Von 25. bis 28. Oktober 1989 bin ich in Berlin-Marzahn zu Gast bei der jährlichen Versammlung der Christlichen Friedenskonferenz in der DDR. In der Stadt herrscht ein spannungsvoller Geist. Die Humboldt-Universität unterliegt eine Besatzung, die mich an der Zeit, in welcher ich um 1970 in Amsterdam mit dem Studium anfing, erinnert. Die Forderungen betreffen eine allseitige Demokratisierung: von den Dozenten und vom Rektorium wird gefordert völlige Rechenschaft abzulegen. Es ist allen klar, dass es ‘so nicht weiter gehen konnte’. Auf der Konferenz hat der Staatssekretär für Kirchenfragen seine Krawatte abgelegt und beantwortet nervös die Fragen derjenigen die sich am Massendemonstrationen wie in Leipzig oder Dresden beteiligt haben. Es ist deutlich, dass seine Partei die Macht nicht mehr behalten würde: ‘runder Tisch’ ist das Stichwort, also eine Art der Kommunikation woran es vorher gerade gemangelt hat. Ich erlebe die Atmosphäre als die einer utopischen Tagtraums (Bloch). Die Frage, ob der Traum später noch in Erfüllung gegangen ist, ist weniger angemessen. Das Mitmachen des Traums selbst war gerade seine Erfüllung im Augenblick.
Der Konferenz wurde ein Text vorgelegt, in welchem die Mitverantwortlichkeit der Teilnehmer an der festgefahrenen Situation des Sozialismus bedacht wurde: zu viel, hiess es, haben wir in den Kirchen versucht ihn verständlich zu machen, auch wenn er nicht mehr zu verstehen war, zu wenig haben wir es den Kommunisten zu widersprechen gewagt wenn es nötig war, zu spät oder gar nicht haben wir oppositionelle Gruppen recht gegeben wo sie recht hatten, zu wenig haben wir den Mut gehabt die Frage welchen Sozialismus wir selbst dann eigentlich gewollt haben zu stellen. Als westlicher Gast konnte ich dieser Liste einfach ergänzen: zu lange habe ich mein eigenes Bedürfnis an einer Alternative für die bei uns herrschende Gesellschaftsordnung auf dem Osten projiziert und von meine Freund(inn)en dort gefordert durchzuhalten ohne richtig zuzuhören wenn sie mich erzählten, wie sie wirklich nicht mehr durchhalten konnten, zu lange habe ich geschwiegen wo es nicht mehr gestattet war zu schweigen. Solche Bekennntnisse vorzuführen kam mir durchaus richtig vor in einer Gemeinschaft, dessen theologische Gründer wie Iwand und Hromádka immer die Busse jedes ‘in die Irre gehen’ gegenüber immer vorangestellt haben.
Von 12.-14. Januar 1990 war ich wieder im Osten Berlins, inzwischen eines ganz anderen Berlins. Nicht mehr die Träume einer anderen Art des Zusammenlebens, sondern die eine Verfassung und die eine D-Mark bildeten die vorherrschende Gesprächtsthemen. ‘Was kommt auf uns zu?’, wurde mich gefragt von Leuten, denen es mich niemals gelungen war den kapitalistischen Alltag zu erklären. Nach zwanzig Jahre braucht man die Frage so nicht mehr zu stellen. Aber die Möglichkeit neuer Tagträume wird nie verschwinden.
Rinse Reeling Brouwer
Amsterdam