnadigung im Lichte des Größeren, der Vollendung des
Werkes Christi steht: Gott, der Gott der Dienstbarkeit, Alles in Allen.
Maranatha!
[1] K. Barth, ‘Der Christ in der Gesellschaft’, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914-1921, (GA III), Zürich: TVZ 2012, (546)556-598, 563f.
[2] A.a.O. 576.
[3] A.a.O. 568.
[4] K. Barth, ‘Die Kirche und die Kultur‘, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930, (GA III), Zürich: TVZ 1994, (6)10-40, 20f.
[5] JD I/2, 986-988.
[6] Notiz Nr. 16 in: Karl Barth, De christen in de maatschappij (1919); Friedrich-Wilhelm Marquardt, Tambach nu, Zeist: Eltheto 1978, 50
[7] Dick Boer spricht von ‘eine[m] Proto-KD. Sie beginnt mit Christus (I) – in der KD die Prolegomena. Sie fährt dann fort mit Gott („Um Gott handelt es sich, um eine Bewegung von Gott her“, 566; II) – in der KD die Lehre von Gott usw.; ‚Der Ort der Befreiungsbewegung in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths‘, in Ders. Theopolitische Existenz – von Gestern für heute, Berlin: Argument Verlag / InkriT 2017, 235.
[8] Im Lehrbuch von H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, ed. E. Bizer, Neukirchen 21958, findet sich ein kurzes Kapitel ‚de fundamento doctrinae Scripturae Sacrae‘. Dort heißt es: „die deutsch-reformierte Theologie bezeichnete diesen Grundbegriff der Offenbarung von Anfang an mit dem Ausdruck foedus Dei (auch regnum Christi, κοινωνια cum Christo)“ (S. 34f.) Barth begann mit dem Reich, wendete sich in Göttingen dann zum Begriff Offenbarung selber (das Wort Gottes), um ungefähr 1940 den Bund zum Gebinde zu machen, das die verschiedenen Loci zusammenhält – mit zunehmendem Interesse für die Gemeinschaft mit Christus, wenn auch nicht an einer derartig zentralen Stelle.
[9] Im Vortrag in Aargau hieß die Sache, im Ton einer Konfession, einfach: ‚Jesus lebt!‘; K. Barth, ‚Christliches Leben‘, in Ders., Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), (503-513) 505.
[10] Amy A. Marga, ‘Karl Barth’s Second Dogmatic Cycle, Münster 1926-1928: A Progress Report’, ZDTh 20 (2005)1, 126-138, insbes. 131, 138.
[11] Der Herausgeber von K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf (1927), (GA II), Zürich: TVZ 1982, Gerhard Sauter, nennt in seinem zusammen mit Hinrich Stoevesandt geschriebenem ‚Vorwort zur Neuausgabe‘ (S. XVI) einen Brief von Barth an Karl Stoevesandt vom 12. Dezember 1930.
[12] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 512; regnum naturae in der Tambacher Rede auch 578, 585, 588; regnum gratiae auch 588, 593; regnum gloriae auch 597.
[13] F. H. Breukelman, doctoraalcollege over de verzoening, in: Bijbelse Theologie IV/2. Theologische opstellen, Kok: Kampen 1999, (262-298)282; Hinweis auf Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q. 62 a. 3 obj. 3; Fr. Turrettinus, Institutio Theologiae Elenchticae, Genève 1688, L. I q. 2: an sit Theologia, & quotuplex? § x.
[14] Breukelman, a.a.O., 296f. Weiter weise ich noch hin auf den Vortrag, den Breukelman hielt auf der NCSV-Konferenz in 1978, auf der die Niederländische Übersetzung der Tambacher Rede präsentiert wurde. Eine Skizze befindet sich im ‚Historische Documentatiecentrum voor het Nederlandse Protestantisme (1800-heden)‘, Archivnummer 674, Karton i085. Für eine Wiedergabe siehe: Gerard van Zanden, Bij het begin beginnen. Het Bijbels-theologisch project van Frans Breukelman, Zoetermeer: Boekencentrum 2019, 176-181.
[15] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 561.
[16] Rinse Reeling Brouwer, Is het marxisme een messianisme? Theologie in gesprek met Louis Althusser en Walter Benjamin, Zeist: NCSV 1981.
[17] Th. Van Aquino, Summa contra Gentiles I c. 3 en c. 9.
[18] Calvijn, Institutio (1559) I.2.1, I.6.1. en II.6.1.
[19] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 578; H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu herausgegeben und durchgesehen von Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh: Gerd Mohn, 1990, 240-243.
[20] J. Kaftan, Dogmatik, 11897, 522; M. den Dulk, … Als twee die spreken. Een manier om de heiligingsleer van Karl Barth te lezen, ’s Gravenhage: Boekencentrum, 183 (mit Hinweis auf 210).
[21] J.D. Beeke, Duplex Regnum Christi: Christ’s Twofold Kingdom in Reformed Theology, manuscript 122-127.
[22] Siehe oben, Fussnote 8. Auch Rinse H. Reeling Brouwer, Karl Barth and Post-Reformation Orthodoxy, Farnham: Ashgate 2015, 117.
[23] A. van de Beek, Mijn Vader, uw Vader. Het spreken over God de Vader, Utrecht: Meinema 2017, 157-175 en 235-248. Zitate auf 158, 161, 160.
[24] Über die Christologie Van de Beeks im Verhältnis zu Barth siehe: Rinse Reeling Brouwer, ‘Een “vrolijke ruil”, maar geen vrolijk weten?’, in: H.M. Kuitert, A. van de Beek e.a., Jezus: bij hoog en bij laag, Kok: Kampen 1999, 122-133.
[25] Z.B. F.H. Breukelman, De structuur van de heilige leer in de theologie van Calvijn. Bijbelse Theologie IV/1, verzorgd door Rinse Reeling Brouwer, Kampen: Kok 2003, 12-15; 492-94.
[26] Rinse Reeling Brouwer, Grondvormen van theologische systematiek, Vught: Skandalon 2009, 395 (oefenopgave 11.5 met modelbeantwoording).
[27] Vgl. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich: EVZ 1947, 13f.
[28] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 565.
[29] J.M. Hasselaar, ‘Zekerheid en kwetsbaarheid’, In de Waagschaal n.j. 7(1978)1, 11 maart 1978, (8-12)9.
[30] Für das Bild der ‘Eierschalen’ siehe K. Barth, ‘How my mind has changed 1928-1938’, in ders., “Der Götze Wackelt”. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, Hrsg. von Karl Kupisch, Berlin: Voigt 1961, (181-190)186.
[31] KD I/2, (815-)825; auch 865-67.
[32] K. Barth, ‘Philosophie und Theologie’, in: G. Huber (Hrsg.), Philosophische und christliche Existenz. Festschrift für Heinrich Barth, Basel/Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, 1960, 93(-106).
[33] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 577, 582, 586f, 593, 596.
[34] Dieser Vortrag, ‘Gotteserkenntnis’, ist neu erschienen in J. Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie Teil I, München: Kaiser 1962, 220-255; siehe auch F.W. Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, München: Kaiser 1972, 207-219. Marquardts Wunsch, die philosophisch-theologische Arbeitsgemeinschaft zwischen den beiden Brüdern sollte mal genauer untersucht werden (a.a.O. 211), ist meines Wissens immer noch nicht erfüllt worden.
[35] A.a.O, 587. Plato sollte auch helfen, die romantische Idee der Unmittelbarkeit, die Barth im ersten Römerbrief (unter dem Einfluss H. Kutters) hegte, zwar noch nicht ganz zum Verschwinden zu bringen (a.a.O. 567, 570), aber doch zurückzudrängen. Zwar kann man, wie Eberhard Busch das mit recht tut, die Figur des ‚Erwachens der Seele‘ (a.a.O. 570) als einen noch nicht überwundenen Rest dieses Unmittelbarkeitsdenken auffassen, aber vielleicht war dessen späteren Überwindung auch mit Plato noch möglich. Siehe E. Busch, ‚Antworten, die zu neuen Fragen wurden. Die Bedeutung des Tambacher Vortrags für K. Barths eigenen Weg (1984)‘, http://wwwuser.gwdg.de/~ebusch/tambach.htm, 7.
[36] Rinse Reeling Brouwer, De God van Spinoza. Een theologische studie, Kampen: Kok 1998; ders. Eeuwig leven. Agamben & de theologie, Amsterdam: Sjibbolet 2016.
[37] J.J. Smedema, Grond onder de voeten. Barths scheppingsleer in KD III/1 opnieuw gelezen, Zoetermeer: Boekencentrum 2009 (Dissertation; der Promotor war letztlich Kees van der Kooi).
[38] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 570.
[39] A.a.O., 581.
[40] KD IV/3, 125.
[41] K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930 (Anm. 4), (20-25) 22.
[42] Dazu ist Barth offenbar zu dieser Zeit der altreformierten Distinktion zwischen eine immanente Trinität der Ewigkeit und eine ökonomische Trinität der Inkarnation noch in hohem Maße schuldig. Siehe auch die Erörterungen zum dreifachen munus regium in der Göttinger Dogmatik: K. Barth, “Unterricht in der christlichen Religion” Dritter Band. Die Lehre von der Versöhnung / die Lehre von der Erlösung 1925/26 (GA II), Zürich: TVZ 2003, 164-175.
[43] K. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, Hrsg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja (GA II), Zürich: TVZ 2010, 146ff. u 223f. Im Sommer von 1920 predigte Barth außerdem über 2. Korinther 5.
[44] R. Reeling Brouwer, Post-Reformation Orthodoxy (Anm. 22), 220f.
[45] K. Barth, Die Lehre von der Versöhnung / die Lehre von der Erlösung (Anm. 42), 8.
[46] K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930 (Anm. 4), (25-29)26, 28.
[47] K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930 (Anm. 4), 29-33 u 37-40.
[48] K. Barth, ‘How my mind has changed 1928-1938’ (Anm. 30), 189.
[49] A.a.O., 186.
[50] Eginhard Meijering, Karl Barth: Geloven in de levende God. Deel V: Eeuwig leven, Druk Pumbo.nl, 2017.
[51] Für den Versuch einer solchen Kompilation, siehe: Gotthard Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1988.
[52] K. Barth, Brief 17. November 1964 an Prof. Dr. Jürgen Moltmann, in ders., Briefe 1961-1968 (GA V), Zürich: TVZ 1975, (274-277)276.
[53] Breukelman,doctoraalcollege over de Verzoening (Anm. 13), 295f. (punkt 5); K.H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen, München: Kaiser 1966, 313.
[54] Friedrich-Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie Band 3, Gütersloh: Kaiser 1996.
[55] Miskotte, Götter (Anm. 52), 186ff. Siehe auch Friedrich-Wilhelm Marquardt, Eia, wärn wir da – eine theologische Utopie, Gütersloh: Kaiser 1997, 349-351.
[56] Rinse Reeling Brouwer, De God van Spinoza (Anm. 36), 272-276.
[57] Dick Boer, Wenn nichts mehr stimmt… Hiob rettet den ‚Namen‘, Argument Verlag 2019.
[58] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 9), 510-511.
[59] Als Barth 1938 einen Vortrag mit diesem Titel hielt, beschäftigte ihn das Problem des Nationalsozialismus; siehe K. Barth, Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Zürich: EVZ 1945, 69-107.
[60] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 559.
[61] Sehr schön beschrieben vom Philosophen Giorgio Agamben in seinem Aufsatz ‘Creazione e salvezza’ (Schöpfung und Rettung), mit dem der Band Nudità (Nacktheiten), Roma: Nottetempo 2009, öffnet.
[62] Von der Histoire de la sexualité erschien kürzlich posthum ein vierter Band, der insbesondere die frühe Christenheit behandelt: M. Foucault, Les aveux de la chair, Paris: Gallimard 2018.
[63] Rinse Reeling Brouwer, Franz-Joseph Hirs, Die Erlösung unseres Leibes. Schwul-theologische Überlegungen wider natürliche Theologie, Knesebeck: Erev-Rav 1995, insb. 94-103 (‚Vollendung‘).
[64] KD III/4, 154-164.
[65] Erik Peterson, Das Buch von den Engeln, Leipzig: J. Hegner 1935. In KD III/4, 269 findet man diese eschatologische Verweisung leider nur als eine, die vorangehende schöpfungsethische Darlegung weiter nicht strukturierende, Schlussbemerkung. Dazu Rinse Reeling Brouwer, ‘Barth over man en vrouw. Deze leer kan niet’, in: Opstand 7(1980)2, 18-24.
[66] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 578; vgl. Willem Maarten Dekker, Dit broze bestaan. Over het geloof in God de Schepper, Utrecht: Boekencentrum 2017, 183-200.
[67] KD III/1, 238f.
[68] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 577.
[69] Mårten Björk, Life outside life. The Politics of Immortality, 1914-1945, Göteborgs universitet 2018.
[70] K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Vorlesungen 1959-1961 (GA II), Zürich: TVZ 1976, 432-34. Siehe auch Rinse Reeling Brouwer, ‚Und seines Königreiches wird kein Ende sein. Ein klassischer Widerspruch: Lukas 1:33 oder 1 Korinther 15:28?‘, in: Unless some one guide me… Festschrift für Karel A. Deurloo, ACEBT SS 2 (2001), 293-301.
[71] K. Barth, Vorträge 1914-1921 (Anm. 1), 597.