Rinse Reeling Brouwer, Amsterdam
Symposium Karl Barth als Theologiegeschichtler, Siegen, 22.-24. September 2022
Karl Barth und die altprotestantische Orthodoxie
Eine Vorbemerkung: Die Terminologie dessen, was hier ‚die altprotestantische Orthodoxie‘ genannt wird, ist nicht festgelegt. Ernst Troeltsch hat vom ‚Altprotestantismus‘ geredet, der um 1700 sein Ende gefunden habe. Im angelsächsischen Bereich ist von der Post-Reformation Orthodoxy / Theology / Dogmatics die Rede, und Barth konnte von der ‚reformierten Orthodoxie‘ reden,[1] die dann einschließlich der lutherischen Theologen ‚protestantische Orthodoxie‘ heißen kann. Der Zeitraum können wir ungefähr von 1560 (die Zeit des Todes Melanchthons und der letzten Fassung von Calvins Institutio) bis 1710 (nachdem die letzten Vertreter der Orthodoxie wie Mastricht [1699] und Vitringa [1690-1693] ihre Hauptwerke publiziert hatten und nur noch Wiederholungen folgten, wie etwa bei Berhardinus de Moor) abstecken.
- Keine ‚Geschichte der protestantischen Theologie im 17. Jahrhundert‘
Karl Barth hat leider niemals Vorlesungen zur ‚Geschichte der protestantischen Theologie im 17. Jahrhundert‘ gehalten, wie er solche zur Theologie einiger Reformatoren (Calvin im Sommersemester 1922,[2] Zwingli im Wintersemester 1922/1923,[3] gehalten in Göttingen) und zur ‚Geschichte der protestantischen Theologie seit Schleiermacher‘ (SS 1926; WS 1929/1930, mit einer bei Lessing anfangenden Einleitung;[4] beide Reihen gehalten in Münster), sowie die Geschichte im 19. Jahrhundert mit ihrer ‚Vorgeschichte‘ im 18. Jahrhundert (WS 1932/1933 und SS 1933; gehalten in Bonn) gehalten hat.[5] Wir sind deshalb darauf angewiesen, wie er in den zahllosen Exkursen in der Kirchlichen Dogmatik, die Stimmen der altprotestantischen Theologen in der Entwicklung seiner Gedanken mitreden lässt, einmal, indem er zeigt, aus welchen Quellen er diese Stimmen anführt, und zweitens (was manchmal auch in kleinen Zwischenbemerkungen zu sehen ist), als in welcher Beziehungen, Genealogien und wechselseitigen Debatten bezogen er diese Stimmen einschätzt. Vor allem diejenigen Exkurse, in welchen er eine Begriffsgeschichte zu rekonstruieren versucht, sind nebenbei dann auch als erhellend für Barths Erkenntnisse und Einsichten als Theologiegeschichtler zu studieren, wie die Exkurse zum Begriff der Religion in KD I/2[6] und zum Naturgesetz als Rahmen der Sündenerkenntnis in KD IV/1.[7] Aber auch dann sind solche Mitteilungen auf der rein historischen Ebene Beifang – z.B. dass Walaeus ein ‚holländischer [muss sein: flämischer] Schüler des Polanus‘ war[8] –, und sind Bezugnahmen auf Sekundärliteratur – wie die auf die Studie von Stolzenburg zu Buddeus und Pfaff[9] – Ausnahmen.
Wie eine Verantwortung hätte aussehen können, kann man sich überaschenderweise gerade an der ersten Vorlesungsreihe zur Theologie Calvins klar machen. Für die eigene Rekonstruktion des Lebens und Wirkens Calvins zwischen ungefähr 1534 und 1541 stützt Barth sich auf eine angemessene eigene Auswahl aus den 59 Bänden der Calvini Opera, die zwischen 1863 und 1900 in Straßburg erschienen sind (und die er sich zu Göttingen als Schweizer in Inflationszeiten billig erworben hatte).[10] Dazu fängt er jeden der drei Abschnitten (des ersten und als einzigen jedenfalls teilweise geschriebenen Kapitels) mit einer Übersicht und dann teilweise auch einer Würdigung der diesbezüglichen Literatur an.[11] Zu den Beschreibungen des Lebens Calvins sagt er: ‚Ich vermisse eine Darstellung, die mit der gründlichen Kenntnis Calvins, wie sie Doumergue [7 Bde., 1899-1927] besitzt, die ehrfürchtige Liebe etwa Staehelins [2 Bde., 1863] und den kritischen [altkatholischen] Blick Kampfschultes [2 Bde., 1866 u. 1899] verbinden, die die historischen und prinzipiellen Zusammenhänge der Reformation so tief verstehen würde, um ihnen auch ganz überlegen gegenüber zu stehen. Aber das ist eine Vereinigung von Qualitäten, die vielleicht über Menschenmaß geht…‘.[12] Ein ähnliches Desiderat würde er zweifellos mutatis mutandis auch der Theologie der Folgezeit gegenüber formuliert haben können.
*In der Liste der biographischen Arbeiten fehlt noch die Arbeit von Paul Wernle, die ein ständiger Gesprächspartner während der Vorlesung bildet; seine Studie ist auch eher als ein Glaubensbuch gemeint und weniger eine Biographie Calvins.[13] Glaube aber steht für Wernle in Widerspruch zur Theologie, wie er im Vorwort des Buches zum Ausdruck bringt: ‚Es war nicht ganz leicht, die Institutio Calvins so zu bearbeiten, dass das Lebendige darin, der reformatorische Glaube, aus der ungeheuren theologischen Stoffmasse herausspringt. Calvin selbst hat, je älter er wurde, desto mehr seinen Glauben eingekapselt in einem immer vollständigeren System der biblischen Theologie. Ihn daraus wieder herauszuholen, war meine Hauptarbeit.‘[14] Von den 407 Seiten des Buches (nach der Erörterung der ‚christlichen Elementarwahrheiten‘ von der Edition 1536, ‚die paulinischen Zentraldogmen‘ von 1539, und ‚das biblische und altkatholische Kirchenrecht‘ von 1543), enthält der vierte Teil, unter dem Titel ‚das fertige theologische System von 1559‘, dann auch nur 17 Seiten![15] Karl Barth hat hier von ‚Heldenverehrung‘,[16] in den Spuren von Th. Carlyle,[17] gesprochen.
*Von den Niederlanden her will ich noch hinzufügen, dass die Calvinvorlesung Barths eine andere Assoziation bei mir hochkommen ließ, nämlich eine mit der Arbeit von Allard Pierson. Pierson war ein ehemaliger liberaler Pfarrer, der sich nach dem Niederlegen seines Amtes als Kulturwissenschaftler auch immer noch der Forschung der Religion, und namentlich der extremistischen religiösen Persönlichkeiten wie Hildebrand / Gregor VII und Calvin zugewandt hat. Auch er hatte das Erscheinen der Calvini Opera gewissenhaft verfolgt und vor allem der zweite Teil seiner Studien over Johannes Kalvijn aus 1883, den Jahren 1536-1541 gewidmet, zeigt vom Inhaltverzeichnis her eine auffallende Ähnlichkeit mit dem der späteren Vorlesungen Barths auf.[18] Nur dass er keine theologische, sondern gerade eine demaskierende und entmythologisierende Lesung Calvins versuchte.
Als Barth dann im SS 1924 mit seinen Dogmatik-Vorlesungen unter dem Titel Unterricht in der christlichen Religion anfing, hat er seinen Vorlesungen keine der Calvinvorlesungen ähnliche Aufzählung der Quellen zugrunde gelegt. Den Studenten wird für die Orthodoxe Dogmatik neben Schmid[19] auch Von Hase[20] für die lutherische, und neben Heppe[21] auch [Alexander] Schweizer[22] für die Reformierte Kirche empfohlen.[23] Dass die meisten Zitate der altprotestantischen Dogmatiker dennoch – vor allem zur göttlichen Trinität in §5 (7 bzw. 11 Zitate) und zur Menschwerdung Gottes in §6 (5 bzw. 18 Zitate) – Schmid und Heppe entnommen sind, sagt er selten dazu. Auch wenn Heppe und Schmid im WS 1924-1925 und im SS 1925 unverkennbar dominant geworden sind (um im WS 1925-1926 in Münster zur Eschatologie wieder zurückzutreten), wird das nicht von ihm expliziert.[24] Dennoch wird die im ‚Zum Geleit‘ zur Neuausgabe Heppes (1935) hinterher beschriebene eigene Verwunderung und Gelehrigkeit beim Studieren von Heppe eher untergründig kommuniziert worden sein. Bruce McCormack hat die Göttinger Dogmatik als einen Sentenzen-Kommentar bezeichnet, und dieser Bezeichnung schließe ich mich gerne an.[25] Barth hatte mit dem Römerbrief (vor allem in der zweiten Fassung) sehr klar sein eigenes theologisches Anliegen gezeigt, aber jetzt kam es darauf an, dieses auch mit den technischen Mitteln der ‚kirchlichen Wissenschaft‘ und im Gespräch mit der katholischen Tradition (die sich bei Heppe gerade in ihrer reformierten Gestalt zeigte) zu verantworten, zu korrigieren und weiter zu führen. Erst danach war er dazu frei, einen eigenen dogmatischen Entwurf vorzulegen.
2. ‚Nicht bei Heppe stehen bleiben, sondern den schwierigeren Weg zu den Quellen gehen‘
Im schon genannten ‚Zum Geleit‘ zur Neuausgabe Heppes wird Barth sagen: ‚selbstverständlich kann man, um die Orthodoxie kennenzulernen, wie bei Schmid so auch bei Heppe nicht stehen bleiben, sondern wird den schwierigeren Weg zu den Quellen suchen und gehen müssen, in denen alles oft genug noch einmal ein ganz anderes Gesicht bekommt, als die von Heppe gebotenen Exzerpte es vermuten lassen‘.[26] Diesen ‚schwierigeren Weg‘ war Barth inzwischen schon lange selbst gegangen. Gemeinsam mit Peter Zocher habe ich im Karl Barth-Archiv seine Privatsammlung rekonstruiert und jedes Mal erworbene Edition, konfessionelle Identität, Jahreszahl des Erwerbens und Anzahl der Verweise in der Kirchlichen Dogmatik notiert.[27] Es handelt sich um 37 Herausgaben, manchmal noch mit einigen anderen Titeln desselben Autoren neben seinem dogmatischen Hauptwerk ergänzt. Barths Privatsammlung lässt sich gut mit den von Heppe benützten Quellen vergleichen. Beide enthalten Folianten mit schweizerischen, deutschen und niederländischen Entwürfen, wobei die in Frankreich lehrenden und die britischen reformierten Theologen eher fehlen.[28] Einigen Beispielen, wie Barth den ‚schwierigeren Weg‘ zu einem mehr nuancierten und pluriformen Bild der Orthodoxie geht, werden wir unten begegnen.
Bei der Vorbereitung seiner dogmatischen Vorlesungen, die in die Kirchlichen Dogmatik ihren Niederschlag fanden, konsultierte Barth immer wieder seine persönliche Sammlung der alten Zeugen. Im Barth Archiv ist zu finden, wie er mit Bleistift Anstreichungen in den alten Büchern machte. Charlotte von Kirschbaum sammelte danach die angestrichenen Zitate in einer Kartei, so dass Barth die richtigen Stellen beieinander fand, wenn er einen Exkurs schreiben wollte. So viel ist mir klar: Das Preisgericht, das ungefähr im Jahr 2000 meinte, Karl Barth nicht als den ‚größten Theologen des vorangehenden Jahrhunderts‘ benennen zu können, weil er seine Studenten die Exkurse im Petit hätte schreiben lassen, hat einen falschen Grund angeführt, abgesehen davon, dass die Exkurse Barths zu gewagte Interpretationen der Quellentexte bieten, um von unerfahrenen Theolog(inn)en aufgeschrieben zu werden.
Aber man kann wohl sagen: Seit den zwanziger Jahren hat Barth bei seinen Studenten ein bemerkenswertes Interesse für Heppe und die reformierte Orthodoxie erweckt. In seinem Umfeld hat Barth außerdem Hilfe bekommen von seinem älteren Kollegen Wilhelm Goeters (der ihm auch einige Bücher geschenkt hat) und vom jüngeren Pfarrer Ernst Bizer, der in Barths Bonner Jahren Heppes Zitate überprüft hat, 1935 auch eine neue Herausgabe des Christianae Theologiae Compendium von Johannes Wolleb aus dem Jahre 1626 (eine gedrängte Wiedergabe der Theologie des Polanus) besorgt hat – von Barth in drei Semestern mit den Studenten in der Sozietät studiert –, und 1958 bei einer dritten Auflage des Lehrbuchs von Heppe eine ‚historische Einleitung‘ verfasste, wo er alle angeführten Zeugen in ihrem historischen Zusammenhang vorstellt.[29]
Von der Arbeit seiner sonstigen Zeitgenossen, die sich mit dem Altprotestantismus beschäftigten, scheint Barth nicht sehr intensiv Kenntnis genommen zu haben. Im Exkurs zur ‚Analytischen Methode‘ in der Dogmatik (KD I/2, 973) vermisst man z.B. eine Referenz zu Paul Althaus und Otto Ritschl.[30] Dazu distanziert er sich – diesmal zu Recht – von der Tendenz, auch noch im 20. Jahrhundert (O. Ritschl,[31] Werner Elert) die Gegensätze der lutherischen und der reformierten Kirchen auf dem gemeinsamen Nenner der unterschiedenen ‚Zentraldogmen‘ zu bringen, wie A. Schweizer oder M. Scheckenburger das im 19. Jahrhundert gemacht haben (KD I/2, 935). Die Arbeit seines Bonner Kollegen und auch Bruder in der Bekennenden Kirche, Hans-Emil Weber, hat er wahrscheinlich aus demselben Grund liegen lassen.[32] Und die Bücher von Carl Heinz Ratschow, der sich im starken Maße von H. Schmid distanziert, erschienen wohl zu spät, um von ihm noch bedacht zu werden.[33] Die von Barth wohl aufgenommene Sekundärliteratur werden wir unten in einigen Beispielen näher besprechen.
3. ‚Gewiß hat Heppe seine bemerkenswerten Schwächen‘
In seinem ‚Zum Geleit‘ befürwortet Barth Heppe als ein ‚zuverlässigerer Führer als das [damals] bekanntere Werk von Alexander Schweizer (Die Glaubenslehre der ev.-ref. Kirche, [Zürich] 1844 [und 1847]).‘ Sein Grund dazu ist, dass ‚er [Heppe] – systematisch ungleich weniger begabt, interessiert und belastet als dieser – jedenfalls von dessen Tendenz, überall die Prädestination zu wittern und geltend zu machen und alle Wege bei Schleiermacher endigen zu lassen, frei ist.‘[34] Inzwischen ist es in der neueren, seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgeblühten Forschung zur reformierten Scholastik üblich geworden, auch Heppe in denselben Topf der Anhänger der Theorie der Zentraldogmen zu werfen. Es wundert mich, dass diejenigen Theologiehistoriker die – oft mit einem Appell im Blick auf die ideengeschichtlichen Auffassungen von Quentin Skinner[35] – für ein hauptsächliches Verstehen der Quellen in ihrem ursprünglichen Kontext plädieren (also für eine historische Kritik, sei es oft mit wenig hermeneutisches Bewusstsein vollzogen), dasselbe Verstehen aber viel weniger für die theologischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Jedenfalls ist das Schreckensbild immer wieder die tabula praedestinationis von Theodore de Bèze, die von Heppe im Locus De decretis Dei zur Illustration einer supralapsaristischen Grundanschauung aufgenommen ist.[36] Richard A. Muller hat überzeugend angeführt, dass es sich hier keineswegs um einen die ganze Dogmatik beherrschenden Schematismus handelt, sondern um eine konkrete Intervention im Kontext der Debatte um Bolsec.[37] Aber schon Karl Barth hat gesagt: ‚Nicht einmal das berüchtigte Schema‘ ist als ein Fundamentalsatz gemeint gewesen: ‚auch es wollte vielmehr nur (richtig oder unrichtig) den systematischen Zusammenhang aller anderen Dogmen mit dem von der Prädestination in der damals beliebten graphischen Weise aufzeigen, keineswegs aber dieses zum Ableitungsprinzip für alle übrigen machen‘.[38] Nichtsdestoweniger kann man wohl sagen, dass Heppe, obwohl er selbst dem Supralapsarismus keineswegs den Vorzug geben will, in seiner Ordnung der Loci doch den Eindruck einer deterministischen Ableitung des Ganzen erweckt. Das führt uns zu den von Barth wahrgenommen Schwächen Heppes
3.1. Kein Quellenbuch nach modernen Ansprüchen
‚Gewiss hat Heppe seine bemerkenswerten Schwächen.‘ Als erste Schwäche nennt Barth: ‚Ein Quellenbuch nach modernen Ansprüchen und Gesichtspunkten ist er nicht‘. Welches die Kriterien für ein solches Buch sein sollten und welche Beispiele eines solchen Buches er im Kopf hat, sagt Barth dabei nicht. Von meinen Erfahrungen mit Heppe her würde ich mindestens zwei Beobachtungen nennen. Erstens erwähnt Heppe zwar Meinungsverschiedenheiten zwischen den orthodoxen Theologen, aber die ‚Belegstellen‘ aus ihren Werken sind dennoch von ihm aufgestellt, ohne eine Einsicht in der Entwicklung der Debatten und deren Perspektivwechsel innerhalb der 150 Jahren dieser theologischen Tradition zu bieten. Zum Begriff des Bundes ist z.B. eine fortgehende theologisch-exegetische Entwicklungslinie zu skizzieren, aber davon erfährt man nichts.[39] Zweitens hat Heppe die Kette der Loci in einem – m.E. vor allem von J.H. Heideggers Medulla Theologiae Christianae (1696) übernommenen[40] – Ordnung festgelegt, ohne die in den Quellen vorliegenden Alternativen zu skizzieren. Das führt dazu, dass öfters mehrere Zitate beieinander gesetzt sind, die aber jede für sich in einem beträchtlich unterschiedlichen Kontext situiert sind. Barth hat das in seiner Betrachtung zur ‚Stelle der Erwählungslehre in der Dogmatik‘ (KD II/2, §32.3, 82-100) bemerkt, wo er mindestens sechs in der Tradition gebotenen Möglichkeiten erörtert. Für heute kann die Post-Reformation Reformed Dogmatics von Richard A. Muller am besten als Textbuch fungieren, jedenfalls für die Forschung.[41] Für den Unterricht bin ich weniger sicher. Im Jahr 1974 hat der Utrechter Dogmatiker J.M. Hasselaar die Erfahrungen seiner Lektüren Heppes anhand vieler Seminaren schriftlich dokumentiert.[42] Ob das heute so noch gemacht werden kann, kann man bezweifeln.
3.2 ‚Nach ihm müsste Melanchthon der Vater der reformierten Theologie gewesen sein‘
Die zweite Schwäche: ‚Zu Heppes historischer Sicht ist zu bemerken, dass nach ihm wunderlicherweise genaugenommen nicht Calvin, sondern der späteren Melanchthon der Vater der reformierten Theologie gewesen sein müsste.‘ Die Herausgeber des ‚Zum Geleit‘ in der Karl Barth Gesamtausgabe bieten in einer Anmerkung eine lehrreiche Wiedergabe der Sicht Heppes: die gesamte altprotestantische Kirche in Deutschland sei ursprünglich unter dem Einfluss Melanchthons unionistisch ausgerichtet gewesen; nur die deutsch-reformierten Landeskirchen hätten aber diesen Charakter beibehalten. Im Lehrbuch Heppes sind Spuren dieser Sicht nachzuweisen.[43] Barth ist mit dieser deutsch-reformierten Eigenart gut vertraut, wie man in seiner Beschreibung des Auftretens von Matthias Martini und anderen Bremer – nicht aber der Pfälzer – Theologen auf der Synode zu Dordrecht sehen kann (KD II/2,73f.; vgl. 122). Dennoch ist mit dieser Sondertradition noch nicht behauptet, dass Melanchthons Loci in ihrer letzten aetas (1543-1559) die reformierte Dogmatik mehr beeinflusst hat als die calvinische Institutio in ihrer letzten Gestalt von 1559. Eine Ordnung in Loci als solche kann den Unterschied nicht markieren, denn auch die Institutio 1559 ist, trotz ihrer trinitarischen Einteilung, doch eine Loci-Dogmatik geblieben.[44] Auch kann man nicht sagen, dass der Aristotelismus Melanchthons richtungweisend gewesen ist. Dazu war dieser für richtigen Metaphysiker zu verflacht. Eher war es der in der thomistischen sowie der scotistischen Scholastik ausgebildete Girolamo Zanchi, der die damaligen Normen einer wissenschaftlichen Argumentation in die reformierte Theologie eingeführt hat. Die neuen Erfordernisse des Wissenschaftsbetriebs im konfessionellen Zeitalter haben die Sprache und die Tonalität der Institutio offenbar obsolet gemacht.[45] Das heißt aber nicht, dass Calvin vergessen wurde, sicher nicht in den Niederlanden.[46] Implizit ist die Erinnerung seiner Texte auf vielen Seiten der vielen Compendia, Syntagmae, Systemae, Summae usw. des neuen Jahrhunderts bleibend anwesend.[47]
3.3 ‚Der Einbruch der Föderaltheologie scheint ihm kein tieferes Problem zu bedeuten‘
Die dritte Schwäche: ‚Dem Geist des 19. Jahrhunderts hat er wohl darin seinen Tribut gezollt, dass ihm der Einbruch der mit dem Kartesianismus verkündeten[48] Föderaltheologie des Cocceius und seiner Schüler in die Linie der älteren Darsteller des reformierten Dogmas kein tieferes Problem zu bedeuten scheint.‘ Das Verhältnis Barths zur Föderaltheologie (und dessen unterschiedlichen Stadien) ist eine sehr komplizierte Sache, zu welcher ausführlichen Darlegung ich auf das dritte Kapitel meines Buches verweisen muss.[49]
In den Weihnachtsferien 1922/1923 las Barth das Buch Gottlob Schrenks zu dieser Föderaltheologie, der er schon vorher misstrauisch gegenüber stand.[50] Er erfuhr bei seiner Lektüre den von Schrenk artikulierten Kontrast der statischen, renaissancistischen Loci-Theologie zur neuen Beweglichkeit des Barocks, in der die biblische Erzählung eher zu ihrem Recht kommt.[51] Aber er wurde zugleich auch in seiner Vermutung bestätigt, dass hier die Samen des modernen (zunächst: frommen) Historizismus ausgestreut waren. Kurz danach sagte er deshalb von Johannes Coccejus: ‚ich bin nun endgültig überzeugt, dass er ein großer Mann, aber auch ein großer Leimsieder gewesen ist, der an der modernen Deroute des Christentums wesentlich mitschuld ist.[52] Bei Heppe ist der Ertrag der föderaltheologischen Entwicklung – wobei zu bemerken ist, dass nicht alle Föderaltheologen auch Coccejaner waren – in den Titeln von vier seiner Loci zu finden.[53] In der Göttinger Dogmatik orientiert Barth sich in §24, ‚Gott und Mensch im Bunde‘ auf den Locus zum paradiesischen Bund und in §27, ‚Die Treue Gottes‘ auf den zum Gnadenbund. Sein eigener Ausgangspunkt lautet: ‚es gibt ja re vera nur ein Bund, wie es auch nur ein Gott ist.‘[54] Dennoch hat eine Distinktion zwischen einem foedus gratiae und einem foedus naturae Sinn, wenn man es so versteht, dass die Natur, rückwärts von der Gnade her, mit in den Blick kommt. Ohnehin falsch ist die Vorstellung eines foedus operum: ‚solcher Pelagianismus war nicht einmal für den homo paradisiacus eine empfehlenswerte Möglichkeit‘.[55] Im Paragraphen zum Gnadenbund liest er bei Heppe, wie dieser Bund zwischen Gott und den erwählten Sündern eine Ausführung in der Zeit eines ewiges, freien pactum zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn ist. Und nachdem er in seiner Lehre von Gott betont hat, dass die Prädestination deren Höhepunkt enthält, wie die Lehre vom Menschen ihren Höhepunkt in der Lehre vom Bund findet,[56] kann er jetzt die Linien zueinander führen: „In Christus vollzieht sich (…) die Gnadenwahl in genauer Analogie zu dem, was hier als das pactum mutuum inter patrem et filium beschrieben wird; also ist das ewige Dekret des Heils über die Gläubigen gar nichts Anderes als eben jenes aus diesem Ereignis in Gott sich ergebende testamentum aeternum, dieses nichts Anderes als jenes, das heißt aber: der in der Zeit sich abspielende foedus gratiae ist nichts Anderes als die Ausführung des in der Ewigkeit gefassten Prädestinationsdekrets.‘[57] ‚Nicht-anders-als‘-Sätze sind immer gefährlich. Nichtsdestoweniger hat Barth seinen Fund aus 1925 in der späteren Erwählungslehre wiederholt. Auch dort behauptet er, dass Coccejus ‚wieder zusammengesehen und zusammengefügt hat, was man im Aufmerken auf die Bibel niemals hätte trennen dürfen: die ewige göttliche Gnadenwahl und den ewigen göttlichen Heilsratschluss.‘[58] Leider ist in der späteren Forschung (wie beim Experten Willem van Asselt) herausgekommen, dass diese Lesung des Coccejus nicht haltbar ist.[59] Coccejus unterscheidet sehr klar zwischen dem consilium gratiae et irae, in der nur Gott der Vater bei sich selber vorher beschlossen hat, welche Individuen aus dem gefallenen menschlichen Geschlecht die Erwählten und welche die Verworfenen sein werden, und dem pactum salutis oder consilium pacis (Sach. 6, 13), in welchem der ewige Sohn dem Vater verspricht, das Werk der Barmherzigkeit zu erfüllen, und der Vater ihm dazu die Erben seines Mittleramtes, das sind die schon vorher zum Heil Erwählten, zu schenken verspricht. Nur in diesem Rat des Friedens kann der Sohn ut eligente, als selbst der Erwählende auftreten – ein Ausdruck, dem Barth also zu viel wert zuerkannt hat.[60] Die Erneuerung in der reformierten Theologie, nämlich der Identifikation des Rates des Friedens und der Gnadenwahl, war wirklich ein von Barth selbständig vollzogener Schritt, aber das Missverständnis in der Lesung des Coccejus hat sich dabei als ein produktives Missverständnis erwiesen!
Ausführlich kommt die Föderaltheologie in der Kirchlichen Dogmatik zurück in einem Exkurs am Ende des Paragraphen 57.2, ‚Der Bund als Voraussetzung der Versöhnung‘.[61] Schrenk ist hier noch immer sein wichtigster Gewährsmann, wobei er über die Monographie des Coccejus zur Frage, Summa Doctrinae de foedere et testamento Dei (1648), selbst nicht zu verfügen scheint. Unter dem dritten der fünf Punkte des Exkurses treffen wir eine Skizze der Lehre der abrogationes des Werkbundes, die sich in fünf Stufen vollzieht. Hier begegnet Barth als zweiter Stufe wiederum die Figur des ewigen pactum salutis, dass er, weil es sich nach Coccejus gerade in der Ewigkeit vollzieht, als ein heilsames Aufhalten des horizontalen Historizismus rezipiert. Auch die Kategorie der ‚Abschaffung‘, obwohl sie den abzuschaffenden Werkbund gerade in der Negation hochzuhalten scheint, bekommt bei Barth eine auffallende Interpretation: er liest sie als ein entscheidendes Nein! gegen die Werkgerechtigkeit, also als ein Festhalten an der reformatorischen Lehre der Rechtfertigung, wo diese immer mehr gefährdet ist. In dieser Interpretation ist ihm nur selten gefolgt worden.[62] Es ist wohl interessant, dass Zeitgenossen und vor allem jüngere Nachfolger des Coccejus die ganze Lehre der abrogationes oft haben fallen lassen. Das hat damit zu tun, dass für sie der foedus naturae oder foedus operum doch der eigentliche Grund und das eigentliche Modell bieten, woran alle Bünde, auch der intertrinitarische und auch der göttliche Gnadenbund mit den erwählten Sündern, gemessen werden sollen.[63] Barths Vermutung einer Unzeitgemäßheit des Coccejus kann dadurch noch verstärkt werden.
Wohl eher zeitgemäß war Coccejus nach Barth in dieser Hinsicht, dass er sich das pactum salutis in der Gestalt einer Übereinkunft zweier (göttlicher) sich gegenseitig verpflichtender Rechtssubjekte vorgestellt hat. Wie Abraham Kuyper vor ihm hält Barth das für eine Verkehrung der Trinitätslehre in eine Mythologie (fünfter Punkt).[64] Zwar hat Van Asselt auch hier eine Beschwerde gegen die Barthsche Lesung eingereicht, weil Coccejus seines Erachtens vielmehr richtig trinitarisch gedacht habe: der Heilige Geist hat die göttliche Macht, in den Erwählten das Ergebnis des Paktes zwischen dem Vater und dem Sohn wirksam zu machen und die Erbschaft der Liebe in ihnen zu versiegeln.[65] Nach ihm hat der Bund also weniger eine juristische Gestalt als eine der amicitia, der Freundschaft.[66] Ich denke nicht, dass diese Linie des Coccejus mit der trinitarischen Auffassungen Barths vereinbar gewesen wäre, aber ich denke doch, dass seiner Vermutung, dass hier in Rechtssubjekten gedacht wird, nicht eindeutig zuzustimmen ist. Offenbar kann man die Föderaltheologie in zwei Richtungen weiterdenken. Man kann sie einerseits als allzu ‚zeitgemäß‘, und zwar der sich schon im 17. Jahrhundert ankündigenden gesellschaftlich-politischen Theorie der Aufklärung allzu ähnlich, sehen. Auch Barths Bemerkung, in ‚Zum Geleit‘, dass die Föderaltheologie ‚mit dem Kartesianismus verbündet‘ war, weist in diese Richtung. Die Bemerkung ist zwar für einige Theologen sicher richtig (u.a. Heidanus, Burmannus und Braunius sind des Kartesianismus verdächtigt worden). Und das ist auch verständlich: obwohl der göttliche Bund mit den Menschen monopleurisch anfängt – ‚eine Art Versailler Vertrag im Guten‘, hat Barth 1925 bemerkt[67] –, neigt sie doch zu einer eigenen Rolle des menschlichen Partners, wie diese sich im Kartesianismus zum Zentrum des Denkens macht. Diese wichtige Kategorie des Bundes hat Barth aber, trotz seiner anfänglichen Abneigung, immer mehr übernommen; ja, wenn es ein Zentraldogma in der Kirchlichen Dogmatik gäbe, könnte es gerade das reformierte Dogma des Bundes sein.[68] Im Karl Barth Archiv befindet sich ein Buch von Charles S. McCoy, offenbar vom Autor Barth geschenkt,[69] der sich später dafür engagiert hat, eine Konzeption des Bundes als eine Alternative zu juristischen gesellschaftlichen Theorien der Modernität zu entwickeln.[70] Eine solche Alternative hat Barth nicht beabsichtigt, aber die Kirchliche Dogmatik liefert wahrscheinlich mehr Anstöße dazu als der Exkurs zur Föderaltheologie es vermuten lässt.
3.4. ‚Aber wie konnte die reformierte Orthodoxie so „vernünftig“ werden?‘
Nochmals ‚Zum Geleit‘: ‚[Weil ihm der Einbruch der Föderaltheologie … kein tieferes Problem zu bedeuten scheint,] fragt man sich vergeblich, wie es kam, dass nun auch und gerade die reformierte Orthodoxie im 18. Jahrhundert so merkwürdig schmerzlos „vernünftig“, d.h. pietistisch-rationalistisch werden konnte.‘[71] Im vierten Paragraphen seiner Vorlesungen in WS 1932/1933, ‚Die protestantische Theologie im 18. Jahrhundert‘, skizziert Barth zunächst einen Theologen, der beharrlich an der alten Orthodoxie festhält: Valentin Ernst Löscher (1673-1749) in Wittenberg. Sodann stellt er zwei Theologen vor, die sich zwar konservativ und äußerlich noch immer orthodox verhalten, dennoch ihren Schwerpunkt schon beim frommen Menschen mit seinen eigenen Erkenntnismöglichkeiten und seinem inneren Werk der Bekehrung legen: Joh. Franz Buddeus (1660-1727) in Jena und Christoph Matthias Pfaff (1686-1760) in Tübingen und Gießen. Und darauf folgt das Schweizer Triumvirat: Samuel Werenfels (1657-1740) in Basel, Jean Frédéric Osterwald (1663-1747) in Neuenburg und Jean Alphonse Turrettini (1671-1737) in Genf.[72] In den nächsten Jahren, den Jahren des anfangenden Dritten Reiches, wird Barth mehrmals auf diese Gruppe, die oft als die Strömung der ‚Vernünfigen Orthodoxie‘ charakterisiert wird, zurückkommen. So sagt er im Vortrag ‚Das erste Gebot als theologisches Axiom‘, Kopenhagen 10. März 1933: ‚Die neuere protestantische Theologie, die Theologie seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert …, meinte besser als jede frühere Theologie zu wissen, dass es doch wirklich recht schwer sei, der Philosophie, der Geschichts- und Naturwissenschaft und so vielen anderen Errungenschaften der modernen Welt gegenüber mit Gott und seinem Wort in jedem engen exklusiven Sinne des Begriffs so ganz allein zu stehen. Und sie meinte … rings um sie her Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Wahrheiten und Wirklichkeiten, „Anliegen“ und Bedürfnisse entdeckt zu haben, so beachtlich, so wichtig, so ernst, dass sie sich ihnen nicht entziehen, dass sie ihnen ihr Herz schenken, dass sie sie faktisch als zweite, dritte, vierte Offenbarung neben der ersten anerkennen zu müssen meinte‘.[73] In ‚Abschied‘ (von Zwischen den Zeiten), geschrieben in Oktober 1933: ‚Es kam dazu, dass ich … Emil Brunner eine Theologie treiben sah, die ich immer mehr nur noch als eine unter neuen Fahnen vollzogene Rückkehr zu den … Fleischtöpfen des Landes Ägypten, nämlich zu dem neuprotestantischen bzw. katholischen Schema „Vernunft und Offenbarung“, wie es im Protestantismus zum ersten Mal von der sogenannten „vernünftigen Orthodoxie an der Wende vom 17. zum 18, Jahrhundert offen proklamiert worden ist, beurteilen konnte.‘[74] Und in der Streitschrift gegen Brunner selbst schreibt er, Oktober 1934: Er ‚hat aus Calvin so etwas wie einen Jean Alphonse Turrettini gemacht‘.[75] In den dogmatischen Vorlesungen im WS 1933/1934 heißt es dann gleich am Anfang, dass die Umkehrung des Verhältnisses zwischen der Wirklichkeit der Offenbarung und ihrer Möglichkeitsbedingungen in der ‚vernünftigen Orthodoxie‘ zur ‚prinzipiellen Voraussetzung‘ geworden ist,[76] und in WS 1933/1934 wird im Exkurs zur Begriffsgeschichte der ‚Religion‘ in der Theologie an Buddeus und dem Coccejaner sowie Cartesianer Salomon van Til (1643-1713) gezeigt, wie bei ihnen die natürliche Religion zum Maßstab des Offenbarungsverständnisses wird. [77]
Nach seinem Umzug in die Schweiz hat Barth schließlich am 6. Mai 1936 seine – etwas verspätete und nicht ohne Zwinkern zur ‚wahrscheinlich ebenfalls chthonisch bedingten esoterischen Tradition des Basler Geistes‘ gemeinten[78] – Antrittsvorlesung zu ‚Samuel Werenfels und die Theologie seiner Zeit‘ gehalten. Dazu hat er eine Menge Arbeit verrichtet. Aus der dreibändigen Ausgabe der Opuscula hat er, wie man es aus der bei ihm ungewohnten Zahl der Anmerkungen schließen kann, jedenfalls 26 Texte wirklich studiert und verarbeitet.[79] Als Literatur zu Werenfels verweist er auf drei Texte von Eberhard Visscher, und weiter auf W. Gaß 1862, P. Wernle 1923, K.R. Hagenbach 1839 und E. Bloesch 1899.[80]
Barth fängt den Vortrag an mit der Erzählung, wie Werenfels mit einer performativen Theologie einem neu vereideten Antistes und zugleich Professor mit einer Führung entlang verschiedener zum Amt gehöriger Objekte seine Auffassungen unverkennbar klar vorführt (GA III/2021, 403-408).[81] Dann liefert er eine kurze Übersicht der – von Ernst Troeltsch und Karl Aner übergangenen[82] – Strömung der vernünftigen Orthodoxie als eine ‚Übergangstheologie‘, wie sie später auch in der Geschichte der protestantischen Theologie zu lesen ist (408-410). Wichtig ist dann seine Auffassung, gegen Wernle behauptet, dass es sich hier nicht um eine einfache Verlängerung der Orthodoxie handelt. Ebenso wenig steht sie mit dem Pietismus zusammen der Aufklärung gegenüber, denn eher zeigen die Aufklärung und der Pietismus gemeinsam mit ihr etwas vom Neuen auf[83] – und es ist dann auch nicht zufällig, dass Werenfels sich mit vielen Berühmtheiten aus vielen Ecken der damaligen kulturellen Landschaft, wie Voltaire, Friedrich Wilhelm I und Zinzendorf, unterhalten konnte. Die Strömung rechnete nämlich mit nichts weniger als mit einer Reformation der ganzen Kirche. Und tatsächlich gilt: ‚ein Altes in der Theologiegeschichte ist hier zu Ende, ein Neues ist hier auf dem Plan getreten, und alles weitere Neue, das seither und bis tief in den Anfang unseres eigenen Jahrhunderts, hinein hinzugekommen ist, ist schließlich … nur die Verlängerung und Wiederholung dessen gewesen, was damals als Neues auf dem Plan getreten ist‘ (413). Das Positive des neuen Programms lautet: ‚souveräne Formung des menschlichen Lebens durch den Willen und die Tat der dazu befähigten Menschen selber‘ (420). Die neue Führung, die vom Bürgertum ausgeht, hat sicherlich damit zu tun. Und der Humanismus im Protestantismus bekommt jetzt nicht nur formal-methodische, sondern auch gerade inhaltliche Züge (423). Die theologische Lehre verliert damit ihren Charakter als doctrina und wird zu einer Theorie der neuen, moralischen Praxis (425ff.). Alles andere führt nach Werenfels nur zur schädlichen Logomachien. Diese neue Sicht fordert konfessionelle Toleranz, Lehrfreiheit der Geistlichen, aber vor allem – und das ist für Barth sehr wichtig, denn an sich vieles versprechend – eine neue biblische Hermeneutik (432-434). Diese Erneuerung zeigt aber zwei Grenzen auf. Erstens (437-440) darf die Bibel nichts aussagen, was absurd, was contrarium rationi wäre. Damit erfährt die Offenbarung eine neue Gebundenheit, nämlich eine Gebundenheit an den Kanon der moralischen Gewissheit. Aber wird den biblischen Texten damit keine Gewalt angetan? Und zweitens (440) kann es nach Werenfels nicht richtig sein, wenn man in der Bibel eine Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein durch den Glauben und nicht durch die Werke gelehrt zu finden meint. ‚Das ist sozusagen die Sünde, deren man sich nach Werenfels als Exeget nicht schuldig machen sollte.‘ In seiner Schrift zur Gnade, die Bekehrung erweckt, rechnet Werenfels selbst damit, dass ein Begehren nach Vergebung ‚das menschliche Mittel zur Erlangung der Gnade‘ ist, ‚an dessen Vorhandensein Gott sich in der Regel halten wird, und an das wir unsererseits … uns halten und also praktisch um unsre Bekehrung und Heiligung uns mühen sollen, als läge sie ganz in unserer Hand‘ (442).[84] Auch hat er in der mit den Thesen zusammenhängenden Abhandlung zur Prädestination,[85] oder eher zur Frage: ob denn etwa die Nicht-Wiedergeborenen untätig auf ihre Berufung und Verstockung zu warten und also ihre Erwählung oder Verwerfung passiv über sich ergehen zu lassen hätten?‘[86], diese Lehre ‚als ein dogma non necessarium erklärt und den Wunsch ausgesprochen, sie möchte, da es ja heutzutage keine Pelagianer mehr gebe, wohl aber unzählige allzu sichere Weltkinder, in der Predigt besser gar nicht mehr berührt werden‘ (a.a.O.). ‚Und Werenfels hat in seinen eigenen Predigten strikte danach gehandelt: sie sind von Anfang bis zu Ende frei von jeder Erinnerung an die Freiheit der göttlichen Gnade als auch an das Gericht des Gesetzes‘. ‚Nichts weniger als alles, was einst den Reformatoren in diesem Zusammenhang wichtig gewesen war, ist ihm ganz unwichtig geworden‘ (443). Auch Barth befürwortet eine neue biblische Hermeneutik. Diese hat aber nicht von den Einsichten der Reformatoren zurück, sondern von den Reformatoren aus vorwärtszugehen (447).
Es ist klar, dass die Bewertung Barths der ‚vernünftigen Orthodoxie‘ stark vom Kirchenkampf, d.h. von der Notwendigkeit, die Ursprünge der Abweichungen, die bei den Deutschen Christen und bei den breiten Strömungen in der Mitte wahrzunehmen waren, aus zu betrachten ist. Man kann auch andere Perspektiven befürworten. Rudolf Boon sah diese Zeit des Übergangs als eine wichtige Erinnerung, zu bedenken, dass das Christentum nicht nur als aufklärungsfeindlich aufzufassen sei.[87] Rudolf Dellsperger hat ihr Interesse für das unionistische Bestreben von lutherischen und reformierten Kirchen betont.[88] Außerdem haben die Herausgeber der Antrittsvorlesung in der Karl Barth Gesamtausgabe uns jetzt überliefert, wie (der von Barth schwer kritisierte) Paul Wernle und auch Eberhard Vischer auf diese reagiert haben. Wernle hat in einer Rezension einen Vergleich zwischen Werenfels und biblischen Stimmen wie die des Jakobus gemacht. Und Vischer hat ein Porträt von Werenfels an Barth zu dessen 50. Geburtstag am 10. Mai 1936 mit einem kurzen ironischen Begleitschreiben geschickt.[89] Meiner Einschätzung nach wird die Barthsche Feststellung, dass die vernünftigen Theologen faktisch viele Einsichten der Reformatoren haben fallen lassen, auch von der liberal-theologischen Literatur geteilt. Sowohl bei Wernle als bei Alexander Schweizer (in diesem Zusammenhang nicht von Barth zitiert) habe ich ähnliche Aussagen gefunden.[90] Viel mehr als bei Coccejus ist hier deshalb nicht die historische Rekonstruktion, sondern die eigene aktuelle theologische Position entscheidend.
4. ‚Die neuprotestantische Schaden Israels bereitete sich schon in jener früheren Zeit vor‘
Neben einer Kritik der ‚Schwächen‘ der Darstellung Heppes aufgrund seines Quellenmaterials benennt Barth im ‚Zum Geleit‘ auch seine eigene Haltung zu den Inhalten dieser Quellen selbst.[91] ‚Bei dem allem nahm ich wohl auch wahr, dass ein Zurückgehen auf diese Orthodoxie (um bei ihr stehen zu bleiben und es ihr gleich zu tun!), darum nicht in Frage kommen könnte, weil der Schaden Israels [Jes. 30,26; Am. 6,6], den ich bis dahin nur in seiner neuprotestantischen Gestalt näher gekannt hatte, schon in jener früheren Zeit sich vorbereitete und anbahnte.‘ Die letzte Aufgabe dieses Beitrages wird darum darin bestehen müssen, die theologiegeschichtliche Richtigkeit dieser Barthschen Einschätzung näher zu prüfen. Barth formuliert seine Beschwerden in einigen mit ‚Allzu…‘ anfangenden Sätze.
4.1 ‚Allzu eng hat sich die Dogmatik mit einer philosophischen Form verbunden‘
‚Allzu eng hat sich ja schon die Dogmatik jener Jahrhunderte mit einer nicht der Sache selbst, sondern den zeitgenössischen Philosophien entnommenen Form verbunden, als dass nicht die Sache selbst im Ganzen und im Einzelnen darunter hätte leiden müssen.‘ Als Beispiel führen wir hier Barths Verhältnis zu Amandus Polanus a Polansdorf (1561-1610) an, erstens weil Barth nach seinem Umzug nach Basel[92] diesen ‚illustren Vorgänger‘[93] zu dem fast wichtigsten orthodoxen Gesprächspartner in der Kirchlichen Dogmatik gewählt hat (es gibt dort 131 Verweise auf ihn, mehr als von einigen anderen Vertretern der reformierten Orthodoxie), und zweitens weil Polan sehr offen ist hinsichtlich seiner philosophischen Hilfsmittel, und diese auch in mehreren Büchern ausarbeitete.[94] Meine Erkenntnisse hinsichtlich der von Barth, ohne dazu viel Sekundarliteratur nützen zu können,[95] entwickelten Einsicht dazu und seiner Beurteilung davon fasse ich hier kurz zusammen.[96]
Zu seinem Hauptwerk, die Syntagma Theologiae Christianae, hat Polanus eine Synopsis in graphischer Gestalt vorangestellt. Nach den ramistischen didaktischen Anweisungen zeigt diese eine Reihe der Ramifikationen auf. Jedesmal zerlegt der Stoff sich in zwei Zweige: Glaube (I-VII) und gute Werke (VIII-X) – Glaube: Gott (II-VI) und Kirche (VII) – Gott: Wesen (II-III) und Taten (IV-V) – Wesen: Eigenschaften (II) und Trinität (III) – Taten: nach innen (IV) und nach außen (V-VI) – nach außen: Schöpfung (V) und aktuelle Providenz (VI: faktisch die ganze Heilsgeschichte). Innerhalb der Eigenschaften Gottes gibt es dann wieder weitere Verzweigungen: Eigentliche und figurative Eigenschaften und unter den eigentlichen Eigenschaften eine erste Gruppe aprioristische und eine zweite Gruppe apostioristische, beide in Quadranten geordnete, Eigenschaften. Barth zitiert aus fast allen X Büchern und bei Buch II fast allen Kapiteln (vor allem die Definitionen der göttlichen Eigenschaften, KD II/1). Er negiert aber die ramistische Ordnung, mit der Folge, dass fast kein Satz im von Polan mitgebrachten Kontext erscheint. Ernsthafter ist seine Interpretation. Barth liest die Ramifikationen immer wieder als Äußerungen einer dualistischen Struktur, einer ‚doppelten Buchhaltung‘. Die Forschung hat aber bemerkt, dass die ältere Scholastik eher die Figur einer ‚Intensifikation‘ kannte, und Richard A. Muller sagt von den ramistischen Reformierten, dass sie eine ‚ascending order‘ bevorzugten.[97] Dass die Lehre von den Eigenschaften Gottes der Trinitätslehre vorangeht, bedeutet dann nicht, wie Barth meinte, dass die erste Lehre die zweite dominieren soll,[98] wohl aber, dass die Erkenntnis Gottes erst allmählig eine nähere Intensität erfährt. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Diskurse, die zwar denselben Gott meinen, aber sich diesem einen Gott unter unterschiedlichen Gesichtspunkten, die man schwerlich zugleich einnehmen kann, annähern.
Dazu kommt folgendes. Eine sehr wichtige Erörterung in der Gotteslehre, in der sich Barth mit Polan auseinandersetzt, betrifft die Möglichkeit, von einer Vielheit der Vollkommenheiten Gottes in ihrer Einheit und Unterschiedenheit zu reden.[99] Barth hat dazu die (elf) axiomata des Polans zu dieser Frage sehr genau gelesen.[100] Er hat aber Schwierigkeiten, diese richtig zu deuten. Es gibt nämlich manche Stellen, wo Polan eher eine realistische, und andere, wo er eher eine semi-nominalistische Auffassung des menschlichen Prädizierens der göttlichen Eigenschaften zu verteidigen scheint. Barths eigenes Plädoyer ist eindeutig anti-nominalistisch, und deshalb muss er Polans Position wohl als unzureichend beurteilen.
Wir kommen einer Lösung des Barthschen Problems näher, wenn wir uns auf eine andere Aussage von ihm in unserem Argument beziehen, nämlich auf eine Aussage an der Stelle, wo er mit Polan im Rahmen der theologischen Anthropologie disputiert.[101] ‚Polanus beginnt‘, sagt er, ‚mit einer lapidaren aristotelischen Definition: homo est animal ratione praeditum.‘ ‚Der Mensch gehört zum genus animal‘ …. ‚Die spezifische Differenz, in der er sich von anderen animalischen Wesen unterscheidet, besteht aber darin, dass er mit Vernunft begabt ist, wobei unter Vernunft zu verstehen ist: die vis intellectus, qua is logizetai, ratiocinatur et discurrit, hoc est ex uno aliud post aliud ordinat. Das opus seu officium der Vernunft bestehe also im discursus …‘ Und dann folgt die Kritik: ‚der Naturalismus dieses Subjektbegriffs und dann auch der Intellektualismus jenes Vernunftbegriffs konnten und mussten später böse Früchte zeitigen.‘ Das mag richtig sein, und Barth hatte Gründe, für seine Zeit andere Vorschläge zu machen. Aber wenn er fragt: ‚was hat Polans Definition mit der versprochenen contemplatio theologica hominis zu tun?‘, sollte zuerst eine theologiegeschichtliche Antwort auf gerade diese Frage gefunden werden. Aber eine solche Antwort versäumt Barth zu suchen und zu finden.
Ich schlage die folgende Antwort vor: nach Polan, als reformierter Theologe, gilt der unüberbrückbare Unterschied zwischen Gott und Mensch als unvermeidlich. Die menschliche Seele ist diskursiv, sie kann sich nur vom einen zum anderen bewegen, sie kann nicht ineinander denken, was in Gott, und nur in Gott, vollständig ineinander und eins ist. Deshalb gibt es für die Seele die Notwendigkeit der Ramifikationen: Eigenschaften und Personen Gottes, Akte nach innen und Akte nach außen in Gott, Schöpfung und Heilsgeschichte, und dann auch die Vielheit der Eigenschaften unter der Bedingung der simplicitas Dei, sie werden von Gott selbst ewiglich uno simplici actu, in einem Augenblick geschaut, aber der Mensch kann das unmöglich nachvollziehen. Der Hintergrund dieser Figur ist zu finden in der (schon von Franciscus Junius im Jahr 1594 entwickelten) Distinktion zwischen einer theologia archetypa, d.h. einer essenziellen und ungeschaffenen Erkenntnis, die Gott von sich selbst hat, und einer theologia ectypa, die von Gott nach seinem Beschluss den Menschen mitgeteilt wird. Es ist diese zweite Theologie, die sich nach ihrer Art nur diskursiv vollziehen kann. Barth hat den Sinn dieser Distinktion akzeptiert.[102] Aber kann er sich selbst an diese halten? Offenbar meint er, dass gerade die Lage nach der Aufklärung eine Theologie fordert, die eher ‚realistisch‘ von Gott redet, und die das Vertrauen in den göttlichen Eigenschaften nicht durch eine semi-nominalistische Position verunsichert und unterminiert. Ist es aber fair, das Fehlen dieser, schon im 19. Jahrhundert von u.a. Thomasius und Dorner vorgeschlagenen,[103] kräftigeren Maßnahmen einem frühmodernen Theologen wie Polan zum Vorwurf zu machen?
4.2. ‚Allzu vertrauensvoll hat sie sich mit gefährlichen Voraussetzungen beladen‘
‚Allzu vertrauensvoll haben sich die Männer (!) der Orthodoxie bei ihrer berechtigten Bemühung, die altkirchliche und mittelalterliche Tradition aufzunehmen, mit Voraussetzungen beladen, die der reformatorischen Gottes- und Heilserkenntnis früher oder später gefährlich werden mussten.‘
Eine solche Gefahr kann erkennt werden in der Lehre der immutabilitas Dei, die, sicher in Verbindung mit einer gelehrten impassibilitas, in der Theologie des 19. und des 20. Jahrhunderts als eine Hemmung erfahren wurde, die innere Bewegtheit Gottes bis zum Ende, ja bis zum Ende des Kreuzes zu denken. Barth urteilt harsch, wenn Polan nicht nur einen externen, sondern auch einen internen Beweggrund in Gott mithilfe aristotelischer Kategorien ausschließt.[104] Barth meint, dies sei mit den biblischen Aussagen nicht vereinbar.[105] Dagegen hat Eginhard Meijering gezeigt, dass Polan selbst der Meinung war, seine Definition sei eine korrekte Auslegung von Exodus 3, 14.[106] Und Richard Muller konkludiert: ‚In context, Polanus’ argument from the identity of God as the first mover was hardly the sole or even the primary reason for arguing divine immutability, nor was it stated in isolation from Scripture. … Ironically, Barth’s own teaching (namely on the “constancy” [Beständigkeit] of God) appears quite close to that of orthodoxy.’[107] Und Barth selbst hat auch andere Gedanken gehegt, als er das Lehrstück vom opus internum Dei – sei es mit Verweis auf Polans Schüler Wolleb,[108] und nicht nach dessen Syntagma Liber IV – sehr gepriesen hat: ‚Es gibt also nach diesem Kapitel gerade der reformiert-orthodoxen Dogmatik nun doch ein Besonderes in Gott: eine Bewegung, Wendung und Entscheidung, kraft welcher er der sein kann und tatsächlich ist, der er im Verhältnis zu seiner Schöpfung ist. Davon, dass der Tod Gott und also Gott tot ist, könnte nach dem, was in diesem Kapitel (im Widerspruch zu dem von der essentia Dei) gesagt ist, nicht die Rede sein‘[109] – oder hat er doch das Buch zur essentia Dei nicht richtig verstanden?
Ein zweites Beispiel betrifft die Lehre der Inkarnation, wie sie in der Leidener Synopsis Purioris Theologiae (1626) erörtert ist. Barth schätzt es sehr, dass die reformierten, anders als die lutherischen Theologen, die Sklavengestalt des Fleischgewordenen ernst nehmen. Aber gehen sie in dieser Hinsicht weit genug? Thysius, als Vorsitzender der Disputation, sagt: Er hat nicht an der menschlichen Sündhaftigkeit teilgenommen, denn non conveniebat humanam naturam peccato obnoxiam Filio Dei uniri.[110]Barth fragt: ‚Non conveniebat? Wenn das gelten würde, dann wäre Christus gerade in der entscheidenden Bestimmung unserer Existenz nicht ein Mensch wie wir und also nicht wirklich zu uns gekommen und für uns eingetreten. Steckt in dieser non conveniebat, mit dem offenbar die Ehre Gottes gegen eine Befleckung geschützt werden soll, nicht eine heimliche Leugnung des Wunders der Kondeszendenz und damit gerade der Ehre Gottes, die doch nach der Schrift eben in seiner Kondeszendenz ihren höchsten Triumph feiert?‘[111] Eine Seite weiter zitiert Barth dann auch Herman Friedrich Kohlbrugge: ‚Fleisch vom Fleische geboren, nicht von einer fleischlich reinen Geburt, um quasi-Erbsünde zu bedecken, sondern Fleisch wie wir sind, nämlich nicht „Geist“, sondern Gottes ganz und gar entäußert, erledigt, aus der Herrlichkeit Gottes heraus; begriffen in eben dieselbe ewige Verdammung oder ewigem Tode und Fluche worin wir von unserer Geburt…‘.
4.3. ‚Allzu sehr haben sie aus der Offenbarung ein handliches Vernunftprinzip gemacht‘
‚Allzu vital und freudig haben sie die Offenbarung nun doch meistern zu können gemeint mit den Schematismen ihrer vermeintlich erleuchteten Vernunft,[112] allzu sehr haben sie (besonders deutlich in ihrer Lehre von der Schrift) aus der Offenbarung im Geheimnis selber so etwas wie ein handliches Vernunftprinzip gemacht, als dass sie es ihren Nachfolgern im 18. Jahrhundert wirksam hätten ausreden und wehren können, die in Wirklichkeit immer noch und immer wieder sehr unerleuchtete Vernunft auch des Christen als Meister neben und schließlich über das Geheimnis der Offenbarung zu stellen.‘
In seinem schon mehrmals genannten Exkurs zur Sündenerkenntnis aus dem Gesetz stellt Barth bei Polan fest, dass dieser zwar einen formalen Gebrauch der recta ratio von der Natur her für möglich erachtet, dass der nicht wiedergeborene Mensch aber faktisch wegen seiner angeborenen Blindheit dieser natürlichen Offenbarung nur falsche Meinungen entnehmen konnte.[113] Im späteren 17. Jahrhundert wird das Gesetz dann immer stärker mit dem allgemeinen moralischen Bewusstsein identifiziert, wobei der Dekalog nur noch ein Instrument zur Erleichterung der Erkenntnis dieses Gesetzes bleibt. Also war ‚der Übergang zur Aufklärung die schreckliche Neuerung nicht, als die man sie oft beschrieben hat. Die Orthodoxie selbst war in vielen Stücken und so auch in diesem in vollem Übergang zur Aufklärung begriffen.‘[114]
In dieser Weise scheint der Übergang ein fließender gewesen zu sein. Das stimmt aber nicht in jeder Hinsicht, und gerade nicht bei den Bemerkungen Barths zur Orthodoxen Schriftlehre. Wo kommt die Unstimmigkeit der Generationen, z.B. der Bruch zwischen dem Sohn Jean Alphonse und dem Vater Franciscus Turrettini, dann her? Der Vater hatte die Helvetische Konsensformel vom Jahre 1675 mit aufgestellt und verteidigt, der Sohn hat geholfen, sie zu begraben.[115] Bei der Schriftlehre rekonstruiert Barth die Entwicklung offenbar so, dass es erstmal eine sich immer verstärkende Verteidigungslinie gegen die neueren historischen Einsichten gegeben hat, wobei die Verteidiger der Orthodoxie sich in ein immer krampfhafteres Bollwerk verschanzten. Diese Inspirationslehre war ein ‚schlechthinniges Novum‘ (H. Cremer), nicht wegen ihres Inhalts, denn sie bot nur eine Systematisierung von Sätzen, die man in der Kirche längst gehört hatte – und die schon nicht außerhalb der ‚Gefahr einer doketischen Auflösung oder einer mantisch-mechanischen Verdinglichung des Begriffs des biblischen Offenbarungszeugnis gewesen‘ waren –, sondern in der Intention, die hinter dieser Systematisierung stand. Diese Intention war in seiner Weise ein höchst naturalistisches Postulat: die Bibel muss eine divina et infabillibillis historia bieten (Voetius[116]); sie darf in keinem Vers menschlichen Irrtum enthalten; sie muss ein Kodex von Axiomen sein, die sich neben denen der Philosophie und der Mathematik sehen lassen können. Wenn der liebe Gott dieses Postulat nicht erfüllen sollte, droht man ihm mit Skeptizismus und Atheismus – ‚eine Drohung, die dann durch die nächsten Generationen, als man sich überzeugen musste, dass dieses Postulat unerfüllbar war, ebenso ungeniert wahr gemacht wurde.‘[117]
In seinem Exkurs zur orthodoxen Inspirationslehre in der Kirchlichen Dogmatik hat Barth aber auch andere Stimmen vernommen. So liest er in der Leidener Synopsis, dass Gott zwar manchmal die Schreiber als amanuenses benutzt, aber dass er ihnen auch beistehen konnte, ‚denn sie verhielten sich nicht immer rein pathētikos, passiv, sondern ernergētikōs, im Prozess involviert, als solche Leute die ihren eigenen Verstand, und die Aktivitäten und Diskurse ihrer eigenen Mentalität und ihres eigenen Temperaments, Erinnerungen, argumentative Ordnung, und ihre eigene Schreibart anwendeten, unter anhaltender Begleitung des Heiligen Geistes.‘[118] Wenn Barth im ‚Zum Geleit‘ rüstig schreibt: ‚Ich nahm mir in großem Respekt vor, ihnen [den orthodoxen Theologen] in dem allem keine Nachfolge zu leisten‘, muss man ‚in dem allen‘ deshalb unterstreichen; Barth sagt auf jeden Fall nicht: ‚in allem‘. Denn er hat die orthodoxen Zeugen geehrt, von ihnen gelernt, sie verstanden und sie missverstanden, und das Gespräch mit ihnen nie beendet.
[1] K. Barth, ‘Zum Geleit’, zu: Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt von Dr. Heinrich Heppe, neu durchgesehen und hrsg. von E. Bizer,Neukirchen 1935, S. (VII-X) IX, jetzt in: Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934-1935 (GA III), hg. von Michael Beintker, Michael Hüttenhoff und Peter Zocher, Zürich 2017, (743-753) 751.
[2] K. Barth, Die Theologie Calvins 1922, in Verbindung mit Achim Reinstädtler hg. von Hans Scholl (GA II), Zürich 1993.
[3] K. Barth, Die Theologie Zwinglis 1922/1923 (GA II), hrsg. von Matthias Freudenberg, Zürich 2004.
[4] K. Barth, Geschichte der protestantischen Theologie seit Schleiermacher [Ausg. für die oft im Militärdienst stehenden Studenten], mit Geleitwort von Hans Walt, vervielf. Zürich 1943. M. Wildi, Bibliographie Karl Barth Bd. 1, Nr. 453.
[5] K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1947.
[6][6] KD I/2, (309)310-317.
[7] KD IV/1, 407-411.
[8] KD I/2, 310 unten. Antoine de Waele ist geboren in Gent und war während einiger Jahren Assistent von Polanus in Basel.
[9] A.F. Stolzenburg, Die Theologie des Jo. Franc. Buddeus und des Chr. Matth. Pfaff, Berlin 1926. Die Einsichten Stolzenburgs, eines Schülers von R. Seeberg, werden von Barth in KD I/2, 315f. gerne gefolgt. Vgl. Die protestantische Theologie (Anm. 5), 122f.
[10] Die Theologie Calvins (Anm. 2), 579-582.
[11] Ebd., die Seiten 15, 93f., 172f.
[12] Ebd., 173. Vgl. Karl Barth – Eduard Thurneysen Briefwechsel Band 1, bearbeitet und herausgegeben von Eberhard Thurneysen (GA V), Zürich 1973, 360 (14. Dezember 1919): ‚es sollte eben wahrscheinlich einer von und die Calvinbiographie schreiben‘ – was nicht geschehen ist.
[13] P. Wernle, Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren. Bd. I: Luther, Bd. II: Zwingli, Bd. III: Calvin, Tübingen 1918/1919. Vgl. Barth, Die Theologie Calvins (Anm. 2), 94.
[14] Wernle, ebd., Band III, III-IV. Vgl. Frans Breukelman, Bijbelse Theologie IV/1. De structuur van de heilige leer in de theologie van Calvijn, verzorgd door Rinse Reeling Brouwer, Kampen 2003, 35.
[15] Wernle, ebd., 491-406.
[16] KD IV/3, 1017.
[17] K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, 83 (‚Verwunderung‘, als ‚Bewunderung‘ missverstanden).
[18] A. Pierson, Nieuwe studiën over Johannes Kalvijn (1536-1541), Amsterdam 1883: I. Kalvijn en Caroli, II. Calvijns nederlaag in 1538, III. Calvijn in Duitschland, IV. Kalvijn als exegeet [die Institutio von 1536 war schon im ersten Band besprochen]. Vergleiche aus Barth 1922: Erster Genfer Aufenthalt, S. 329; Caroli, S. 420; die Osterzeit 1538 in Genf, S. 484; der Römerbriefkommentar, 522; die Beteiligung an den deutschen Religionsgesprächen, 532. Als Pierson seinen zweiten Band 1883 herausgab, war die Abteilung Opera exegetica und homiletica der CO (die Bände XXIII-LVII, erschienen 1882-1897) noch nicht verfügbar; deshalb benutzte er für seine Analyse des Römerbriefkommentars in seinem IV. Kapitel eine frühere Edition (J.J. Schipper, Amsterdam 1667). Barth hat sich auf das Dedikationsepistel an Grynaeus konzentriert (Aus den Briefen, CO I0/II), während er in seinen Römerbrieferklärungen CO 49 nützte.
[19] Die Dogmatik der Evangelisch-lutherische Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt von H. Schmid, Frankfurt/M u. Erlangen, 18584.
[20] [K. Von Hase,] Hutterus redivivus oder Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repetitorium für Studirende, Leipzig 186210.
[21] Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt von H. Heppe, Elberfeld 1861.
[22] A. Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch-reformirten Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt, Bd. I, Zürich 1844. Manchmal führt Barth auch die Gereformeerde Dogmatiek von Herman Bavinck, Kampen 19183, an.
[23] K. Barth, “Unterricht in der christlichen Religion“. Erster Band. Prolegomena, 1924 (GA II), hg. von Hannelore Reiffen, Zürich 1985, 28.
[24] Karl Barth, “Unterricht in der christlichen Religion“. Die Lehre von Gott / die Lehre vom Menschen 1924/1925, hg. von Hinrich Stoevesandt (GA II), Zürich 1990, 10 bemerkt nur: ‚Zur Mitarbeit an meinen Vorlesungen verweise ich vor Allem auf die Quellenbücher von Heppe (Elberfeld) und Schmid.‘
[25] Bruce L. McCormack, Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology. Its Genesis and Development 1909-1936, 334. Anfänglich hat Barth selbst erwogen, Calvins Institutio oder seinen Genfer Katechismus von 1545 an der Stelle des Lombarden zu nütze; vgl. Karl Barth – Emil Brunner. Briefwechsel 1916-1966, hg. von E. Busch (GA V), Zürich 2000, 95, Punkt 4 (Brief Barths an Brunner, 26. Januar 1924).
[26] ‘Zum Geleit’ (Anm. 1), X bzw. 752.
[27] Rinse H. Reeling Brouwer, Karl Barth and Post-Reformation Orthodoxy, Farnham UK 2015, 7-14. Vgl. für ausführlichere Anmerkungen https://www.rinsereelingbrouwer.nl/extended-notes/
[28] Das Fehlen reformierter Stimmen aus Großbritannien rächt sich sowohl bei Heppe wie bei Barth vor allem da, wo es nicht-aristokratische Auffassungen der Kirchenregierung betrifft, vgl. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 167-171.
[29] E. Bizer, ‚Historische Einleitung des Herausgebers‘, in: H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, neu durchgesehen und hrsg. von E. Bizer,Neukirchen 19583, XVII-XCVI.
[30] P. Althaus, Die Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik, Leipzig 1914; O. Ritschl, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie, Bonn 1906. Barth kontrastiert die ‚analytische‘ Methode mit dem Aufbau der Dogmatik in Loci. Jacopo Zarabella (Padua) hatte aber 1578 in seinen Opera Logica eine analytische mit einer synthetischen Methode verglichen (vom Ziel zu den Mitteln bzw. von der Ursache zu den Effekten). Beide Wege können zum geschlossenen System führen, beide auch eher locker auf dem Wege der Loci oder topoi begangen werden. Barth fürchtete den analytischen Weg, weil sie zum Pietismus und zu Schleiermacher führen sollte (alle Wahrheiten sind dann dem Leben des Glaubens untergeordnet), aber man kann seinen eigenen Weg doch auch nicht als synthetisch-deduktiv bezeichnen.
[31] Gemeint ist wohl O. Ritschl, Dogmengeschichte des Protestantismus. III. Die reformierte Theologie des 16. und des 17. Jahrhunderts in ihrer Entstehung und Entwicklung, Göttingen 1926; vor allem ‚Fünftes Buch. Die Prädestinationsgedanke der Reformation und die Theologie der reformierten Reformatoren‘, 1-242.
[32] H.-E. Weber, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, 2 Bde., Gütersloh I.1 1937, I.2 1940, II 1951.
[33] C.H. Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, 2 Bde., Gütersloh 1964.1966.
[34] Barth, ‘Zum Geleit’ (Anm. 1), IX-X bzw. 750-752.
[35] Q. Skinner, ‘Meaning and Understanding in the History of Ideas’, History and Theory, vol. 8 no. 1 (1969), 3-53, as a representative voice of the so-called ‘Cambridge School’ (‘Contextualism in the history of political thought’).
[36] Heppe-Bizer 19583(Anm. 29), 119.
[37] R.A. Muller, ‘The Use and Abuse of a Document: Beza’s Tabula praedestinationis, the Bolsec Controversy, and the Origins of Reformed Orthodoxy’, in: Carl R. Trueman and R.S. Clark (eds.), Protestant Scholasticism. Essays in Reassessment, Carlisle, Cumbria UK 1999, 33-61.
[38] KD II/2, 83f.
[39] Von einem foedus operum weiß man im 16. Jahrhundert z.B. noch nicht. Vom Sinaibund her kam es aber bei William Perkins (1590) und bei Robbert Rollock (1597) zu einer rückwärts gewandten Projektion des Gesetzes ins Paradies. Vgl. B. Loonstra, Verkiezing – verzoening – verbond. Beschrijving en beoordeling van de leer van het pactum salutis in de gereformeerde theologie, ’s Gravenhage 1990, 76f. Systematisch wurde dieser Werkbund dann von Polanus (Syntagma Theologiae Christianae VI.50) übernommen (wie Barth es, KD IV/1, 62, von G. Schrenk belehrt, erwähnt).
[40] Vgl. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 207-209.
[41] Richard A. Muller, Post-Reformation Dogmatics. The Rise and Development of Reformed Orthodoxy, ca. 1520 to ca. 1725. 4 Volumes. Grand Rapids 20032. Dazu sind, bei abnehmender Erkenntnis des Lateinischen, jetzt auch zwei klassische Dokumente der reformierten Orthodoxie im Englischen übersetzt worden: Francis Turrettin, Institutes of Elenchtic Theology [1679-1685], 3 Bde., Phillipsburg 1976, and Synopsis Purioris Theologiae. Latin Text and English Translation [1625], 3 Bde., Leiden 2014-2016-2020.
[42] J.M. Hasselaar, Wegen en kruispunten op een oude atlas. Een didactische commentaar op de ‘Reformierte Dogmatik’ van H. Heppe, Utrecht 1974.
[43] ‘Zum Geleit’ 2017 (Anm. 1), 750f., Fussnote 36. In Heppe-Bizer 19583 (Anm. 29) vgl. 54, 186, 418 und 455.
[44] Vgl. Richard A. Muller, ‘Establishing the ordo docendi: The Organisation of Calvin’s Institutes, 1536-1559, in: The Unaccommodated Calvin, Studies in the Foundation of a Theological Tradition, Oxford 2000, 118-139.
[45] Vgl. den Beitrag Wilhelm Neusers zu Carl Andresen, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Zweiter Band: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 1980, spez. 312f. (‚Melanchthon und die Orthodoxie), 313f. (‚Die Calvinrezeption der Orthodoxie‘), 315ff. (‚Die calvinischen Aristoteliker‘; 1. Hieronymus Zanchi‘).
[46] Die Institutio sollte dann wohl den neuen Gewohnheiten des universitären Unterrichts angepasst werden. Vgl. die Aphorismi Doctrinae Christianae von Joh. Piscator, von Barth genannt KD IV/1, 408 und KD IV/3, 15. ‚Sie sind aus dem Schulbetrieb entstanden und waren als Einführung in Calvins Institutio und Unterlage für Disputationen gedacht‘ (Bizer‚ ‘Historische Einleitung‘, Anm. 29, XLIII).
[47] Riemer A. Faber. ‘Scholastic Continuities in the Reproduction of Classical Sources in the Synopsis Purioris Theologiae’, Church History and Religious Culture 92 (2012) 561-579 zeigt an einem Beispiel, wie subtil die orthodoxen Wissenschaftler ihre unverkennbare Beeinflussung durch Calvin manchmal verborgen gehalten haben.
[48] Im Barths eigenem Exemplar der Neuausgebe Heppes 1935, anwesend im Karl Barth Archiv (R5T8B22), ist am Rand – sei es von Barth selbst, sei es (wie Peter Zocher vermutet) von Charlotte von Kirschbaum – fein säuberlich ein ‚b‘ notiert. In der Heppe/Bizer Herausgabe 1958 ist diese Korrektur nicht durchgeführt. Die Variante ‚verbündeten‘ liefert evident mehr Sinn.
[49] Vgl. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 107-147.
[50] Gottlob Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei Johannes Coccejus. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der heilsgeschichtlichen Theologie, Gütersloh 1923, 19852.
[51] Sehr klar sieht man dies in einem der ersten von Barth persönlich erworbenen Werke aus der protestantischen Orthodoxie: Fr. Burman, Synopsis theologiae & speciatim oeconomiae foederum Dei: ab initio saeculorum usque ad consummationem eorum, Genf 16782. Barth bezeichnete Burman als ‚den größten Systematiker der Föderaltheologie‘ (KD IV/1, 409).
[52] Barth-Thurneysen Briefwechsel Band 2, bearbeitet und herausgegeben von Eduard Thurneysen (GA V), Zürich 1974, 186 (24. September 1923).
[53] Locus XIII: De foedere operum et iustitia legali; L. XIV: ,de violatione foederis operum; L. XVI: de foedere gratiae; L. XXIII: de constantia foederis gratiae. Wie gesagt (Anm. 40) entspricht diese Ordnung weitgehend der Medulla von J.H. Heidegger.
[54] Karl Barth, “Unterricht in der christlichen Religion“ 1924/1925 (Anm. 24), 398.
[55] Ebd., 397. Vgl. J.B. Torrance, ‘Covenant or Contract? A Study of the Theological Background of Worship in Seventeenth-Century Scotland, Scottish Journal of Theology, 23 (1970), 51-76.
[56] Ebd., 381.
[57] Karl Barth, “Unterricht in der christlichen Religion“. Die Lehre von der Versöhnung / Die Lehre von der Erlösung 1925/1926, hg. von Hinrich Stoevesandt (GA II), Zürich 2003, 17. Barth fügt hinzu: ‚Das hat Coccejus selbst in aller Form erkannt und ausgesprochen‘, mit einem Verweis auf Heppe (18611, 279; [19583, 306]), der Coccejus, Summa Theologiae, Amsterdam 1669, Cap. XXXIII, 1), zitiert. Coccejus redet in dieser angeführten Stelle aber nur davon, dass die Offenbarung des ewigen Beschlusses zur Gnade und zum Zorn erst nach der menschlichen Sündentat relevant wurde, ohne das dies bedeutete, dass Gott erst später auf diesen Gedanken gekommen war.
[58] KD II/2, 122.
[59] Vgl. W.J. van Asselt, The Federal Theology of Johannes Coccejus (1603-1669), Leiden 2001, 201-226.
[60] KD II/2, 123.
[61] KD IV/1, 57-70.
[62] Vgl. wohl H. Faulenbach, Weg und Erkenntnis Christi. Eine Untersuchung zur Theologie des Johannes Coccejus, Neukirchen 1973; Faulenbach hat aber die Neigung, Coccejus fast ‚barthianischer‘ als Barth selbst vorzustellen. Van Asselt (Anm. 59), 248-339, hält sowohl eine eher ‚heilsgeschichtliche‘ wie eine eher ‚Heilsordnung‘-orientierte Auffassung der Lehre der Abschaffungen für möglich.
[63] Vgl. H. Witsius, de oeconomia foederum Dei cum hominibus: libri quatuor [1677], Basel 1739. Dazu: N.T. Bakker, Miskende gratie. Van Calvijn tot Witsius, een vergelijkende lezing. Balans van 150 jaar gereformeerde theologie, Kampen 1991; Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 139, 192.
[64] KD IV/1, 69.
[65] Vgl. Van Asselt (Anm. 59), 233-236.
[66] Davon hat Barth 1925 noch gewusst, siehe “Unterricht in der christlichen Religion“ 1924/1925 (Anm. 24), 385.
[67] Ebd., 392.
[68] In dem Haupttext des §57.2 ist auf S. 39 die Rede vom ‚Bundesgott‘, auf S. 45 vom ‚Bundesmenschen‘. Beide widersprechen einem abstrakten Gott, bzw. einem abstrakten Menschen.
[69] C.S. McCoy, The Covenant Theology of Johannes Cocceius, Ann Arbor 1957 [KBA R4T5B2]. Das Buch Faulenbachs (Anm. 62) ist in höhen Maße von der Studie des McCoys abhängig.
[70] C.S. McCoy & J. Wayne Baker, Fountainhead of Federalism. Heinrich Bullinger and the Convenental Tradition, Louisville 1991 (in der Einleitung kontrastieren die Autoren einen ‚symbiotischen‘ mit einem ‚individualistischen‘ Föderalismus).
[71] Zum Folgenden vgl. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 177-204.
[72] Die protestantische Theologie (Anm. 5), bzw. 118-120, 120-123, 124-130. Im Vortrag ‚Samuel Werenfels (1657-1740) und die Theologie seiner Zeit‘, in: K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1935-1937 (GA III), hg. von Lucius Kratzert und Peter Zocher, Zürich 2021, 400-447, verweist Barth auf S. 409 auf Melchior Leydecker (1642-1721) in Utrecht als dem Löscher im reformierten Bereich ebenbürtig.
[73] K. Barth, ‘Das erste Gebot als theologisches Axiom‘, in: Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1930-1933 (GA III), hg. von Michael Beintker, Michael Hüttenhoff und Peter Zocher, Zürich 2013, (209-241) 230.
[74] K. Barth, ‘Abschied’, ebd., (492-515) 500.
[75] K. Barth, ‘Nein!’, in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1934-1935 (Anm. 1), (429-527) 493. Vgl. die Analyse der Theses de Theologia naturali in genere in F.H. Breukelman, Structuur van de heilige leer in de theologie van Calvijn (Anm. 14), 55-61.
[76] KD I/2, 5.
[77] KD I/2, 313-317. Zu Buddeus, vgl. Breukelman (Anm. 14), Ebd., 460-464. S. van Til ist der Einzige der Theologen der ‘vernünftigen Orthodoxie‘, der zu den von Heppe zitierten Quellenschriften gehört. Vgl. Heppe, Reformierte Dogmatik, 19583 (Anm. 29), 571-574 no. 45. Barth besaß sein Theologiae utriusque compendium: cum naturalis, tum revelatae ([17041]; 1719).
[78] Die protestantische Theologie (Anm. 5), 124.
[79] S. Werenfels, Opuscula theologica, philosophica et philologica, Tom. I-III, Basel 1783. Barth hatte auch die frühere Sammlung Dissertationum theologicarum sylloge, Basel 1709, KBA 611 und die Sermons sur des vérités importantes de la religion, Basel 1720, KBA 612, in seinem Besitz.
[80] Werenfels (Anm. 72), 404f.n22: E. Vischer, art. Werenfels in PRE3 (1908); ders., Die Lehrstühle und der Unterricht an der theologischen Fakultät Basels seit der Reformation, Basel 1910; und ders., Werenfelsiana, Basel 1935; Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik in ihren Zusammenhang mit der Theologie überhaupt, III. Die Zeit des Übergangs, Berlin 1862; Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Erster Band. Das reformierte Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie), Tübingen 1923; Hagenbach, ‚J.J. Wettstein. Die Kritiker und ihre Gegner‘, ZfHTh 1839 [dazu eine von Barth nicht genannte, aber von den Herausgebern in der GA, 409n40 gefundene Quelle in ders., Die theologische Schule Basels und ihre Lehrer, 1460-1849, Basel 1860]; 422n.79: Bloesch, Geschichte der schweizerich-reformierten Kirchen, Bd. 2, Basel 1899.
[81] Werenfels, Mitra Aaronis Capiti Imposita, seu Solennia Actus Inauguralis, in quo Vir Venerandus et Excellentissimus Dn. Hieronymus Burcardus, Ecclesiae Basil. Antistes & Theol. Prof. Die xxv. Junii MDCCIX Corona Doctorali Fuit Redimitus, Opuscula II, 343-384. Werenfels, ebd., 406n.24.
[82] Werenfels (Anm. 70), 411n50: Troeltsch, z.B. Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, Leipzig 1906 und 411n51 Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle/S 1929. Aner, Gaß, Wernle und Stolzenburg (Anm. 9), werden auch in Die protestantische Theologie (Anm. 5), 115-130 angeführt.
[83] Denn Pietismus heißt: ‘die Lehre von einer direkt eingegossenen und erfahrbaren supranaturalen Gnadenwirklichkeit‘, und Aufklärung meint: ‚die Lehre von einer natürlichen, d.h. dem menschlichen Selbstbewusstsein als solchem immanenten Gotteserkenntnis und Moral‘ (Werenfels, ebd., 418). Beide verlaufen also eher parallel aneinander.
[84] Werenfels, ‘Theses de gratia convertente’, Opuscula II, 141-144. Meine eigene Lesung dieser Thesen hatte eine einigermaßen ambivalente Auskunft : ‘It does not ultimately become clear whether, in the eyes of the author, grace is conditional or unconditional, or whether it is perhaps supposed to be both at the same time’. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 195.
[85] Werenfels, Scrupulus de Praedestinatione. In: Opuscula II, 133-148.
[86] Mit dem sehr ‘orthodoxen’ Argument: ‚it is precisely this that God has revealed, namely that an unregenerate person is not able to convert’. ‘Werenfels considers very wise the advice which Myconius, Zwingli’s fellow-worker in Zürich, gave to Bibliander, namely, to teach only the rule that believers will be saved and the ungodly condemned, and to avoid telling people anything more.’ Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 196.
[87] R. Boon, Ons cultureel draagvlak. Wat is ermee gebeurd? Soesterberg 2008, 200f.
[88] R. Dellsperger, ‘Der Beitrag der “vernünftigen Orthodoxie zur innerprotestantischen Ökumene. S. Werenfels, F-Fr Ostervald und J-A Turrettini als Unionstheolgen, in: H. Duckhardt und G. May (hrgb.), Union – Konversion – Toleranz, Mainz 2000, 289-300. Vgl. K. Barth, Werenfels (Anm. 72), 432.
[89] ‘Ich hoffe, der alte Werenfels komme trotz dem Unheil, das er leider trotz bester Absicht ausgerichtet hat, nicht als Störer der Geburtsfreude. Er macht ja ein freundliches Gesicht, obwohl er gewiss zu der an ihm geübten Kritik allerhand Erwägenswertes zu bemerken hätte‘, K. Barth, Werenfels (Anm. 72), 402.
[90] Wernle, Der schweizerische Protestantismus (Anm. 80), 524 sagt zu den Scrupulus (Anm. 85): Erasmus ist zu Basel zurückgekehrt! Und Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche, II. Das 17. und 18. Jahrhundert, Zürich 1856, 783f.: hier hat Castellio Calvin dann doch besiegt! Und ebenso vergleicht er den Kommentar des Jean Alphonse Turrettini zur Sache der articuli fundamentales, wo auch wieder die rechte Praxis über jede dogmatische Subtilität überwiegen soll, mit Arminius, Ebd., 787.
[91] ‘Zum Geleit’ (Anm. 1), 748ff.
[92] Barth besaß die Syntagma Theologiae Christianae, iuxta leges ordinis Methodici conformatum (!) und atque in libros decem tributum, Hanau 1609-1610 (in KD I/1 noch via Heppe zitiert, danach nur noch direkt).
[93] KD III/2, 457.
[94] Erst seine Logicae libri duo, iuxta naturalis methodi leges conformati, Herborn 15901, und sodann vor allem die Syntagma logicum Aristotelico-Ramaeum, ad usum imprimis theologicum accommodatum, Basel 1605. Es gibt keine Hinweise, dass Barth diese Werke studiert hat.
[95] Barth empfang vom Autor Ernst Staehelin, ‚Die Lehr-und Wanderjahre des Amandus Polanus von Polansdorf‘, Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 44 (1945), 37-77; er besaß von demselben auch Amandus Polanus von Polansdorf, Basel 1956. Weiter hat Heiner Faulenbach ein Exemplar seines Buches Die Struktur der Theologie des Amandus Polanus von Polansdorf, Zürich 1967, persönlich dem Meister überreicht (KBA R5T2B56). Darin befinden sich drei kritische Notizen Barths, Faulenbachs Behauptungen zu Staehelin betreffend: dieser sollte Polanus wiederentdeckt haben, Person und Werk dargestellt haben, und insgesamt die Quellen vollständig erörtert haben – drei nach Barth unrichtige oder mindestens übertriebene Behauptungen. Barth hat dann auch nicht mehr als 50 Seiten des Buches gelesen. Vgl. jetzt auch Stephen B. Tipton, The Ground, Method, and Goal of Amandus Polanus’ Dotrine of God, Dissertation bei der Evangelische Theologische Fakultät Leuven, Belgien, 2020. Dieser Studie ist verdienstvoll, aber rein reproduzierend.
[96] Für weiteres, vgl. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), 35-74.
[97] Richard A. Muller, Post-Reformation Dogmatics (Anm. 39), Vol. III, 366. “This order moves from all being (esse Dei) ‘to living being’ (vita Dei [Syntagma II.15]), ‘to living being that knows and wills’ [Syntagma II.18-19]).
[98] KD II/1, 292f.
[99] KD II/1, 368-377.
[100] Polanus, Syntagma (Anm. 92) II.7 (proprietates Dei in genere), col. 902-904. Barth zitiert fast alle axiomata, und einige sogar mehrmals; vgl. Reeling Brouwer, Barth and Orthodoxy (Anm. 27), (57-60) 59.
[101] KD III/2, 88-90; Verweis nach Polanus, Syntagma, ebd., V.27, col. 1987.
[102] Vgl. K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie (Anm. 17), 125-127, plädiert, gegen Tillich, für eine theologia ectypa viatorum und sagt dazu: ‚Es wäre in der Geschichte der neueren Theologie Einiges anders und besser gelaufen, wenn diese nur scheinbar abstrusen Unterscheidungen nicht in jeder verhängnisvollen Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zur „dogmatischen Antiquität“ (K. von Hase) geworden wären.‘
[103] KD II/1, 371.
[104] Polanus, Syntagma, ebd. II.13 (De immutabilitate Dei), col. 967.
[105] KD II/1, 553f. (‚Gottes Beständigkeit’).
[106] E.P. Meijering, Von den Kirchenvätern zu Karl Barth. Das altkirchliche Dogma in der Kirchlichen Dogmatik, Amsterdam 1993, 227n.188,
[107] Vgl. Richard A. Muller, Post-Reformation Dogmatics (Anm. 39), Vol. III, 309.
[108] Io. Wollebius, Christianae theologiae compendium, Basel 1626, I cap. 3.
[109] KD II/1, 583-585.
[110] Synopsis Purioris Theologiae [1625] (Anm. 39), Disputatio 25 Thesis 18, Vol. II 74-77.
[111] KD I/2, (161-173) 168f.
[112] Heppe-Bizer 19583(Anm. 29), L. I, S. 9, Belegstelle 14: ‚ratio in doctrina religionis organum est iudicandi de vero et falso etc., sed praeeunte verbi divini luce et interiore illuminatione Spiritus S.‘ (J.H. Heidegger, Medulla I.39).
[113] KD IV/1, 408; Verweis nach Polan, Syntagma VI.9. Hier sieht man, dass die These einer patefactio tum naturalis, tum supernaturalis bevor 1700 eine andere Rolle spielt als sie es nachher, z.B. bei Jean Alphonse Turrettini, tun wird.
[114] KD IV/1, 410f.
[115] Vgl. jetzt: Reformierte Bekenntnisschriften Bd. 3/2: 1605-1675, bearbeitet von Emidio Campi und Torrance Kirby, Neukirchen-Vluyn 2016, 436-466.
[116] Gisbert Voetius, Selectarum Disputationum Theologicarum Pars I, Utrecht 1648, 31 (bekommen von W.G. Goeters).
[117] KD I/2, 583. Die Generation der ‘vernünftigen Orthodoxie’ wurde zwar nicht skeptisch oder atheistisch. Sie war aber offen dafür, die Vernunft zur letzten Instanz des Urteilens zu machen. Barth zitiert ein von Werenfels erzähltes Gleichnis, wo ein König (Gott) einem Statthalter (die Vernunft) die menschliche Provinz übergibt. Wenn es (durch die Sünde) Unordnung gibt, schickt er einen außerordentlichen Gesandten (die Offenbarung), die in ständigem Einvernehmen mit dem Statthalter die Ordnung wiederherstellt. Aber, fragt Barth, kann es nicht so endigen, dass der Statthalter den Gesandten das Haus und die Provinz letztendlich wieder verbietet? K. Barth, Werenfels (Anm. 70), 439-440.
[118] KD I/2, 581; Verweis zu: Synopsis Purioris Theologiae [1625] (Anm. 39), Disp. 3 Thesis 7, Vol I. 78-79.