Eine Predigtpraxis von 35 Jahren

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Zu den Bänden 26, 27, 29, 31, 32 der Karl Barth Gesamtausgabe

Bei einem Theologen, der bekanntlich “seine Theologie” am Anfang seiner akademischen Lehrtätigkeit als aus “dem spezifischen Pfarrerproblem der Predigt” (Schulpforta 1922) geboren und der in seinem ersten dogmatischen Entwurf “die Predigt als Ausgangspunkt der Dogmatik” (“Unterricht” 1924, §2) benannte – und dessen Dogmatik deshalb auch als “materiale Homiletik” zu verstehen ist (Hartmut Genest) –, muß es sich bei der Kenntnisnahme seiner eigenen Predigtpraxis wohl um mehr als nur um ein Pargergon handeln. Mit Recht sind darum die Predigten Barths von den Herausgebern der ersten Abteilung der Karl Barth Gesamtausgabe zugeordnet worden: hier wird man in die Fülle dieses vielschichtigen Werkes hineingeführt! Mit einer Unterbrechung von einem kleinen Jahrzehnt sind in der letzten Jahren mit raschen Schritten hunderte dieser Predigten, bekannte und unbekannte, gesammelt und (wieder) zugänglich gemacht worden, so daß von den 577 Predigten aus der Vikar- und Pfarrerzeit in Genf und Safenwil nun 258 ediert sind und die späteren 135 Predigten aus den Zeit der Professur und der Emeritierung wahrscheinlich alle inzwischen vorliegen. Zu erwarten sind also noch ungefähr sechs Bänden dieser Abteilung. 

Hermann Schmidt hat als Herausgeber der drei Bände mit Safenwiler Predigten wichtige Arbeit geleistet: die Entzifferung und das Ausschreiben der Manuskripte (inklusive der vorhandenen Texte der Gebete und der Angabe der Kirchenlieder), der Nachweis der Zitate und aktuellen Anspielungen (insofern auffindbar) und die Verfertigung der Register. Nur neun Predigten aus der Vielzahl waren schon publiziert, hauptsächlich im ersten Barth-Thurneysen Predigtband Suchet Gott, so werdet ihr Leben (Weihnachten 1917), der der Erscheinung des ersten Römerbriefes voranging, die übrigen waren unbekannt. Schon lange ist festgestellt worden, daß die Rekonstruktion der Genese der Barthschen Theologie so lange auf unsicheren Hypothesen beruht, als neben den (wenigen) bekannten akademischen Texten viele Daten aus der Pfarrer-, und dazu gehörig auch der politisch-sozialen, Tätigkeit und also auch die Predigten für die For|248|schung unerschlossene Gebiete bleiben. Langsam entsteht nun Sicht auf die dazu benötigten Materialien. 

Die Ernte der beiden anderen Bände ist weniger spektakulär. Beschlagnahmt durch seine vierzig Jahre anhaltende akademische Verpflichtungen predigte Barth nicht viel mehr als durchschnittlich dreimal pro Jahr. Meist wurden die Texte (oft auf der Basis von stenographischen Mitschriften) schnell veröffentlicht, zum erstenmal in Zwischen den Zeiten. Biblische Zeugnisse (das Blatt der Kohlbruggianer!), Theologischer Existenz heute usw., schon kurz danach in den Sammelbänden. Die Einteilung in den vorliegenden Bänden der Gesamtausgabe läuft nicht ganz mit dem Rhythmus der von Barth selbst besorgten Predigtbände parallel. Band 31 enthält die Predigten aus der deutschen (Göttinger, Münsterer, Bonner) Zeit und damit zwar vor allem (nun kritisch edierten) Predigten aus dem dritten Barth/Thurneysen-Band Die große Barmherzigkeit, aber auch noch Predigten aus dem zweiten Band Komm Schöpfer Geist, der den zweiten Römerbrief begleitete, und schon Predigten aus dem Band Fürchte dich nicht, in welcher 1949 die intensivierte Predigtarbeit Barths aus den Jahren vor, während und nach der großen Katastrophe des 2. Weltkrieges dokumentiert worden ist. Diese letztgenannten Predigten bilden selbstverständlich den Hauptbestandteil des Bandes 26, der die Predigten aus der Basler zeit von 1935 an bis zur Predigtpause (vielleicht auch der Predigtkrise) 1947-1954, welche dann endet mit dem Finden eines neuen festen Predigtortes: die Basler Strafanstalt, enthält. In diesen beiden Bänden sind weiter Bibelstunden (zwar für Studenten gehalten, aber ohne den Anspruch der exegetischen Vorlesungen), Artikel zu kirchlichen Festtagen (oft auf die Bitte großer Tageszeitungen geschrieben) und biblische Betrachtungen aufgenommen, weil diese in der ersten Abteilung der GA am meisten angebracht sind. 

Die homiletische Diskussion um den ganzen Korpus ist – schon wegen der bisherigen Lücke in den Materialien – trotz wichtiger Ansätze noch nicht zu Ende geführt. Wir haben zwar einen Überblick über die aufeinanderfolgenden prinziellen homiletischen Gesichtspunkte (von der Predigt als Hilfe zur Horizonterweiterung und zur Existenzerhel1ung der Gemeinde vom biblischen Text her am Anfang, über die leidenschaftliche Hoffnung auf das Klingen des Gotteswortes im Menschenwort in den frühen zwanziger Jahren bis zur radikalen Dezentrierung der Funktion der Predigt im Leben der Gemeinde am Ende der fünfziger Jahre) und auch über die unterschiedlichen formalen Vorzüge (freie Invention bei einem selbst erwählten Text in der Gemeindearbeit, strenge Auslegung einer vorgegebenen Perikope oder Losung – die Form der Homilie – als |249| Ideal der Bonner Homiletik-Seminare 1932/33, Rückkehr zu einer konzentrierten und scheinbar einfältigen Meditation über einen Kurztext in den letzten Predigten). Aber es fehlt uns noch weitgehend an einer Sicht auf die Wechselwirkung zwischen dem Pfarrer und seiner Gemeinde, der Gemeinde und ihrem Pfarrer, insbesondere in der Genfer und der Safenwiler Zeit. Für eine Analyse dieser Prozesse werden jetzt erst die Akten geöffnet. 

In diesem Beitrag handelt es sich nur um eine Ankündigung. Wir haben keinen Raum, mit der gewünschten Analyse auch nur einen Anfang zu machen. Deshalb wähle ich hier eine viel lockerere Form. Ich nehme, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit des Stoffes oder der Gesichtspunkten zu erheben, aus jedem der fünf vorliegenden Bände (mit Predigten aus 3 Jahre Pfarrer- und 32 Jahre Professorentätigkeit) nur eine, bisher nicht veröffentlichte Predigt, und mache dazu einige Bemerkungen sowohl zur Kennzeichnung als auch zur (exegetischen, dogmatischen, praktisch-theologischen) Kritik derselben. Ich tue das in keiner anderen Absicht als beim Leser, bei der Leserin Neugier auf den Texten selbst zu erwecken! 

1915. Safenwil, den 24. Januar: Matthäus 11,12
Diese Predigt gehört zu einer Reihe in der Epifanienzeit, die dem nahe herbeigekommenen Reich Gottes gewidmet ist. Damit ist zwar nicht das einzige in diesem Jahr vorhandene, aber wohl das in der damaligen religiös-sozialen Grundstimmung Barths dominante Register gezogen (wenn er z.B. in der Passionszeit über die Stellvertretung Christi oder im Herfst über die Müdigkeit redet, geschieht das doch in diesem Horizone). Bei der zwei Wochen vorher gehaltenen Predigt, in der nach der Meinung seiner Frau “das prophetische Wort überwucherte”, war sein deutscher Lehrer und Freund Martin Rade anwesend gewesen, und die aufs neue mit diesem diskutierten politischen Strittigkeiten hatten sicherlich die Militanz Barths eher angefacht als gemildert. 

In der damaligen Liturgie der deutschsprachigen reformierten Schweiz gab es keine Schriftlesung, nur einen Text. Nicht immer hat Barth diesen im Manuskript notiert, diesmal aber wohl, in der folgenden Übersetzung: “Von den Tagen Johannes den Täufers an bis jetzt wird das Himmelreich gestürmt, und die Stürmer reißen es an sich”. Er fängt an, mit einem für Pfarrer typischen rhetorischen “uns”, bei den Hörern die Unbekanntheit mit dem Text vorauszusetzen. “Wir” haben diese fremdartige Worte vielleicht zum ersten Mal gehört und kein Pfarrer wird “uns” das übelnehmen. Weshalb? Antwort: weil es “nicht gesundes Haus|250|brot für alle Tage, sondern starke Speise für besondere Zeiten” enthält. Und dann folgt eine Betrachtung in der man, wenn man so will, eine embryonale Gestalt der späteren theologischen Lehre von der Zeit wiederzufinden vermag: Gott hat verschiedene Arten, mit uns zu reden, für verschiedene Zeiten. Denn es gibt gewöhnliche und es gibt außergewöhnliche Zeiten, so wie es Werktage und Sonntage gibt. Wir haben sehr gewöhnliche Zeiten hinter uns (einige Seiten weiter heißt es: Zeiten eines Schlafzustandes), aber jetzt ist eine wundervolle besondere Zeit da! Auch die Zeit Jesu war eine solche Zeit: eine Zeit der Vollendung, ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschen. In dieser Zeit war in ihm die neue Welt da. In dieser Zeit, sagte er, wurde das Himmelreich gestürmt, und die Stürmer reißen es an sich. Und dann folgt eine Zuspitzung ad hominem: eine besondere Zeit fordert ganz besondere Menschen. Es braucht etwas Anderes als sonst: nicht bloß stille Arbeiter und Dulder und Beter, sondern Stürmer: Menschen, die einen Entschluß fassen, die sich herausreissen lassen aus ihren Gewohnheiten, die mit kühner Rücksichtlosigkeit nur noch auf den Ruf der neuen Welt hören. Man versteht: Jesus fragt es von seinen Jüngern, solche Stürmer zu sein, und er fragt es nun auch uns. Denn unsere Zeit ist eine Notzeit, nämlich eine Kriegszeit, eine Zeit großer Aufgaben. Und gerade jetzt spüren wir (heißt es mit einer unproblematisierten Berufung auf die Erfahrung!) Gottes Macht in unserer Ohnmacht. Etwas Göttliches ist in diesem einmütigen Einstehen all dieser Millionen für die Gemeinschaft ihres Vaterlandes, so muß man doch sagen, obschon wir wissen, was wir als Christen vom Krieg zu denken haben. Wir Schweizer stehen neben den Ereignissen. Das ist eine Gefahr, denn wir können auch weiter schlafen. Es ist auch eine Chance, denn wir können uns einfacher der Anbetung der Kriegsgötter verweigern und uns für das andere Reich, das Reich des Friedensfürsten, der, ans Kreuz geschlagen, die Gewalt geurteilt hat, einsetzen. Lasset uns dann zu Stürmern des Himmelreichs werden, lassen wir jetzt zugreifen und uns von Gott weiterführen lassen – bis es einmal keine traurigen “gewöhnlichen” Zeiten mehr gibt. 

Was mir auffallt (und was ich auch selber aus meiner Predigtpraxis aus der Zeit der Friedensbewegung der achtziger Jahren wiedererkenne) ist, wie stark die Sprache des Kampfes gegen die Gewalt selbst gewalttätige Züge annimmt. Und das heißt auch in exegetischer Hinsicht: wie wenig es Barth einfällt, die Art, wie im Text geredet wird, auch in ihrer möglichen negativen Konnotation |251| ernst zu nehmen. In 1915 war das Bild der “Stürmer” ja auch noch nicht von den Nazis vereinnahmt worden.

1916. Safenwil, den 2. Juli: 1 Johannes 2,12-14
Im Sommer dieses Jahres lag die große Wende in der theologischen Existenz Barths, zu welcher die Begegnung mit Christoph Blumhardt im vorangehenden Jahr einen wichtigen Anstoß gegeben hatte, hinter ihm. In dieser Predigt spürt man das, wenn eine Anspielung auf eine Blumhardtsche Losung – “ihr Menschen seid Gottes!” – als Kulminationspunkt am Ende der Ausführung erscheint. Weiter ist kurz vorher der Entschluß gefaßt, die neuen Vermutungen durch erneuertes Studium zu begründen. Dieses Studium wurde der Bibel gewidmet: am 19. Juli beginnt Barth die Arbeit an seinem Römerbrief. 

In diesem Zusammenhang fällt gleich der Anfang der Predigt auf: “diese vorgelesene Stelle” (aus dem ersten Johannesbrief) “ist für mich eine der gewaltigsten im ganzen Neuen Testament. Ich meine: das ist eine von den Stellen, wo es mir am deutlichsten wird, von was für ungeheuren Kräften diese Menschen der Apostelzeit bewegt waren, was für ein Strom von Leben und Sieg durch sie hindurchgegangen ist”. Darauf folgen mehrere Beispiele, wo Barth solche Texte gefunden hat, und wird aufs neue das Erstaunen artikuliert, “wie es möglich war, daß wir gar nicht merkten, was für einen Sprengstoff wir da eigentlich im Hause haben, als ob wir gar nicht merkten: das, was da steht, könnte uns einmal innerlich angreifen und erschüttern, daß wir uns vor Freude oder vor Schrecken gar nicht zu fassen wüßten und daß Alles, Alles in unseren Gedanken und in unseren Reden in eine andere Richtung käme wie ein Bach, der auf einmal abgeleitet wird.” Gott sei aber Dank, daß er auch in den Zeiten der (falschen) Ruhe die Bibel immer wieder unter alles Volk hat kommen lassen, so daß es “zu rechter Stunde und mit den rechten Leute, dann zu großen Entdeckungen und Umwälzungen kommen” konnte.

Das Gewaltige nun, wenn Johannes die Kinder, die Väter, die Jünglinge einer alten christlichen Gemeinde anredet (“aber es geht sicher auch die Frauen und Jungfrauen an” – mußte der Prediger offenbar auch schon 1916 hinzufügen!), ist, daß er weiß, daß die Leute ihn verstehen, “weil sie alle erlöste, von Gott erlöste Menschen” sind. Diese Einsicht wird darauf kontrastiert mit der Predigtart des Johannes des Täufers, der nur warnen konnte, und aufrufen: Tut Buße! Dies ist zwar eine verständliche Vorgehensweise, wie Hunderttausende |252| Pfarrer, Lehrer, Vorgesetzten sie geübt haben, und wie auch ich sie Hunderte von Malen geübt habe (eine solche Reflexion auf die eigene Predigtpraxis gibt es in diesen Bänden immer wieder!) – aber es war und es ist ein Reden in ein Loch hinein. Ein gewaltiger Prediger als W. Hofacker hat letztendlich enttäuscht festgestellt, daß die Leute noch Rechenschaft ablegen müßten von den Bußrufen, die an sie ergangen sind. Aber solche Verzweiflungsschreie waren ganz in den Wind geredet. Jedenfalls haben alle Bußrufe dem Weltkrieg nicht vorbeugen können. Und nun: man kann so predigen (und Barth wird es auch weiterhin so machen!), aber Johannes der Apostel hat dennoch etwas anderes zu sagen. Er redet die Menschen ganz anders an als der Täufer und sagt: ihr seid erlöste Menschen! Das ist zwar viel schwieriger zu verstehen, aber doch das Stärkere. “Er traut den Menschen, nicht weil er sie nicht kennt, aber weil er es” – in der Kraft der Auferstehung! – “gelernt hat, dem lieben Gott zu trauen.” Fazit: “O wenn die Bibel einmal weit aufgehen … würde. Es würde dann allerlei anders in den Kirchen und da draußen.” “Was tausend Bußprediger nicht vermochten, das wird der eine Christus einmal vollenden, wenn er es und ins Herze hinein reden wird: Euch sind eure Sünden vergeben.” Dieser Schluß dieses musterhaften Dokuments einer allmählicher theologischen Wende bedarf m.E. keinen weiteren Kommentar.

1917. Safenwil, den 23. September: Matthäus 7,13-14
Beim Vormittagsgottesdienst des vorangehenden Sonntag, des Eidgenössischen Dank-, Buß und Bettages hatte Barth von zwei Texten gesprochen: von einem Gedicht aus der sozialistischen Tageszeitung des Kantons, wo ein Arbeiter angesichts des Schmerzes, der Not, der Armut an Gott den Vorwurf erhebt, daß er schläft, und von einem Fragment aus den Klageliedern, wo der Autor entdeckt, daß Gott wider ihn ist. Und anhand dieser beiden Provokationen hat er die Unehrlichkeit in der Kirche, zu welcher die Versuchung besonders an sochen Feiertagen der schweizer civil religion groß ist, angeklagt. Die Folge: “Die Predigt hat die Safenwiler sehr aufgeregt. Sie quittierten mir am (sc. nächsten) Sonntag sehr passend mit einer fast leeren Kirche”. Auch Barth aber trug mit seiner Predigt am diesem nächsten Sonntag das Seinige zur Eskalation bei. 

Sie fängt in der (aufs erste Gesicht unschuldigen) Breite an: beim desiderium naturale. “Wahrhaftig alle Menschen tragen im Grunde ein Fragen, Sehnen und Begehren in sich nach dem, was Jesus da (Mt. 7,14) ‘das Leben’ nennt.” Und “Alle können sich (ebenso) darin zusammenfinden, daß sie über das jetzige Da- sein irgendwie hinaus möchten.” Auch was folgt, ist den (wenigen) Hörern als |253| Botschaft von ihrer Kanzel bekannt, sehr bekannt: “Die heutige Weltlage hat dieses Suchen und Fragen nach dem ‘Leben’ noch vermehrt.” Der Krieg hat sogar eine Art (sei es Gott sei Dank vielmehr als nur eine “religiöse”) “Erwekkung” hervorgebracht. “Der Ruf: es muß anders werden! kann jetzt auf ein etwas besseres Verständnis rechnen”, ja “das Suchen nach etwas Neuem ist stärker in Bewegung gekommen, als es vielleicht seit hundert Jahren der Fall war.” Jedenfalls könnte “die tiefste bisherige Wirkung des Krieges schließlich darin bestehen, das da und dort die Bibel wieder aufgeht, gelesen und verstanden wird als das Zeichen der Hoffnung, das uns mitten in der Herrschaft des Todes auf das Leben wenigstens hinweist”. So far, so good. Aber … “suchen und finden ist zweierlei.” Es gibt den breiten Weg und es gibt die enge Pforte. Vor dieser Pforte gibt es “Sichtung und Scheidung”. Und hier “möchte ich zur Erklärung noch einmal Anknüpfen an das, was ich am Bettag morgen über die Ehrlichkeit sagte.” “Ich habe vernommen, daß ihr euch an dieser Bettagspredigt gestoßen habt. Seht, das ist ganz natürlich und ist mir lieber, als wenn ihr euch nicht gestoßen hättet, und je mehr ihr euch gestoßen habt, umso besser ist’s. Denn das ist mir das Zeichen, daß wir uns in jener Stunde unter der engen Pforte befunden haben. Wo es eng ist, da stößt man sich, das ist ganz natürlich und in diesem Fall einfach notwendig.” 

Die Predigt geht weiter, selbstverständlich mit einem Aufruf, schlicht, demütig und wenn’s sein muß einsam hinein zu gehen, aber wir halten hier inne. Wir nehmen wahr: das prophetische Selbstbewußtsein des Predigers hat sich zum Äußersten gesteigert. Der Widerstand der Gemeinde gegen ihn ist von ihm mit dem Widerstand gegen das Evangelium identifiziert, sein eigenes Verhalten als “Sonderling und Friedensstörer” damit zugleich auch legitimiert worden. Das könnte unter Umstände richtig sein. Aber gibt es noch Raum, dieses nachzuprüfen, wenn die Lage von vornherein (notabene in der Figur einer klassisch-puritanischen Erwählungslehre des breiten und des schmalen Weges) theologisch gedeutet ist? Ich habe den Gang der Barthschen Predigtpraxis der zweiten Hälfte des Jahres 1917 beim Lesen so erfahren, daß er die Forderungen an die Predigt immer höher formuliert und dementsprechend die eigene Einsamkeit immer unabwendbarer gepflegt hat. Fast am Ende des Jahrganges steht “der Adventsmensch” Zacharias, der “die Erfahrung macht, das es nicht geht, das wir stumm sind.” Auch “mir”, Karl Barth, “fallt es immer schwerer, das zu sagen, was hier gesagt werden müßte.” Der Band Predigten 1917 endet in einer Predigtkrise, und es ist nicht ohnehin klar, wie im Band der Predigten 1918 eine Lösung dieser Krise dokumentiert sein könnte … |254|

1921-1935. Wuppertal, den 7. Oktober 1929: Hebräer 13,11-12
Wir überspringen einen Zeitraum vieler Brüche. Und wir finden der Akademiker Barth zurück bei einer Trauung im deutschen reformierten Pfarrhaus, in der zeitlichen und räumlichen Nähe einer ebenso reformierten theologischen Konferenz. Er nahm die Einladung zu dieser Rede ausnahmsweise an und sah (wie er Thurneysen schreibt) “der Sache sorgenvoll entgegen”. Diese Sorge meine ich von meiner seelsorgerischen Erfahrung her zu verstehen: ein(e) Pfarrer(in) kann zu einer solchen Gelegenheit, wo (anscheinend oder wirklich) nur Fröhlichkeit herrscht, zwar kritische Worte reden, soll es auch bestimmt nicht lassen das zu tun, aber wem dienen diese Worte abgesehen vom Gewissen des Pfarrers? Barth skizziert in der Einleitung seiner Rede die Ehe als eine menschliche Einsetzung, die nicht von sich aus heilig ist. Es kann sich also für ihn in einer Traurede nicht um eine Verklärung dieses Menschenwerkes handeln. Das Wort Gottes soll gesagt werden, als ein segnendes, richtendes und richtungweisendes Wort. Aber wie soll das geschehen? 

Nach dem Verlesen des biblischen Textes variiert der Redner den in der Einleitung dargebotenen Kontrast. Als Menschenwerk ist die Ehe innerhalb des Tores getan, “auch wenn es das Tor eines christlichen Pfarrhauses ist.” “Menschen suchen im Leben, und auch in der Ehe, die Freude, die Gesundheit, der Erfolg. Es darf und es muß so sein” – auch wenn die Ehe (wie in diesem Fall) im Schatten des Sterbens steht. “Was wir Menschen tun, tun wir für uns selber.” Und “die Einsamkeit bleibt, auch in der Ehe, gerade in der Ehe” (wer sagt, daß Barth, mit all seinem Anti-Psychologismus in der Theorie, faktisch kein guter Psychologe gewesen ist?). Wie nun alles Menschenwerk vom schaffenden Wort Gottes lebt, so sind wir in unserem Leben innerhalb des Tores auf dem Anderen, außen vor dem Tor (Hebr. 13,12), angewiesen. Jesus “ist nicht hier, bei uns, in uns gar. Er ist dort, uns gegenüber.” Jerusalem hat ihn verworfen, auch das christliche Pfarrhaus verwirft ihn, darum ist er da draußen. “Liebe Neuvermählte, möchte euch das erschrockene Aufmerken auf dieses Draußen nie verloren gehen.” Und dazu gehört dann auch die andere Seite, die nicht zu vergessen ist: gerade dort, wo er, unter den Schächern, für die Folgen unseres Lebensdranges gelitten hat, |255| hat er, Gottes Sohn, sich zu unserem Nächsten, Genossen und Bruder gemacht, und sind wir dem Gericht unserer Verwerfung entnommen, indem wir es annehmen. Und dann, unter dem zweiseitigen Vorzeichen (des Gerichts und der Gnade), heißt es: “er hat gelitten, daß er heiligte das Volk durch sein eigen Blut.” Heiligung ist also nicht unser Verdienst. Auch von der Heiligung in der Ehe muß es heißen: sie ist “Heiligung durch Jesus”, als eine Heiligung der in sich selbst Unheiligen. Und das bedeutet für die Ermahnungen – “ihr müßt in der Ehe lernen, einander zu sehen” (was sehr oft nicht geschieht!), sich einander zu geben, einander zu helfen (nicht nur als das Amt der Frau dem Mann, sondern auch als das Amt des Mannes der Frau gegenüber) –, daß sie nur erfüllt werden, wo Jesus hinsieht, wo er, der allein das kann, die Sünden vergibt, wo mit einer “ganz anderen Hilfe” geholfen wird. 

Man kann sagen: Barth hat das arme Brautpaar mit der Theologie des zweiten Römerbriefes, vom Studium der calvinischen Ethik in den zwanziger Jahren leicht korrigiert, überfordert. Man kann auch sagen: er hat versucht, die ungemein schwierige Aufgabe einer Traurede, wo die Kritik nicht fehlen kann und wo sie auch nicht unwirksam gemacht werden darf, überraschenderweise vom Zentrum der apostolischen Verkündigung her zu erfüllen. 

1935-1952. Madiswil, den 23. Juni 1940: Psalm 46,2-4.8
Nachdem sein Bruder Peter Barth (der Calvinforscher, seit 1918 Pfarrer in der Berner Gemeinde Madeswil) an den Folgen eines Unfalls gestorben war, kam Karl Barth unmittelbar nach dessen Gemeinde. Am Sonntag der Beerdigung übernahm er dort auch die Predigt. Die Textwahl stimmte mit der Todesanzeige, worauf Verse aus dem 46. Psalm standen, überein. Der Gedanke lag nahe, bei den dort genannten “großen Nöten” (V. 2 in der Luther-Übersetzung) in erster Linie an die Trauer der Gemeinde und des Predigers zu denken, aber die stürmische Naturbilder des Psalms – der Weltuntergang, die sinkenden Berge, das wütende Meer – riefen ja zugleich kosmische Dimensionen auf. Wir leben schon immer inmitten der Bedrängnisse, die wir Menschen einander bereiten, aber “wenn wir plötzlich vor einem Sarg stehen müssen, wenn Dinge in der Welt geschehen wie die, deren erschrockene Zeugen wir in den letzten Wochen waren” (22. Juni 1940: die Übergabe Frankreichs! rrb), “dann ahnen wir etwas von dem künftigen Ende, von dem der Psalm redet”. Solche Nöte sind Schatten der künftigen Not, die das Ende sein wird – Barth hat die streng eschatologische Ausrichtung seines Zeugnisses nie verleugnet. 

Die aktuelle Not hat also das erste Wort. Offenbar verbietet die von Barth vertretene systematische Vorrangstelle des Evangeliums vor dem Gesetz es ihm keineswegs, es unter Umständen homiletisch auch anders zu machen. Aber dann klingt doch ziemlich rasch das Evangelium: “darum fürchten wir uns nicht” (V. |256| 3). Obwohl die Predigt, ich vermute wegen ihres Charakters als Gelegenheitstext, nicht in die Nachkriegssammlung Fürchte dich nicht aufgenommen ist, paßt sie thematisch sehr gut dazu. “Wir leben in einer Zeit, in der Alles darauf ankommt, daß wir uns wirklich nicht fürchten. Wenn sich in Deutschland vor sieben, vor fünf Jahren nicht so viele gefürchtet hätten, hätte die Not schon dort nicht so groß werden können.” Und so war es in Frankreich, in England, so wird es auch in der Schweiz sein. Man kann sich fragen, was Barth hier genau mit dem Wort “Furcht” meint. Psychologisch könnte man doch auch genau die umgekehrte Behauptung vertreten, nämlich daß nur wer seine Ängste kennt, ein richtiger Widerstandskämpfer sein kann. Aber Barth hat eine andere Ebene im Blick: “wir sind wohl betroffen und darum betrübt, angefochten, erschüttert, besorgt und bekümmert”, aber in allem Untergehen, Vergehen, Verlorengehen wissen wir, daß da ein Weg durch das Schilfsmeer führt. Also hat “nicht fürchten” mit Gottvertrauen zu tun: “Er ist unsre Zuversicht und Stärke” (V. 2). Und gerade dieses ist im Zeitgeschehen äußerst relevant: “Die politische Frage von heute ist die Frage der Furchtlosigkeit. Die Frage der Furchtlosigkeit ist aber heute wie zu allen Zeiten die Gottesfrage.” Eine anregende These, obwohl sie analytisch nicht recht deutlich gemacht wird – was man von einer Predigt auch nicht erwarten darf. 

Der letzte Teil der Predigt (vor dem kurzen Schlußabschnitt, der wieder eschatologisch ausgerichtet ist und an die Auferstehung erinnert) ist dieser Gottesfrage gewidmet. Barth hat bei der Lesung an den Versen 2 bis 5 den 8. (=12.) Vers hinzugefügt. Von Hermann Gunkel hat er nämlich gelernt, daß dieser Kehrreim ursprünglich ja auch nach dem V. 4 gestanden haben sollte. Er liest hier zwei Gottesnamen: “Der Herr Zebaoth ist mit uns; der Gott Jakobs ist unser Schutz.” Der erste Name ist ein Name des Trones und der Anbetung (Herr der Heerscharen), der zweite ein Name der Erwählung und des Bundes (Israel). Für unsere Zuversicht sind beide Namen notwendig, wenn es wirklich Gott ist, der unser Gott will sein, auf dem wir vertrauen dürfen. In der Einheit beider liegt für Barth eine christologische Hinweisung und Voraussetzung des Psalms. Und so können wir feststellen, daß er hier in wenigen Minuten für die Gemeinde in einer Kurzfassung dargestellt hat, was er über das Verhältnis der “Volkommenheiten der göttlichen Freiheit” und der “Vollkommenheiten der göttlichen Liebe” |257| im (in eben diesem Jahr 1940 erschienen) Band II/1 der Kirchliche Dogmatik für die Theologen in hunderten Seiten niedergelegt hatte. Wie gesagt: hier, die Schriftauslegung in der Gemeinde, wie diese erste Abteilung der Gesamtausgabe sie dokumentiert, führt immer wieder in die Fülle des gesamten Werkes Karl Barths hinein. 


  • R.H. Reeling Brouwer, ‘Eine Predigtpraxis von 35 Jahren. Zu den Bänden 26, 27, 29, 31, 32 der Karl Barth Gesamtausgabe’, ZDTh 16/2 (2000), 246-256.

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R.H. Reeling Brouwer

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