1. Zur Einleitung: eine theologiegeschichtliche Problemskizze
Im Hinblick auf die Entwicklung einer Fragestellung, anband welcher einige Aspekte der Theologie K.H. Miskottes im Rahmen dieser Tagung dargestellt werden können, seien erst einige Lesefrüchte aus der Geschichte der Theologie (meinem Lehrauftrag) gepflückt: wie haben inmitten der Kirchenväter Augustin, inmitten der mittelalterlichen Scholastiker Bonaventura und inmitten der Reformatoren Melanchthon von historia – Geschichte, aber auch: Bericht einer Geschichte – geredet?
1.1. Augustin
In 390, drei Jahre nach seiner ‘Bekehrung’, löst der ehemalige Rhetor, jetzt Mitglied einer Lebens- und Forschungsgemeinschaft in Thagaste, sein Versprechen an seinen Gönner Romanianus ein, der seinen Übertritt zur katholischen Kirche (noch) nicht nachvollziehen konnte, deren Gründe näher zu erklären. In dieser Schrift De vera religione ist die platonische Sehnsucht vorausgesetzt: die Seele begehrt der stabilen Erkenntnis teilhaftig zu sein:
“Geh nicht nach draussen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur noch wandelbar findest, so schreite über dich selbst hinaus!”
Aber nun hat Gott in seinem unendlichen Erbarmen nicht nur das intellectumden Vernünftigen als Heilmittel angeboten:
“Es sind zwei verschiedene Heilmittel, die aufeinanderfolgend zur Anwendung kommen müssen, nämlich Autorität und Vernunft. Die Autorität verlangt Glauben und bereitet den Menschen auf die Vernunft vor. Die Vernunft führt zur Einsicht und Erkenntnis.”
Nicht nur werden auf diesem Weg viele, und nicht nur die intelligenten Leute, genesen, auch wird der Stolz derjenigen gebrochen, die von sich aus sehr wohl die Wahrheit zu verstehen meinen. Dies ist die christliche Wende, die der Platonismus hier nimmt: |35|
“Denn also geschah es durch die zeitliche Veranstaltung zu unserem Heil, dass Gottes Kraft und unwandelbare Weisheit, wesensgleich und gleich ewig dem Vater, sich herabliess, menschliche Natur anzunehmen, um uns durch sie zu belehren, dass auch der Mensch dasselbe verehren soll, was von aller geistigen und vernünftigen Kreatur verehrt werden muss.”
Die ewige Weisheit hat eine zeitliche Gestalt angenommen. Also sollen wir demütig diesen Gang in die Zeitlichkeit folgen:
“Wie er (Gott) mit dem Menschengeschlecht verfährt, das sollen nach seinem Willen Geschichte (historia) und Weissagung (prophetia) kundmachen. Handelt es sich um zeitliche Dinge, sei es vergangene, sei es zukünftige, so ist man mehr auf Glauben als auf Einsicht angewiesen.”
Wegen der Zeitlichkeit gibt es historia, und historia gibt es nun einmal in der göttlichen Schrift, wieviel Abneigung man dafür als antiker Intellektueller – der junge Augustin nicht ausgenommen – auch empfinden mag. Und diese historia, namentlich die des Alten Testamentes, ist zugleich prophetia,d.h. sie weist über sichselbst hinaus in die Zukunft der Wahrheit. Damit ist auch gesagt, das die historia eine bestimmte Stufe in der Geschichte des Menschengeschlechts vertritt, und zwar die erste, puerile Stufe. Sie ist dazu bestimmt, letztendlich in der richtigen Einsicht aufgehoben zu werden, so wie das Leben in der Zeit vom ewigen Leben abgelöst werden wird.
Damit ist eine sehr bestimmte Spannung im Verhältnis von fides und intellectum gegeben. Man hat in diesem frühen Traktat den Eindruck, das intellectum sei das Eigentliche, die fides nur eine Notmassnahme. Das intellectum hat dann auch eine relative Selbständigkeit der fides gegenüber, obwohl es der Hochmut der Philosophen ist, bei ihr anfangen zu wollen, und obwohl auch die fides eine ihr eigene Art des Begriffs kennt. Aber die ‘geschichtliche’ Form, weIche die fides annimmt, ist doch eine vorläufige, und nicht die Sache selbst.
Als kirchlicher Würdenträger hat Augustin später auch anders geredet. Vor allem in seiner großen apologetischen Schrift vom Gottesstaat haben die Nacherzählungen und Erklärungen von historia et prophetia eine viel breitere Gestalt gewonnen (manchmal auch wohl auf Kosten der intellektuellen Selbstbefragung, weIche die |36| früheren Schriften kennzeichnet). Damit ist aber nicht gesagt, dass die Fragen, die man auf den ersten Blick im augustinischen Reden von der ‘Geschichte’ in der Schrift De vera religione aufwerfen kann, dort völlig unangebracht wären.
1.2. Bonaventura
In seinem 40. Lebensjahr (1257), kurz bevor er zum General Obersten seines Franziskaner Ordens gewählt wird, schenkt Bonaventura als magister cathedratus der Pariser Universität seinen Studenten eine kurze Einführung in die Theologie, das Breviloquium. Theologie ist in erster Instanz das Wort, das Gott selbst von sich selbst redet: die heilige Schrift, und weiter dasjenige was patres und doctores zur Erklärung und zur Durchdenkung der Schrift gesagt haben. Der Prologus erklärt zuerst, anhand von Eph. 3:14-19, wie alle Dimensionen des Kosmos im Kosmos der Schrift inbegriffen sind.
Von da aus spricht er dann von der Methodologie jeder Theologie, deren Subjekt Gott selber ist (de modo procedendi ipsius Sacrae Scripturae, §5). Hier versucht Bonaventura, das augustinische Programm nach den Forderungen des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs seines Jahrhunderts neu zu formulieren. In der multiformitas der Schrift, so heißt es, gibt es doch ein gemeinsames Merkmal: wo die Schrift spricht, spricht sie mit Autorität (modo authentico,Prol. 5.1.). Dieses wird folgendermaßen erklärt:
“2. Weil diese Lehre zum Ziel hat, dass wir gute Menschen werden und gerettet werden, und dieses Ziel nicht durch rein vernünftige Überlegungen, sondern vielmehr durch die Geneigtheit des Willens erreicht wird, musste die göttliche Schrift auf solcher Weise überliefert werden, dass diese Geneigtheit bei uns verstärkt werden könnte. Und weil das Gemüt mehr durch Vorbilder (exempla) als durch Argumente (argumenta), mehr durch Verheißungen (promissiones) als durch Beweisführungen (ratiocinationes), mehr durch Gottesfurcht (devotiones)als durch Definitionen (definitiones) erregt wird, deshalb musste die Schrift nicht die definierende, analysierende und konkludierende Form (modum definitivum, divisivum et collectivum) zur Bezeichnung bestimmter Beschaffenheiten eines Gegenstandes anzunehmen, wie das in anderen Wissenschaften geschieht. Sie brauchte ihre eigene Formen (modos proprios), je nach der Beeinflussung des Inneren durch verschiedene Gemütserregungen auf verschiedenen Weisen: so dass, wenn jemand nicht von Geboten und Verboten (praecepta et prohibita) erregt würde, er mindestens durch erzählte Vorbilder (per exempla narrata), und wenn nicht dadurch, er durch weise Mahnungen (monitiones),durch wahrhaftiche Verheißungen (promissiones), durch schreckliche Androhungen (comminationes) erregt würde, damit er jedenfalls so zur Gottesfurcht und zum Gotteslob angespornt sei. (…)” |37|
Diese fast analytisch-sprachphilosophische Feststellung nach den Regeln der antiken Rhetorik könnte aber im Vergleich mit der Philosophie eine Minderwertigkeit der Theologie suggerieren. Das sei aber ferne!
“3. Weil diese erzählende Formen (modi narrativi – sc. der Schrift) keine argumentative Gewissheit (certitudo) bieten können, da partikulare Geschehnisse keinen Beweis gestatten, deshalb versah Gott, um vorzubeugen dass die Schrift wankend sein würde und dadurch die Leute nicht erregen würde, sie mit einer Gewissheit der Autorität (certitudo auctoritatis) statt mit einer der Argumentation (certitudo rationis). Diese Gewissheit ist dermaßen groß, dass sie jeden Scharfsinn der menschlichen Vernunft übersteigt.”
Anschließend bietet Bonaventura noch einen Syllogismus: Autorität kann keine Gewissheit bieten, wenn das sie tragende Subjekt selbst betrügen oder betrogen werden kann; Gott oder der heilige Geist ist aber untrüglich; also ist die heilige Schrift nicht von einer menschlichen Überlieferung her entstanden, aber hat sie die göttliche Offenbarung als Ursache. Anders als in bestimmten Zweigen der heutigen sog. ‘narrativen Theologie’ ist im dreizehnten Jahrhundert die Einsicht in die Narrativität der Bibel also keine rein literaturwissenschaftliche Feststellung, sondern eng verknüpft mit ihrer Charakterisierung als ‘von der Offenbarung überliefert’.
1.3. Melanchthon
Wie Bonaventura befasst sich auch Philippus Melanchthon mit der Frage des Unterschieds zwischen der theologischen und der philosophischen Methode, und zwar in den praefationes der späteren Fassungen seiner Loei Communes. Nur, dass er, wenn er methodumsagt, die Ratio oder Methodenlehre des Erasmus vor Augen hat und sich also in wissenschafts-geschichtlicher Hinsicht in der Atmosphäre der humanistischen Philologie bewegt. Das Ergebnis lautet im 16. Jahrhundert aber nicht sehr viel anders als im 13. Jahrhundert. So heißt es in der praefatio der dritten Fassung (‘aetas’) der loci (1543-1559):
“Die Menschen sind von Gott dergestalt geschaffen, dass sie Zahlen und Ordnungl5 verstehen und in ihren Lernprozessen von heiden – d.h. von den Zahlen und von der Ordnung – sehr ge|38|holfen werden. Deshalb pflegt man im wissenschaftlichen Unterricht (in artibus tradendis) mit besonderer Sorgfalt die Reihenfolge der Teile (ordo partium) zu bezeichnen und Anfangspunkte, Fortschritte und Endungen anzugeben. Diese Erklärungsweise nennt man in der Philosophie Methode, aber diese ist in den Wissenschaften, die nach Beweisführungen angeordnet sind, anders als in der Lehre (doctrina)der Kirche eingerichtet. Denn die Methode der Beweisführung (demonstrativa methodus) geht von den Sachen aus, die den Sinnen unterworfen sind, und von den ersten Begriffen, die Prinzipien (principia) genannt werden. In der Lehre der Kirche wird zwar auch einer Ordnung nachgestrebt, aber nicht nach dieser Methode der Beweisführung. Denn diese Lehre der Kirche wird nicht den Beweisen entnommen, sondern den Worten, die Gott mit gewissen und vorzüglichen Zeugnissen dem menschlichen Geschlecht überliefert hat (ex dictis, quae Deus certis et illustribus testimoniis tradidit generi humano), durch welche er aufgrund seiner unermesslichen Güte sich selbst und seinen Willen offenbart hat.”
Und einige Absätze weiter heißt es dann:
“Nun muss einiges zur Reihenfolge der Teile der Lehre (de ordine partium doctrinae) gesagt werden. Die Bücher der Propheten und Apostel sind selber in der best möglichsten Ordnung geschrieben und sie haben die Glaubensartikel in geeignetester Weise wiedergegeben, gibt es doch eine historische Linie (historica series) in den prophetischen und apostolischen Büchern …”.
Darauf folgt eine Skizze des Verlaufs der Geschehnisse von der Schöpfung bis zum Korpus der apostolischen Epistel. Immer wieder gab es, von Adams Zeiten an, Erneuerungen der Kirche, und immer wieder ließ Gott einen Lehrer aufstehen wie Martin Luther mit der Predigt von Gesetz und Evangelium. An sich ist diese Reihenfolge – die Reihenfolge des Apostolischen Symbolums – keine andere als die der Bücher 11-22 des Gottesstaates Augustins. Und doch gibt es einen Unterschied im Gewicht der historia zwischen Augustinus und Bonaventura einerseits und Melanchthon andererseits. Bei den ersten war sie in einen kosmologischen und metaphysischen Rahmen eingebettet. Jede Geschichte war einerseitsnur Geschichte, und hatte andererseits auch eine prophetische und allegorische Dimension, womit sie über sich selbst hinaus wies. Bei Melanchthon aber, in seiner biblischen Konzentration, musste die biblische Geschichte ohne diese Stütze der Kosmologie und der Metaphysik auskommen. Sie ist völlig auf eigene Kraft angewiesen. Damit muss die historica series des biblischen (in der Reihenfolge der Bücher: Alexandrinischen) Kanons, als Information über den Verlauf der Weltgeschichte, Träger der Zuverlässigkeit der Bibel sein. Aber was ist, wenn die historische Kritik, aufgrund anderer Informationen, diese Zuverlässigkeit in Frage stellt? Kommt damit dann auch die Autorität der Schrift in Wegfall? |39|
1.4. Fazit
Drei Fragenkomplexe hinterlässt uns diese theologiegeschichtliche Skizze zum Stellenwert der historia:
1. Wie steht es mit der zeitlichen Form der historia? Ist sie eigentlich einpudendum, dazu bestimmt aufgehoben zu werden? (Augustin)
2. In der klassischen Theologie sind die historiae der Bibel immer mit ihrer auctoritas verknüpft gewesen (Augustin, Bonaventura, Melanchthon). Lässt sich das halten?
3. Die Bibel wurde in ihrer historica series (Melanchthon) als Buch der Information zur Heilsgeschichte und damit zugleich auch der Weltgeschichte gelesen. Was passiert nun, wenn in der Neuzeit diese beiden Funktionen auseinander geraten?
2. ‘Erzählende Philosophie’ (Rosenzweig, Miskotte)
Der 34-jährige niederländische Pfarrer Kornelis Heiko Miskotte sah 1928 in einer Vitrine der Verleger der jüdischen Gemeinden auf der Pressa zu Köln das damals fast noch völlig unbekannte Buch Der Stern der Erlösung des nur kurz danach jung verstorbenen jüdischen Denkers Franz Rosenzweig. Gleich bei der Lesung im Pfarrhaus zu Meppel muss er in diesem Buch ein tiefes Wiedererkennen der Fragestellung empfunden, und einen Gesprächspartner für sein ganzes Leben sowie eine richtungweisende Anregung für die eigene (im weitesten Sinn) ‘theologische’ Existenz gefunden haben. Ich bin davon überzeugt, dass es Rosenzweig war, der ihm die Instrumente verschafft hat, um die eigenen Intuitionen zur Bedeutung des Erzählens für die Theologie zu durchdenken.
In diesem Paragraphen wird nun zuerst skizziert, was der Einsatz der ‘Erzählenden Philosophie’ Rosenzweigs, von der Rezeption Miskottes her gesehen beinhaltet, und danach deren Verarbeitung durch Miskotte selber angedeutet. |40|
2.1. Was Miskotte bei Rosenzweig gefunden hat
Wenn wir unsere drei Fragen der Einleitung wieder aufnehmen, dann finden wir bei Rosenzweig in allen drei Bereichen klare Positionen und eine klare Wegweisung vor.
2.1.1. Die zeitliche Form der Erzählung
In einem Zeitschriftartikel mit dem (Miskotte sagt: “herausfordernden und wehrlosen”) Titel “Das neue Denken”, 1926 erschienen, gibt Rosenzweig nachträglich Rechenschaft über den Stern der Erlösung – ein Buch, das er ohne Vorwort herausgegeben hat und auch weiterhin ohne Vorwort der Welt preisgeben will. Nachdem er beschrieben hat, wie er im ersten Band auf die alte philosophische Frage nach dem Prinzip von Gott, Welt und Mensch eingegangen ist, indem er die Elemente (Gott, Welt, Mensch) auseinander hält, kommt er auf die Methode des zweiten Bands zu sprechen. Denn die durch Hellas herübergereichten Dinge werden erst erfahren, wenn etwas mit ihnen geschieht, wenn sie als Personen in einem Drama auftreten. Und davon wird jetzt die Rede sein: “Eine erzählende Philosophie hat Schelling in der Vorrede seines genialen Fragments ‘Die Weltalter’ geweissagt. Der zweite Band versucht sie zu geben.”
Fr.W.J. Schelling hatte seinen eigenen identitätsphilosophischen Ansatz hinter sich gelassen, wie auch die (Fichtesche, und eigene) Bindung der Freiheit an das Absolute, und hatte die Entdeckung gemacht, dass Gott in seiner Freiheit den dunklen Grund in der ewigen Natur überwindet und damit das Dunkel zur Vergangenheit macht. Rosenzweig war schon früh von dieser Denkfigur beeindruckt. Es ist wohl wahr, dass diese merkwürdige Stimme im deutschen Idealismus sich dabei kaum ein erneuertes Christentum, und sicherlich kein Judentum gedacht hat, sondern eine neue Religion, mit einer Mischung von neu zu bildender heidnischer Mythologie und Offenbarung. Aber Rosenzweig hat bei ihm zu seiner Freude dieses gefunden, dass “Gott nicht ist, sondern nur sein wird”, das heißt “den Begriff Gottes als eines |41| ewig nur Werdenden”. Miskotte sagt dazu: “Durch diese Lehre der Natur und der Freiheit in Gott ist Schelling in die Tiefe dessen, was wir ‘Geschehen’ nennen, gekommen; die Geschichte ist wieder zum Feld der nicht nur kulturellen, nicht nur existentiellen, sondern der ewigen Entscheidungen geworden. Es ist wohl richtig, dass Schelling manchmal zu ungeschützt von einem ‘Werden Gottes in den Weltaltern’ redet, aber die Tendenz ist doch, die Welt als einen Moment des göttlich-tatsächlichen Leben Gottes zu verstehen. So ist das Änigma der Zeit (…) das Tor zu einer Welt des Lichts und der Dauer, der Sinngebung und der Humanität.” Und bei seiner eigenen Schelling-Lektüre bemerkt Miskotte: “Gott macht das Dunkel zur Vergangenheit. Kann dies noch Philosophie heißen? Müsste die Theologie dieses Thema nicht aufgreifen, aber das Dunkle in der Welt lassen und beschränken, wie Rahab, wie Lifjathan?”
Die Zeit als ein Tor zu einer Welt des Lichts. Also soll die Philosophie sich der Zeitform nicht schämen. Der Bericht einer Geschichte ist nicht, wie bei Augustin und, in den Augen Schellings, bei seinen idealistischen Genossen eine Konzession des Denkens, eine notwendig zu tragende Unzulänglichkeit, sondern das Denken mussselber diese Form annehmen. “Was heißt denn Erzählen?”, fragt Rosenzweig. “Wer erzählt, will nicht sagen, wie es ‘eigentlich’ gewesen, sondern wie es wirklich zugegangen ist. (…) Der Erzähler will nie zeigen, dass es eigentlich ganz anders war (…), sondern er will zeigen, wie das und das, was als Begriff und Name in aller Mund ist (…), eigentlich geschehen ist. Auch ihm löst sich da etwas bloß Wesenhaftes, ein Name, ein Begriff, auf, aber nicht in ein anderes ebenso nur Wesenhaftes, sondern in seine eigene Wirklichkeit, genauer seine eigene Verwirklichung. Ist-Sätze wird er überhaupt kaum bilden, selbst War-Sätze (…) höchstens zu Anfang [‘das Eswareinmal, mit welchem alle Märchen anfangen, aber eben nur anfangen’]; Substantive, also Substanzworte, gehen in eine Erzählung zwar ein, aber das Interesse liegt nicht auf ihnen, sondern auf dem Verbum, dem Zeit-Wort.” “Die Zeit nämlich wird ihm ganz wirklich. Nicht in ihr geschieht, was geschieht, sondern sie, sie selber geschieht.” “Wenn etwa das alte Denken sich das Problem stellte, ob Gott |42| transzendent oder immanent sei, so versucht das neue zu sagen, wie und wann er aus dem fernen zum nahen Gott wird und wieder aus dem nahen zum fernen.” “Sie (die neue Philosophie) lehrt, mit Goethe zu sprechen, das ‘Verstehen zur rechten Zeit’.”
Im Mittelteil des Sterns ist darum auch “die Reihenfolge nicht bloß wichtig, sondern sie ist das eigentlich Wichtige, was mitgeteilt werden soll.” Schöpfung – Offenbarung – Erlösung: so muss man es sagen – und das letzte Glied, die Erlösung als Vollendung der Schöpfung, gehört zu dieser Erzählung, auch wenn sie kaum erzählbar ist, und ist jedenfalls nicht ihre Aufhebung – wie man bei Augustin vermuten könnte. Die historia ist hier die Sache selbst – und wieder bekommt man beim jungen Augustin einen anderen Eindruck. Miskotte sagt dazu: in dieser Erzählung werden die gegebenen Elemente des ersten Bandes benannt und in einer gegebenen Beziehung verbunden, und so werden die Zeiten überflügelt, die Räume integriert und erst jetzt die Wohnung der Erde wirklich bewohnbar gemacht: viele kleine Erzählungen finden ihren Platz in ihr, in dieser – Miskotte, unwissend von der späteren Kritik Lyotards, suggeriert: – großen Erzählung.
2.1.2. Die auctoritas der Schrift und die auctoritas der Gemeinde
In der Einleitung zum zweiten Band des Stern der Erlösung – “Über die Möglichkeit das Wunder zu erleben” – distanziert Rosenzweig sich scharf von der ‘alten’ Theologie, die “seit ihrer Wendung vor rund hundert Jahren versucht hatte, ohne auctoritas zu leben”. “Denn die ‘historische Theologie’ galt ihr als die Polizeitruppe gegen Angriffe, die ihrem lebendigen Gegenwartsbewusstsein etwa aus der ‘toten Vergangenheit’ des verbum scriptum oder auch der ecclesia visibilis drohten; aber nicht als positive, erkenntnismässige Begründerin ihrer Wahrheit, nicht als auctoritas.” Das heißt: sie sah vielleicht wohl richtig, wie bei Augustin die Autorität immer mit der Macht der Kirche verknüpft (und von der Philosophie umgeben) war, und wie in der Reformation mit einer Berufung auf die ‘historica series’ des Kanons eine ähnliche Macht (von der “Obrigkeit” umgeben) ausgeübt wurde, aber sie war der Machtausübung ihres eigenen Historismus gegenüber völlig verblendet. “Aber das Wichtigere, die Grundlage einer auctoritas, glaubte sie sich sparen zu können. So schwebte sie in der Luft. Denn eifersüchtig wachte sie über die reine Gegenwärtigkeit des Erlebens; vor jeder Berührung mit dem harten, wohlgegründeten Erdreich der Wahrheit und gegenständlicher Wirklichkeit musste sie beschützt werden.” Die Folge: sie |43| hatte wohl ein Ideal, aber der Wirklichkeit des Erzählten entzog sie sich. Deshalb trägt der zweite Band, wie Miskotte sagt: “das Motto, die Losung, den Kampfruf”: in theologos! Positiv besagt Rosenzweig mit dieser seiner Kritik noch einmal, was von ihm mit der ‘erzählenden Philosophie’ des zweiten Bandes gemeint ist, nämlich, nachdem die “nicht konstitutive auctoritas der Geschichte” zusammengebrochen ist, “sehnsüchtig Ausschau zu halten” nach der echten, zu ihrer neuen Form passenden auctoritas: das echte Wunder. Denn die richtige Erzählung rechnet mit der Wirklichkeit und der Wahrheit desjenigen, was zu erwarten ist. Und deshalb ist die Gewissheit – die, wie wir sahen, bei Bonaventura und Melanchthon als certitudo mit der auctoritasverbunden war – weniger mit der reinen Gegenwart des Erlebens verknüpft (wie die ‘liberalen’ Theologen des 19. Jahrhundert meinten), als vielmehr mit dem Harren, dass “das Reich des Edlen endlich komme”.
2.1.3. Die biblische Erzählung und die Frage der Historizität (oder: ‘story’ and ‘history’)
In bestimmter Hinsicht, so hörten wir, ist die Reihenfolge Schöpfung – Offenbarung – Erlösung eine notwendige historica series. Aber sie ist es, wegen der ‘Grammatik’ des Wortes, das die Zeiten und die Gezeiten ordnet, vielleicht auch wegen einer Korrespondenz mit dem Rhythmus des menschlichen Herzens, sie ist es nicht aufgrund einer Korrespondenz mit einer Tatsächlichkeit quasi außerhalb des Wortes. In der von Martin Buber zusammengestellten Textsammlung “Die Schrift und ihre Verdeutschung” (1936) findet man verschiedene literarische Beobachtungen, die Rosenzweig während der mit Buber gemeinsam unternommenen Arbeit der Bibelübersetzung gemacht hat, und die dem ‘erzählenden Denken’ im Stern der Erlösung wirklich etwas neues hinzufügen. Es handelt sich dabei zum Beispiel um die äußerst wichtige Tatsache, dass der Text zum Vorlesen bestimmt ist und dann auch wie zum Vorlesen wiedergegeben werden soll. Oder es geht um die Frage: “wann erzählt |44| man?” Die Antwort: “wenn etwas geschehen ist”; “der Erzähler muss den Hörer in eine Vergangenheit versetzen, deren unmittelbare Vorvergangenheit das Erzählte ist. Der Hörer muss so zuhören, als ob das Erzählte nicht irgendein Vergangenes wäre, sondern das Vergangene, das ihn eben gegenwärtig angeht.” Oder es handelt sich um “das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen”, wobei diese Erzählungsart immer eine Pointe, eine Spitze hat, und diese Spitze ist beim Beobachten der ‘Stichwörter’ aufzuspüren. Diese Entdeckung der ‘Stichwörter’ hat Miskotte wohl für sich selbst übernommen, meistens aber weniger auf der narrativen, eher auf der ‘phänomenologischen’ Ebene (siehe unten). Aber in den Kreisen seiner Schüler hat sie zu vielen exegetischen Spezialarbeiten inspiriert.
2.2. Die Bedeutung des biblischen Erzählens bei Miskotte
Von einem ‘erzählenden Denken Miskottes’ zu reden, hätte zur Voraussetzung, dass der Theologe Miskotte zunächst ein Denker sei. Aber was ist ein Denker? Das ist schon bei Rosenzweig nicht so einfach zu sagen. Dieser ist zwar ein großer und origineller Denker, aber zugleich betont er in seinem ‘Denken’ immer (gegen den Idealismus), dass die Sprache, d.h. das gesprochene Wort, dem Denken voran geht, es weckt, es anregt, und dass vor allem in der Schrift das ‘Gespräch’ zwischen Gott und Mensch im Rahmen des Bundes bestimmte Denkformen mit sich bringt. Aber, wie hat Miskotte selbst sich verstanden? Sein letztes großes Buch, Wenn die Götter schweigen, hat er, wie er sagt, geschrieben im Hinblick auf “Zeugnis und Interpretation”, und das heißt konkret: für diejenigen, die als “Interpreten und Zeugen” (in dieser umgekehrten Reihenfolge) dieses “interpretieren und bezeugen” in ihre kerygmatische und didaktische Arbeit umsetzen müssen. Bezeichnend für die Weise, in der Miskotte sich selbst sowie seine Leser, für die er offenbar in erster Linie schreiben wollte, verstanden hat, ist, dass er das fremde Wort in der heutigen Kultur bezeugen und es so auch zum Verständnis verhelfen will. Er will auch Dolmetscher |45| dieses Wortes sein und so jetzt den Namen verkünden. Fast am Ende des ‘kleinen Zeitspiegels’, mit dem das Buch anfangt, erwägt Miskotte die Möglichkeiten einer gereinigten Vernunft zur Heilung des Zeitgeistes, aber folgert dann doch: “So wird unser Ausgangspunkt doch der Text der heiligen Schrift bleiben müssen”. Der Zeuge ist selber angeredet worden und er ist an diese Anrede gebunden. Deshalb hat Miskotte sich Karl Barth zu seinem Meister in der christlichen Theologie gewählt, weil bei Barth nicht die kulturellen Bedingungen der Möglichkeit einer Interpretation, sondern der “Vorrang der Wirklichkeit” des Wortes dieser Schrift selbst die Arbeit, auch die Denkarbeit des Interpreten und des Zeugen bestimmen. Miskotte hat dabei in dieser Hinsicht immer intuitiv eine Wahlverwandtschaft zwischen Barth und Rosenzweig vermutet – trotz der Tatsache, dass bei Barth eine sprachphilosophische Ausarbeitung fehlt. Aber es ist ihm niemals gelungen seinen Basler Freund davon zu überzeugen und vielleicht auch wohl deswegen hat er die Möglichkeiten und die Probleme die sich hier ergeben niemals völlig zu Ende gedacht.
In wieweit kann Miskotte nun die Bezeichnung “erzählende Philosophie” für seine eigene Arbeit übernehmen? In Wenn die Götter schweigen habe ich mindestens zwei Stellen gefunden, wo er davon redet. Die eine Stelle verwendet den Ausdruck distanziert, die andere positiv-herausfordernd.
Eine erste Stelle handelt vom NAMEN als dem Inbegriff der Einheit der beiden Testamente: |46|
“Der unaussprechliche NAME ist nicht anders als in einem qualifizierten Geschehen erkennbar. Daher besteht ein Zusammenhang zwischen dem offenbar-verborgenen Charakter des NAMENS und dem erzählenden Charakter des Alten Testaments.” Dies wird dann anhand der drei Teile des rabbinischen Kanons – Thora, Prophetie, Ketubim – weiter ausgeführt, und dann heißt es: “Alles hängt an der Präsenz und dem wirklichen kreatorischen HandeIns JHWHs. Darum kann man allenfalls, und nicht ganz ohne Ironie, mit Rosenzweig von einer ‘erzählenden Philosophie’ sprechen.”
Hier hat offenbar die barthsche Seele in der Brust Miskottes für einen Augenblick das Übergewicht bekommen. Zwar kann der NAME am besten bezeugt werden wenn seine Taten erzählt werden, und ist die von der Schrift selber evozierte Denkform offenbar eine erzählerische, aber keinen Moment darf das so verstanden werden, als ob es in der Schrift eine eigene Denkweise, geschweige denn eine eigene ‘Philosophie’ gäbe.
Die zweite Stelle findet sich im Abschnitt “Der Überschuss” (des Alten Testaments im Vergleich mit dem Neuen), im Kapitel “Die Erzählung” (das auch einen Paragraphen “Das Erzählen” enthält), worin das hier Gesagte breiter entfaltet wird. Dieses Kapitel enthält die folgenden Thesen: 1. “Für eine spätere Generation wird es beinahe unbegreiflich sein, dass akademische Wissenschaft die sakrale Erzählung (um nicht zu reden von der Verkündigung der Erzählung, um ganz zu schweigen von der christlichen Verkündigung der Erzählung) zu reduzieren gewusst hat auf Geschichtchen, die uns in unserer Existenz auf keinerlei Weise angehen (…) [und] dass die Prediger sich dadurch haben einschüchtern lassen” (WGS 203); 2. “Wir verlieren die Spur, wenn wir die Erzählung als einen Mythos verstehen, der sich um einen ‘historischen’ Kern gebildet habe, als die Umkleidung einer allgemeinen |47| Wahrheit, als die Illustration einer Ermahnung” (WGS 204) – Rosenzweig im Himmel jauchzet –; 3. “zu einem Predigen aus dem Alten Testament kann es nicht kommen, wenn man die Sphäre der Gottes-Erzählung verlässt. Wohl ist es wahr, dass Predigen nicht darin aufgehen kann, dass man erzählt, wie es war, aber es ist ganz gewiss ein solchesErzählen, dass der Hörer verstehen kann, wie es ist, wie es steht zwischen Gott und Mensch in der ‘geschehenden Geschichte’ [ein Ausdruck von Martin Buber, rrb].” (WGS 205); 4. “So werden wir wohl entdecken, dass wir mit einem neuen kindlichen Sinn bekleidet werden müssen. Bei uns westlichen Intellektuellen geht das nicht anders als auf dem Wege über die Reflexion” – das klingt wohl anspruchsloser als ein Programm “erzählender Philosophie” –; “so darf sich die Theologie nicht erdreisten, den Kindermord des bürgerlichen Westens auf die Spitze zu treiben” – welch ein geistliches Leiden findet hier einen Ausweg! (WGS 206). 5. “Nach unserer Überzeugung ist die Bibel ihrem wesentlichen Bestand nach eine Erzählung, die wir weiterzuerzählen haben. Und so kann es geschehen, dass sich die Erzählung – sozusagen in einer ‘unblutigen Wiederholung’ – vollzieht an denen, die uns hören.” (WGS 208); 6. “Gut erzählen heißt so erzählen, dass die Mitte, der Ursprung und das Ende aller Dinge von ferne sichtbar werden; auf Christus, auf diese bestimmte Gegenwart Gottes ist jedes Menschenleben und -streben bezogen – und mit Ihm auf den Anfang und das Ende” (WGS 208) – ein christliches Amendement zum zweiten und dritten Teil des Sterns der Erlösung; 7. “Daran hängt die Kraft der aletheia; denn Wahrheit liegt nirgends, Wahrheit geschieht, kommt auf uns zu, verwirklicht uns in ihren Prozess” (WGS 209) – für Miskotte, wie für Rosenzweig, also keine narratioohne auctoritas. 8 Und dann (bevor es noch zu einigen praktischen Anweisungen über die Predigtpraxis kommt) heißt es schließlich: 8.:
“‘Erzählende Philosophie’ bringt daher den Systematiker oft in Verwirrung; ihm stellt sich der Erzähler bisweilen dar als ein Artist, ein Schauspieler, als ein rühriger Schöngeist; ein Schwärmer, bisweilen als ein Haudegen der Einseitigkeit, dann wieder als ein Stümper in der Kunst der Verfeinerung, oft als Wirrkopf und Lärmschläger. Die Dogmatik kommt dem nicht bei, es sei denn, sie selbst wäre umgesetzt in eine Denkweise, die abgestimmt ist auf die Taten Gottes, auf den nicht geschlossenen, sondern offenen Raum, den Schauplatz der Wohltaten und der Gerichte. Es zeigt sich wohl, dass gerade hier Sachlichkeit und Ordnung herrschen, nämlich die, welche in dem Gang der Gotteserzählung selber liegen.” (WGS 210) |48|
Ob Miskotte sich selbst für einen solchen ‘erzählenden’ Dogmatiker gehalten hat? Oder zuminstens Karl Barth? (Er konnte schön vom ‘kindlichen’ im Barthschen Charakter reden). Es bleibt bei Suggestionen.
3. Lehre
In der soeben gegebenen Wiedergabe des Kapitels “Die Erzählung” ist ein bestimmter Aspekt bewusst übergangen worden, weil er eine selbständige Besprechung erfordert. “Die Erzählung ist, so wie sie geht, implizit Lehre. Man hat nichts hinter ihr zu suchen, man hat keine Moral an sie anzuhängen, man braucht sich nicht nach den ursprünglichen Erlebnissen der beteiligten Personen umzusehen” (WGS 202). “Wir haben entdeckt, (…) dass die Lehre anoothen, von oben kommt, aus der Ordnung der göttlichen Wahrheit. Wir werden allmählig von dem aus dem 19. Jahrhundert ererbten Wahn befreit, dass a) die Erzählung ‘nur eine Geschichte’ sei und dass b) die Lehre sich in einigen Hauptbegriffe zusammenfassen lasse” (WGS 203). Gerne hat Miskotte sich hier der Einsicht der Synagoge angeschlossen, dass ‘Thora’ nicht mit ‘Gesetz’ zu übersetzen ist. Sie ist vielmehr “heilige Lehre, Unterweisung für das er- wählte Volk”. “Dabei muss ‘Lehre’ als der Akt des Lehrens verstanden werden und Unterweisung als der Niederschlag des Lehrens, so aber, dass der Akt darin noch mitgespürt wird.” Vieles gehört zu ihr: die Erzählungen der Erzväter, das Leiden in Ägypten, der Zug durch die Wüste, aber auch die Gebote, Gedichte, Geschlechtsregister, Sprüche, “Sie lehrt uns beständig die Gabe und die Aufgabe des Bundes betrachten.”
Auch hier hat Rosenzweig wieder eine Richtung gewiesen, aber inwiefern? Die Form der biblischen Erzählungen, sagt dieser, zielt auf eine Pointe: “hier soll ja […] die Erzählung, soweit sie nicht Botschaft ist, also episch, sondern anekdotisch, also Lehre, das dialogisch Zweite sein: Antwort, nicht Frage, göttlicher Widerspruch und Zusatz zu eigen-menschlichem Spruch und Satz. Als Botschaft tritt sie an den Men|49|schen heran, aber als Lehre muss er sie herausfordern. Offenbarung geschieht ihm, aber Gebot erzwingt er durch sein Tun.” “Nicht die gehörte Erzählung darf ihn (den Hörer) aus seiner Heutigkeit unter den Sinai entrücken; erst sein tätiger Gehorsam rückt ihm den Sinai in nächste Augennähe – das Gesetz also, nicht die Geschichte, 2. Mose 20, nicht 2. Mose 19.” Das alles klinget gut-jüdisch: die halachahat das Übergewicht über die haggada; die haggada ist frei, die halacha verpflichtet. Und “das Gebot erzwingen”: würde Miskotte das nicht als ‘Korrelationslehre’ verwerfen? (siehe unten).
Die Auffassung der Erzählung als Lehre ist also nicht eindeutig. Aber gerade das ist für Miskotte wahrscheinlich auch wichtig. Die Entdeckung der Lehre in der Bibel erfordert ja Forschung, Nachfrage. Sie ist nicht gleich Verkündigung, aber befindet sich im Vorfeld der Verkündigung. Sie braucht Dauerhaftigkeit und Zucht, mehr als einen großen Glauben, obwohl sie eine eigene Art der Freude mit sich bringt, Thorafreude.
3.1. ‘Anschauen’ – ‘Sehen’ – und ‘Hören’
So kommt das, was im ‘Lehrhaus’ versucht wird, in die Nähe dessen, was Miskotte mit der von ihm entwickelten – und sehr spezifisch umschriebenen – ‘phänomenologischen’ Methode beabsichtet hat. Schon auf früheren Barth-Tagungen war davon die Reden so dass ich mich hier jetzt kurz fassen kann.
In der Exegese erkennt Miskotte drei Stufen, die nicht zu scheiden, wohl zu unterscheiden sind. Zwischen der literar-historischen, bei ihm in der Praxis oft auch religionsgeschichtlichen (‘Anschauen’) und der im eigentlichen Sinne ‘theologischen’ Exegese, in der es auf die Entscheidungen des Glaubens ankommt (‘Hören’ und ‘Gehorsam’) schiebt er ein Zwischenreich ein, die phänomenologische Betrachtungswei|50|se (‘Sehen’). Hier handelt es sich um die Wesensschau eines Textes oder eines Konglomerats verschiedener Texte, anband des Aufspürens deren Sinnstrukturen, d.h. um eine Einfühlung, die Zusammenhänge und Tiefen zu ergründen versucht. Die Analyse der ‘Grundwörter’ (vergleiche Rosenzweigs ‘Stichwörter’) bietet da eine Hilfe, aber es geht letztlich darum, zu unterscheiden worauf ein Text hinaus will, welche geistliche Welt er evoziert. Völlig ‘neutral’ kann eine solche Schau niemals sein: es ist der Theologe, der sie ausübt und dieser bringt immer sein eigenes theologisches Vorverständnis mit. Aber doch wird er in einer ‘epoche’ versuchen, seine Werturteile zumindest vorläufig beiseite zu lassen. Er will ja verstehen,und wenn möglich mit den Anderen zusammen verstehen. Vielleicht kann man sagen, dass diese Methode bei Miskotte eine ähnliche Funktion übernimmt, als bei Augustin das intellectum im Unterschied zufides et auctoritas (hatte doch in der späten Antike auch das neoplatonische intellectum eine religiöse Dimension): es ermöglicht eine Selbstbetrachtung in einer gewissen Distanz vom eigenen Engagement, es betrachtet gleichsam von außen, was da eigentlich passiert, wenn man versucht zu glauben und zu erhorchen ‘was da steht’.
Damit ist auch die folgende Einsicht gegeben: es gibt nicht nur eine Erzählung, von der ein Mensch angeredet wird, es gibt viele solche Erzählungen, welche untereinander um die Seele kämpfen. Vielleicht darf man sagen: sowie der Gott Israels als der eine Gott inmitten vieler Götter auftritt und Gehör bekommen will, so erscheint die einmalige biblische Erzählung inmitten vieler Erzählungen mit manchmal strittigen, manchmal parallelen, manchmal einander kreuzenden Tendenzen und Linien, wenn sie als Lehre mit auctoritas um ganz bestimmte Taten fragt. Für Miskotte sind im wesentlichen zwei Typen solcher Erzählungen wichtig. Seine Dissertation Het Wezen der Joodse Religie (1932) läuft auf einen phänomenologischen Vergleich der geistlichen Strukturen hinaus – nicht des Neuen Testaments, nicht der Dogmatik der Kirche, sondern – des Alten Testaments mit denen des späteren Judentums, und am Ende der dreißiger Jahren bietet Edda und Thora einen Vergleich zwischen dem germanischen Heidentum und – wiederum, nicht: dem Christentum, sondern – der ‘heiligen Unterweisung’ der israelitischen ‘Bücher der Weisung’. Die eine Erzählung kontrastiert also hier wie dort mit einer anderen Erzählung, und damit kontrastiert auch Lehre mit Lehre. Ziel ist in beiden Fällen eine Diastase, ein (wie es im zweiten Fall heißt – am Anfang der Nacht des ‘Dritten Reiches’ mehr als vorstellbar) Ende des üblichen ‘Synkretismus’, eine ‘Scheidung der Geister’. Man kann fragen, ob dieses Ziel mit der phänomenologischen Methode, oder besser gesagt mit dem Übergang vom ‘Sehen’ zum ‘Hören’, notwendig gegeben ist und sich für alle möglichen Kontexte wirklich zwingend aufdrängt. Auf diese Frage wird der nächste Paragraph näher eingehen. An diesem Punkt angekommen |51| soll aber erst an zumindest einem Beispiel das für die von Miskotte tatsächlich praktizierte Arbeitsweise kennzeichnendes Ergebnis kurz dargestellt werden.
3.2. Beispiel: die ‘Lehre der Korrelation’
Zur Aufhellung der Methode Miskottes, als phänomenologischer Vergleich der Erzählungen, wäre der Fall Edda en Thora, wo es nachweisbar an beiden Seiten vergleichbare narrative Figuren gibt, an sich am durchsichtigsten. Dennoch sei hier, aus Gründen die im letzten Paragraphen hoffentlich klar werden, die Dissertation als Beispiel gewählt.
Die Weise, in der Miskotte das ‘Wesen’ des Judentums auf den Nenner des (namentlich von Hermann Cohen im gemeinten Sinn geprägten) Begriffs der ‘Korrelation’ gebracht hat, ist in den letzten Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht auf Kritik gestoßen. Diese Kritik hat in vieler Hinsicht ihr gutes recht, aber es ist hier nicht der Ort, sie zu besprechen oder sie weiterzuführen. Mitgeteilt sei hier nur, was Miskotte mit ‘Korrelation’ meint und welche “clash between stories” dieser Begriff in seinen Augen hervorruft.
Was ist ‘Korrelation’? ‘Der Name’ ist der Teil oder die Offenbarung Gottes, die in der Welt des Leids zur Geltung gebracht werden soll. Gott braucht Israel, und dies nicht nur zur Heiligung der Welt, sondern auch zur Heiligung seines Namens. “‘Man wird weiter nirgendwo noch Leid tun…’: darin ist die Heiligung vollbracht” (WJR 466). “Gott kann nicht zum König werden dann durch uns. Nach Buber ist das eine so einfache Wahrheit, dass, wer hier zögert in seinen Augen eine Gefahr für die Gesellschaft ist (Buber: ‘Unsere Lehre ist: Es gilt nicht, dass er mich erwählt hat, sondern dass ich ihn erwähle: Jene [sc. die christliche] Lehre hindert den Menschen an der Entscheidung, die Jesus verkündete: Metanoeite’)” (WJR 474). “Die Hypostasierung der Thora und die Verewigung des Volkes gehen hand in hand. Keine kritische Instanz leuchtet mehr auf über das Volk und gegenüber dem Volk; im Gegenteil: das Volk sieht sein Wesen in ‘seiner’ Thora wiederspiegelt und sieht die eigene Zukunft in ‘seinem’ Gott versichert” (WJR 507).
Im Kontrast dazu heißt es: “Im (sc. apostolischen) Kerygma durchbricht die Prädestination den Bund und relativiert ihn, im Judentum fixiert der Bund die Prädestination” (WJR 528). “Deshalb ist die moralische Minderwertigkeit vieler ‘Bibelheiligen’ (…) für die Kirche ein Zeugnis, dass es sich in der Schrift um die Leugnung der Korrelation handelt. In soweit sie moralisch minderwertig sind, verweisen sie auf das Urteil Gottes und insoweit sie trotzdem Heilige, Abgesonderte, Berufene sind, |52| verweisen sie auf Gottes Gnade” (WJR 547-548).79 “Wer die Prädestination verrät, ist letztendlich nur in seiner eigenen Gesellschaft” (WJR 554). Bleibt also nur übrig: ‘Scheidung der Geister’? Eine Entscheidung gegen die jüdische Religion, die, wenn das ‘Sehen’ ins ‘Hören’ übergeht, notwendig wird?
4. Offener Raum
Man wünschte sich einen Text Miskottes, in welchem er sich programmatisch die Frage stellt, ob die Theologie, nach einer sorgfaltigen phänomenologischen Analyse der unterschiedlichen Erzählungen und der in ihnen implizierten ‘Lebensgefühle’und ‘Lehren’, wirklich nichts anderes kann als sich gegen die Pointen der Erzählungen der Anderen zu ‘entscheiden’. Wenn die Dogmatik der Kirche umzusetzen sei “in eine Denkweise, die abgestimmt ist auf (…) den nicht geschlossenen, sondern offenen Raum, den Schauplatz der Wohltaten und der Gerichte” der biblischen Erzählungen, von denen sie lebt, ist es dann von vornherein ausgeschlossen, dass in diesem Raum auch die Erzählungen der Anderen, wie widerspruchsvoll auch immer, eine Wohnung finden? Kann die Entscheidung, auf welche der Weg vom ‘Sehen’ zum ‘Hören’ hinausläuft, nur eine Verwerfungder Erzählungen der Anderen beinhalten, und damit eine “clôture”, eine Verfestigung der ‘eigenen’ Erzählung – welche doch niemals die eigene war! – bewirken, oder sieht der durch die Erzählung neu geschaffene Raum – gerade im Licht der Erzählung von der Prädestination der Verworfenen! – doch wesentlich anders aus?
Einen solchen programmatischen Text Miskottes gibt es zwar auf der Ebene der ‘erzählenden Philosophie’ nicht, aber auf der Ebene der Philosophie als solchen sehr wohl. Ich meine die 1951 zum dies natalis der Leidener Universität gehaltene Vorlesung: “Barth über Sartre”.
4.1. “Barth über Sartre”
Diese Vorlesung bespricht den Exkurs in der Kirchlichen Dogmatik, in welchem Jean-Paul Sartre (namentlich wegen seines Buches L’Etre et le Neant, 1943), zusammen mit Martin Heidegger, zu Wort kommt im Zusammenhang der “Erkenntnis des Nichtigen”. Miskotte sagt: lieber, als im allgemeinen Sinn vom “Verhältnis von Theologie und Philosophie” zu reden, zeige ich an dieser konkreten Begegnung |53| paradigmatisch, wie ein solches Verhältnis wohl oder nicht zustande kommen kann (154). Auch hier ist nicht die Frage des ‘Nichtigen’ selbst unser Thema, und ebenso- wenig die Frage der Richtigkeit der Sartre-Interpretation Barths oder der Barth-Interpretation Miskottes, sondern nur das Paradigma, das in diesem Text zu entdecken ist. Das Ergebnis sei unter sieben Gesichtspunkten zusammengefasst:
1. Die Frage des Verhältnisses Philosophie – Theologie kann nicht, wie in der neo-thomistischen Scholastik üblich, schon in den Prologomena gelöst werden (156). Es gibt keine Arbeitsteilung der Bereiche im voraus, keine vorgegebene Wechselbeziehung der Methoden. “Es ist nicht so, dass die eine das Humanum und die andere das Divinum vertritt; das Philosophieren lebt nicht per se außerhalb des Wortes Gottes und das Theologisieren ist nicht per se dem Wort Gottes gemäss, z.B. wegen eines ‘schriftgemäßen’ Ausgangspunktes.” “Die Begegnung findet statt an einem konkreten Ort, in einem bestimmten Locus (in diesem Fall: dem Locus der Vorsehung) zwischen Menschen, welche sich selbst und einander Rechenschaft geben.” Diese Solidarität ist keine herablassende Geste, sie ist die Gemeinschaft alles Fleisches, alles menschlichen Fragens. Sie “ereignet sich um Christi Willen. Sie darf niemals in abstracto bezeugt werden; sie soll von Problem zu Problem, von dem einen Locus zum anderen durchgeführt werden” (155).
2. “Diejenigen die hier das Wort bekommen, dürfen sicher sein, dass sie nicht aus- gebeutet werden. Nicht um sie zu widerlegen! Auch nicht um sie positiv zu gebrauchen und sie vor den Siegeswagen der Theologie zu spannen! Das eine noch das andere wäre eventuell unmöglich. Es ist uns aber verboten, weil das Wort Gottes (wenn es so etwas gäbe) nicht konkurriert und weil die theologische Besinnung ein Dienst ist an das Wort, das selbstverständlich nicht konkurriert” (155-156).
3. Der Philosoph (der zugleich als “Interpret des modernen Lebensgefühls” auftritt, 153) bekommt hier das Wort “anlässlich einer theologischen Verlegenheit” (157). Einerseits bedeutet das, dass die Theologie selbst die Initiative behält, andererseits dass diese Verlegenheit nicht als ein, gleichsam nur-technisches, Handikap aufgefasst wird, sondern als eine uns von Gott bereitete Sackgasse, als eine Aporie des menschlichen Geistes, die beide, den Philosophen und den Theologen, angeht. “Was der Philosoph zu sagen hat, wird nicht von vornherein in einen theologischen Rahmen gespannt, es sei denn im Rahmen dieser – besonderen – Verlegenheit.” “Wir erreichen hier also einen Punkt, an dem nicht die Offenbarung vor dem Gericht der Vernunft Rechenschaft abzulegen hat, sondern an dem die Philosophie gefragt wird, ob sie vielleicht das, was die Offenbarung meint, aus ihren eigenen Vernunftgründen” (“in haar rede-beleid”, 158) verantworten könnte.
4. Der Philosoph wird nicht nur zur Sprache gebracht, er redet selber, und er bekommt auch die Gelegenheit, zu Ende zu reden (153). Dieses kann zur Folge haben, dass der Dogmatiker den Philosophen gegen viele Bedenken, die gerade in der Kirche und der Theologie gegen ihn leben, zu verteidigen hat. Ja, es ist sogar möglich, dass er, als Gastgeber aufgrund des Gastrechtes, der Selbstverteidigung des Philosophen beistimmen muss (159). |54|
5. Wenn der Dogmatiker selber keine selbstverständliche natürliche Theologie zur Voraussetzung hat, kann ihm ein Phänomen als der angebliche ‘Atheismus’ des Philosophen kein Hindernis sein. Vielmehr kann dieser gerade als einen Bruder begrüßt werden. “Die Solidarität zerbricht an einem anderen Punkt und auf unerwarteten Weise” (nämlich, wo Sartre dem menschlichen Subjekt ein konventionelles Gottesbild zuerkennt, 162-163).
6. Dieser ‘andere Punkt’ kann nur auf dem Weg der immanenten Kritik gefunden werden. Wenn es dann zu einer Diastase zwischen theologischem und philosophischem Ansatz kommen soll – und im Fall der Begegnung zwischen Barth und Sartre war das unumgänglich –, dann nicht aufgrund wesensfremder Forderungen des Theologen, sondern weil er, durch seine theologische Lesart, immanente Widersprüche im philosophischen Text aufzeigen muss. “Keine andere Diskussion als eine, in der letztendlich ein gegenseitiges Gespräch von Männern [von Frauen ist nirgendwo die Rede, rrb], von Herzen [nämlich über dem Ernst des Bösen] sich entfaltet” (166).
7. Dennoch mag es sein, ja wird es so sein, dass meistens die Begegnung mit einem Philosophen in der Dogmatik in einer Uneinigkeit endet. Diese Erfahrung, sagt Miskotte, dürfen wir aber nicht flir eine absolute halten, als ob wir sicher sein könnten, dass das ‘Scheitern’ dieser Begegnung schon von vornherein feststünde. “Diese Erfahrung kann uns nicht einer neuen Begegnung entheben; eine neue Erwartung kann durch eine solche Enttäuschung nicht einfach für ausgeschlossen gehalten wer- den” (159). Denn “die Theologie kann nicht in abstracto (‘in het afgetrokkene’) die Grenzen zwischen ihr selbst und der Philosophie festlegen wollen; denn weil Gott wahrhaftig Gott und freier Gott ist, kann es nie ausgeschlossen werden, dass die Philosophie als solche Gott findet und verkündigt, und umgekehrt: weil der Mensch, der Theologe, endlich und sündig ist, hat auch seine Arbeit teil an der Relativität und der Sündigkeit aller Kulturarbeit. Daraus folgt, dass wir als Theologen von der Seite der Philosophie nichts zu fürchten und von uns selbst in der Verlegenheit des Denkens nichts besonderes zu erwarten haben – wohlverstanden: außerhalb der Erleuchtung des heiligen Geistes. Damit ist auch gesagt, dass es niemals ausgeschlossen ist dass Z.B. Hegel nolens volens der executor testimonii Sacrae Scripturae wird, nämlich gerade nicht systematisch, sondern konkret und gelegentlich. Dies soll von Fall zu Fall, von Kontakt zu Kontakt, immer neu beurteilt werden” (167). “Dieses kann uns fröhlich machen. Es ist nicht unsere Sorge, das Wort Gottes mit dem Leben in Kontakt zu bringen [kursiv rrb]. Dafür ist schon gesorgt. Es ist ebensowenig unsere Sorge, die atetheia für indiskutabel zu erklären und zu schützen. Sie ist gegenwärtig und führt ihren eigenen Rechtsstreit mit Majestät, mit der Majestät des Logos, der auch die Liebe ist” (169).
Schlussfolgerung: wenn es mit der Philosophie so steht, dass sie nach Miskotte niemals von vornherein ohne Chance auf reale Zustimmung in die theologische Arbeit mit aufgenommen werden kann, sollte das dann auch nicht von der ‘erzählenden Philosophie’ der Juden und der Heiden gesagt werden können? Ist es uns auch hier nicht verboten, das ‘Scheitern’ der Begegnung schon als Ergebnis apriori vorherzu|55|sagen? Darf man es ausschließen, dass – nicht systematisch, sondern von Fall zu Fall – aus dem “clash of stories” ein gegenseitiges Wiedererkennen der Erzählungen aufblüht?
4.2. Schluss: Miskotte als ‘erzählender Denker der Korrelation’?
Am Ende eines Weges gekommen, der eigentlich die Frage, die mit unserem Tagungsthema gegeben ist, nur verschärft hat, sei noch ein Hinweis auf zwei Notizen aus den postum herausgegebenen Tagebüchern Miskottes gegeben. Selbstverständlich sind sie mit Vorsicht zu rezipieren, denn er hat diese ungeschützt niedergeschriebenen Bemerkungen meines Wissens nie in seine öffentlichen Publikationen wiederholt und er hat außerdem seine Tagebücher nicht selber für eine Veröffentlichung redigiert (obwohl er geahnt haben muss, dass er ein großerTagebuch-Schriftsteller war). Inden Notizen kommen wir Verlegenheiten auf die Spur, gleichsam die Rückseite der scheinbar so klaren Entscheidungen, auf welche die großen phänomenologischen Studien der dreißiger Jahre hinauslaufen. Sie können uns vermuten lassen, wie die Kenntnisnahme der Erzählungen der Anderen (hier ins besondere: der Vertreter der jüdischen Religion) die vertraute und angeblich unerschütterte ‘eigene’ Erzählung unter Druck setzen, Ja mehr oder wenig verändern konnte. So heißt es am Montag, den 27. April 1936:
“Der ‘Jüdische’ Vorwurf an Luther, Zinzendorf, Wesley, Kohlbrugge hinsichtlich der Rechtfertigung wird immer dieser sein: was bedeutet der ‘Weltprozess’, die Geschichte der Berufung, der Erwählung, des Ungehorsams und der Wiederherstellung für Gott? Darauf muss eine Antwort gegeben werden. Wie können wir übrigens die Unveränderlichkeit und Unempfindlichkeit Gottes ‘Seins’ lehren, während wir auch sagen: ‘welcher auch seines eignen Sohnes nicht hat verschonet’? Könnte man sagen, dass Gott in der Rechtfertigung des Menschen auch sich selber rechtfertigt, nämlich die Schöpfung und die in ihr mitgegebene Verheißung eines sinnvollen Lebens des Menschen und alles Geschöpfs?”
Und noch deutlicher ist das, was er schreibt an einem “stillen Morgen – zur Meditation” am Montag, den 20. Februar 1933:
“Ich habe schon ziemlich viel doziert über das: ‘wir sind es, die versöhnt werden’, Gott braucht es nicht, versöhnt zu werden. Aber darin liegt doch eine Einseitigkeit. Nicht, dass ich die Redewendung: ‘Gott will das seiner gerechtigkeyt gnug geschehe’ buchstäblich übernehmen würde, aber die Studie des Judentums hat mich auch an diesem Punkt dialektischer gemacht. |56| Gottbraucht es, versöhnt zu werden, der Tod Christi ist eine Tat der Korrelation: Er stirbt um Gottes willen, um ihn als den Schöpfer und den Herrn mit seinem Tod zu ehren. Die Hypostasierung der Gerechtigkeit ist israelitisch. Und diese geschieht gerade (von der juridischen Denkform abgesehen) in der Satisfaktionslehre. Es ist absolut unzutreffend, die Satisfaktionslehre auf das Konto eines römisch-juridischen Denkens zu setzen. Im Gegenteil, wenn es hier einen Rand der Häresie gibt, dann (handelt es sich um) die Häresie der jüdischen Korrelation, nur dass diese weder auf den Menschen als Individuum, noch auf den Menschen als Mitglied des Bundesvolkes, sondern auf die ‘menschliche Natur’ Christi bezogen wird.”
Miskotte hat immer große Zurückhaltung im öffentlichen Reden zum Geschehen der Versöhnung geübt. Er hat sich für ‘orthodox’ gehalten und das Geheimnis respektiert, ohne es eindringlich zu hinterfragen. Dennoch spürt man hier, wie die Begegnung mit der Erzählung des Judentums auch den Umgang mit dem größten christlichen Glaubensgeheimnis nicht unberührt gelassen hat. Bis ins Herz der christlichen Erzählung – der ‘Geschichte Jesu Christi’ – konnte diese Begegnung – sei es auch ‘in der Stille’ – offenbar auf ihn einwirken und ihn zur Neuformulierung dieser für einen Christen ganz intimen historia einladen. Dieses beim Lesen zu erfahren, mahnt zur Vorsicht im Urteil, welche Erzählung eigentlich für einen Theologen auf der ganzen Linie bestimmend ist.
- R.H. Reeling Brouwer, ‘Erzählendes Denken bei K.H. Miskotte: Lehre im offenen Raum’, in: ZDTh 23/1 (2007), 34-56 (geannoteerd)