Die Präsenz der Wahrheit in der Theologie K.H. Miskottes

D

Die Präsenz der Wahrheit in der Theologie K.H. Miskottes

“Von der Gegenwart Gottes”. Das war der Titel eines (langen) Schlussvortrags, den Kornelis Heiko Miskotte am 10. Januar 1958, fast zwei Jahre vor seinem Abschied als Dogmatiker an der Universität Leiden, an einem Kongress der „Verenigde Studenten in de Theologische Faculteiten“ (V.S.T.F.) zu Groningen gehalten hat.[1] Der Aufbau des in dreizehn Abschnitten eingeteilten Vortrags ist locker und für den Redner kennzeichnend. Der vorherrschende Gesichtspunkt heißt „praktisch”, d.h. es geht um die Wechselbeziehung zwischen der notwendigen Solidarität mit dem „Entbehren dieser Zeit“ und dem Auftrag der (künftige) Diener des Wortes, in „distanzierender Prophetie” in diese Situation einzudringen (Abschnitt I, S. 112f.). Inmitten der kurvenreichen Wanderungen auf diesem Feld erscheinen die dogmatischen Reflexionen (in drei Rundgängen) als Gedanken, die quasi in den übrigen Erörterungen „eingeflochten” (III, 114) und „zwischengeschoben” (IV, 116) werden. In der jetzt folgenden Wiedergabe reproduziere ich diese Anordnung des Vortrags nicht, sondern biete ich eine eigene, eher trockenen, Rekonstruktion der Ausführungen Miskottes, dargestellt im breiteren Zusammenhang seiner Theologie und seiner theologischen Existenz.

Die Abwesenheit Gottes als eine spezifische Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts

Für Miskotte ist die aktuelle Fraglichkeit der Präsenz Gottes zunächst ein Gewinn (VI, 122ff.). In der Aufklärung war die Frage der Vorsehung Gottes vorherrschend, und damit die erfahrene Notwendigkeit, die Gottesherrschaft in den Gesetzmäßigkeiten der Welt zu rechtfertigen. Für den Atheismus des 19. Jahrhunderts hatte die Frage der Existenz oder nicht-Existenz einer Weltgrundes oder eines absoluten Geistes im Zentrum seiner Polemik gestanden. Aber das Gespür für eine göttliche Abwesenheit ist persönlicher, kennt Gefühle der unendlichen Trauer oder der Erleichterung – der sogenannte „Tod Gottes” ist ja doch kein Triumph, sondern eine Klage oder jedenfalls eine mit gemischten Gefühlen gemachten Feststellung –, und erinnert sich jedenfalls eines Gottes, der die Freiheit hat ja oder nein unter Menschen anwesend zu sein. In diesem Sinne ist sie deshalb als ein positives Negativum zu umschreiben (IV, 116). Es ist sicherlich kein Zufall, dass nicht die Wissenschaft, sondern eher die Dichtung, als „ein getreuer Spiegel” des Lebensgefühls einer Zeit, das Terrain bildet, worauf die göttliche Abwesenheit artikuliert wird (II, 113). Miskotte nennt drei Zeugen (V, 117-122[2]).

Der erste Zeuge ist Françoise Sagan (Bonjour tristesse, 1954; Un certain sourire, 1956). Sie verabschiedet sich von der romantischen Begierde nach einer Präsenz der Erfüllung, sie weiß von vornherein, dass eine Begegnung eines Ichs mit einem Du eine Unmöglichkeit ist, und sie findet einen Ausweg in einem Distanzhalten vom realen Leben. Miskotte warnt, diese Haltung zu rasch als eine Frivolität oder als eine Verderbtheit abzuwerten. Der Unglauben des Menschen in der eigenen Authentizität kann einen Abglanz des Wissens um die Abwesenheit Gottes sein.

Der zweite Zeuge, wesentlich tiefgrafender, ist Samuel Beckett (En attendant Godot, 1952). Wie ist das Warten auf einem Bekannten in diesem „undramatischen Drama” zu kennzeichnen? Eine völlige Leere und Monotonie, eine reine Wiederholung des Immer-Gleichen ist eigentlich für das menschliche Leben keine Möglichkeit. Und deshalb sei bei einer Aufführung eine Akzentuierung der Torheit, der Clownerie wahrscheinlich zu bevorzugen. Einen „Sinn” beim Warten ist hier eigentlich nicht mehr gegeben, und damit ist faktisch auch die Ambivalenz der Religion wie die des bekennenden Nihilismus vorbei, „und das ist modern“. Wo es keinen Sinn im Warten gibt, gibt es nichtsdestoweniger in der immer wieder wiederholten ritualen Handlung und im sich immer wiederholenden Gespräch einer nichts-sagenden Präsenz den Schnittpunkt, den Fluchtpunkt einer vierten Dimension, der Dimension der („sprechenden“?) Gegenwart von „Godot”.

Der dritte Zeuge ist Albert Camus (La Chute, 1956). Während Miskotte in Beckett eher einen Autor begegnete, der im gewissen Sinn über den Existentialismus hinaus ist, ist Camus für ihn doch am meisten ein Repräsentant seiner Welt. Die Hauptfigur des Romans hat früher beleidigte und erniedrigte Leuten verteidigt, aber verteidigt jetzt ausgesprochene Verbrechertypen. Das hat damit zu tun, dass er sich selbst als vor einem Gerichtsverfahren geladen versteht. Er hat seine ungefragte Anwesenheit im Leben zu verantworten. Das Wissen darum führt in die Einsamkeit, aber schafft zugleich auch eine Gemeinde: die Gemeinde derjenigen nämlich, die ihre Schuld anerkennen. So wird er zum Richter und zum Büßer zugleich. „Unter dem trüben Himmel der vertikalen Abwesenheit zeichnet sich in bleiernen Horizontalen von Selbsterkenntnis und Selbstverwerfung die Anwesenheit ab.” Für Miskotte bietet gerade diese Einsicht den richtigen zeitgenössischen Kontext, von der „Allgegenwart” Gottes zu reden. Dieser Kontext ist nicht die Frage der Essenz, sondern die der Existenz.

Aber wer ist derjenige, der als abwesend erfahren wird?

Nun kann man fragen: ist die Abwesenheit, die im 20. Jahrhundert erfahren wird, die Abwesenheit eines Bekannten, oder gerade eines Unbekannten? Die Antwort auf diese Frage ist nicht von vornherein klar, und es kommt mir vor, dass gerade diese Unklarheit für Miskotte einen Vorteil hat. Denn sie nötigt dem Diener des Wortes nicht zum Betreiben einer Apologetik nach außen, sondern gerade zur richtigen theologischen Arbeit. Denn Miskottes These ist,  dass im Heimweh nach einem präsenten Gott sowohl die Erinnerung an den Gott Israels, des Namens, der konkret gekannten Person Gottes nachklingt, wie die Einsicht, dass die christliche Theologie einmal mit einer natürlichen Theologie verknüpft war, der Namen mit dem Sein, und dann auch die konkrete Gegenwart Gottes mit dem Begriff einer sehr allgemeinen Allgegenwart der Gottheit (VIII, 126-128). „Wir haben es hier mit einer bestätigenden Ablehnung der christlichen Religion zu tun wie mit einer bestätigenden Ablehnung der christlichen Religion.” Diese beiden Elemente in der Erinnerung sind nach Miskotte aber sehr unterschiedlich zu bewerten. Als eine „Stimmung” kann die Erfahrung auf beide Komponenten bezogen worden, aber als eine „Not” ist sie als ein Ergebnis einer in erster Instanz intellektuellen Sackgasse aufzufassen (VII, 124-126). Die moderne Naturwissenschaft ist nämlich (nach K. Joël) aus dem Geiste der Mystik geboren. Wo die Mystik in ihrer negativen Theologie die Unendlichkeit und die Unermesslichkeit Gottes, also die negative Seite des Seins Gottes, ernst genommen hat, hatte nachher die moderne Physik diese verneinenden Eigenschaften auf die Natur, auf den Kosmos, auf den „All” übertragen. Aber es war sehr schwierig, die Leere und Sinnlosigkeit dieses „Alls” dann weiter noch mit einem Sinn zu füllen. Letztendlich ist das Wissen um eine kosmische Ordnung für die Erfahrung nicht mehr als sinnerfüllt greifbar zu machen.

Miskotte erläutert diesen Sachverhalt erstens an Hand einer Reihe von Zitaten aus der zeitgenössischen Poesie (X, 132-133; J. Greshoff, A. de Vigay, G. Leopardi, J.A. dèr Mouw, U. van de Voorde). In den angeführten Verse ist nicht nur den Sinn des Alls fraglich geworden, aber damit auch das Subjekt selbst, das einen solchen Sinn gesucht hat. Fragt die Erfahrung der Abwesenheit einer heilbringenden Person im Weltall nicht auch um eine neue Selbstinterpretation, um die Entdeckung: wir glauben nicht mehr?

Sodann führt Miskotte in einer Skizze unterschiedliche Reaktionen auf die berühmte Aussage Blaise Pascals: ‚Le silence éternel de ces espaces infinis m‘éffraye” an (Pensées, ed. M. Brunschvigg numero 206). Einerseits gibt es eine Kritik des Dichters und (!) Mathematikers Paul Valéry (XI, 133-137). Er macht es Pascal zum Vorwurf, dass er überhaupt einen Sinn im Weltall und in seiner Erscheinung gesucht hat. Offenbar hat er das Bedürfnis nach einem persönlichen Gott in die unermesslichen kosmischen Weiten projiziert, aber in dieser Bewegung steckt ein riesiger Denkfehler. Auf dieser Weise versucht Valéry (nach Miskottes Analyse aber letztendlich nicht konsequent), ein spätmoderner Widerstand gegen das jungmoderne Entsetzen Pascals zu artikulieren. Andererseits gibt es, gerade von einer ganz anderen Ecke heraus, eine Kritik Paul Claudels („Seconde note sur les angesin: Présence et Prophétie, 1942; XII, 137-139). Nach ihm soll ein Christ, der in der Liturgie der Kirche das Lob des real gekannten Gottes zu singen gewöhnt ist, nicht aufhören dieses Lob dann auch dem im Kosmos gemeinsam mit seinen Engeln regierenden Gott zukommen zu lassen. So sieht man, nach Miskotte, wie bei Valéry versus Claudel die beiden Elemente, die im gangbaren heutigen Bewusstsein der Abwesenheit Gottes durcheinanderlaufen, nämlich das heidnische Element der natürlichen Theologie und das spezifisch israelitische Element, auseinander geworfen werden. Auf diesem Tatbestand gilt es, theologisch näher zu reflektieren.[3]

Die Ambivalenzen in der scholastischen Lehre der Allgegenwart Gottes

Zur Erläuterung der verwirrenden Mischung, die im Laufe der westlichen Kulturentwicklung entstanden ist, nützt Miskotte die Phänomenologie der Präsenz, die der Straßburger Philosoph (und auch Soziologe) Roger Mehl entwickelt hat (III, 114-116[4]). Der Herkunft der Erfahrung der Präsenz eines Objektes benennt Mehl als animistisch, und deshalb als für unsere rationale Erkenntnis schwer nachvollziehbar. Wenn die Erscheinung des Abwesenden sich aber als die Folge eines kontingenten Aktes ereignet, bekommt sie den Charakter einer Begegnung, ist deshalb eher personaler Art, und hat sie außerdem das Kennzeichen eines Geschenks. Die animistische Beschaffenheit öffnet sich für die Überraschung eines solchen Aktes gewöhnlich nicht. Die Erfahrung eines Aktes wird deshalb leicht in die eines kontinuierlichen Seins eingefügt, und die einmalige Begegnung, die eigentlich nur personaler Art sein kann, wird in ein naturalistisches Fluidum transponiert. Und das ist, nach der Meinung Miskottes, gerade in der scholastischen Reflexion der Kirche weitgehend passiert (IX, 128-131). Zwar ist die Erinnerung an den Gott der Bibel dort niemals völlig erlöscht – speziell die griechischen Väter verraten, dass das Subjekt der Allgegenwart für sie doch der lebendige Gott ist –, aber dennoch ist diese Erinnerung in Kategorien eingepasst worden, die zu ihr letztendlich nicht passen. Das kann man zum Beispiel in der Eigenschaft der immensitas zurückfinden, die das vierte Laterankonzil in ihrer Konfession der Gottheit zugeschrieben hat (Denzinger Nr. 800). Die göttliche Allgegenwart wird dann als eine absolute Raumlosigkeit verstanden, jedenfalls im göttlichen Wesen – während in Gottes Beziehung zur Schöpfung die Anerkennung einer Relation (in ihrer Wirkungskraft und in ihrer konkreten Örtlichkeit) unvermeidbar ist, wie man schon bei Gregor der Große lesen kann. In sich selbst hat die Gottheit also keineswegs Teil an den Dimensionen der Räumlichkeit (so wenig wie sie das, parallel daran gedacht, an den Dimensionen der Zeitlichkeit hat). Damit ist ein Übergang vom Verständnis des göttlichen Wesens zum Verständnis eines namenlosen, neutralen Fluidums schwerlich vermeidbar geworden. Und, sagt Miskotte in einer Erinnerung an seine früheren Studien: die Attraktivität der christlichen Botschaft für die jungen Völker des „germanischen” Heidentums lässt sich dieser Linie entlang auch einfacher denken. Bei sachverständigen Erklärern des Thomismus las er außerdem, dass seine Lehre von der göttlichen Allgegenwart dann auch kaum gegen pantheistische Konsequenzen zu schützen ist.[5] Und damit war die Übertragung der göttlichen Allgegenwart auf die Allgegenwart des Weltalls in der frühen Modernität, von der wir schon redeten, vorbereitet.    

Dennoch hat Miskotte die oben genannte Ambivalenz der westlich-christlichen theologischen Überlieferung sehr ernst genommen. Diese ist nämlich seines Erachtens nicht eindeutig, und deshalb fehlt in ihr die Erinnerung an das personale Element des Namens des lebendigen Gottes Israels keineswegs. Man kann diese Einsicht beispielhaft auffinden, wenn man Miskotte am letzten Abschnitt seines Vortrags (nochmals) betonen sieht, dass der Diener des Wortes der Erfahrung der Abwesenheit Gottes im 20. Jahrhunderts nur in tiefer Solidarität begegnen kann (XIII, 142-143). Gerade der Glaube nämlich „weiß von der Anfechtung, und von geistlichem Verlassensein weiß er unaussprechlich viel mehr als der scharfe Verstand und das tiefe Herz des Menschen“. Flotte Gläubigkeit ist hier sehr unpassend! „Wer es von Teresa von Avila oder Johannes vom Kreuz nicht verstehen will oder kann, der lerne es aus Luthers  Bekenntnissen oder aus den kühlen Beschwörungen Simone Weils.” Es ist auffallend, wie sehr Miskotte hier an die christlichen Mystikerinnen erinnert, um die Erfahrung der göttlichen Absenz als eine genuin christliche Erfahrung zu beleuchten. Zweifellos hat er hier auch seine eigene, so man will: mystische, Erfahrung ins Spiel gebracht. Schon als junger Pfarrer in Kortgene (Seeland) hat er 1924-1925 eine Reihe zeugnishafter Beiträge im Gemeindeblatt publiziert unter dem Titel „Vom verborgenen Umgang” (nach Psalm 25,14 im alten niederländischen reformierten Reimpsalter). Er skizzierte dort acht Dimensionen der inneren Erfahrung (im niederländischen: „bevinding”), unter welchen „Die Verborgenheit” und „die Verlassenheit”.[6] Oben sahen wir, wie Miskotte die moderne Naturphilosophie mit K. Joël aus dem Geiste der Mystik geboren sah. Die Mystik mit ihrem Nachdruck auf die Erfahrungen der Unermesslichkeit und Unendlichkeit[7] hielt er damit  verantwortlich für die unpersönlichen und von der Örtlichkeit des lebendigen Gottes abstrahierten Auffassungen im westlichen Denken. Bei Karl Barth findet man ein ähnlicher Vorwurf.[8] Hier kann man aber sehen, dass es für Miskotte auch eine ganz andere Seite der mystischen Erfahrung gibt, eine Seite, auf welcher das Leiden um die Verlassenheit und das Wissen um die göttlichen Verborgenheit gerade zum Herzen des Glaubens selbst gehören und gerade deshalb die Verwirklichung des einen Poles des Auftrages eines Theologen, nämlich der Pol der „Solidarität mit dem Entbehren dieser Zeit”, ermöglichen.

Die neuere theologische Besinnung

Die Ambivalenz in der christlichen Überlieferung ist von verschiedenen Gesichtspunkten her zu überwinden. So gibt es die Erinnerung an der παρουσία in den neutestamentlichen Schriften, als einer eschatologischen Größe, die in der frühen Christenheit als „eine objektive, transzendente und fundierende Übermacht, die eine Gleichzeitigkeit mit ihrem eigenen Präsentsein einschloss“, angerufen wurde (XIII, 141). Und es gibt die Erinnerung an die reformatorischen Vorfahren, die, „wenn sie den Gang des Wortes Gottes als eine Macht zur Umkehr entdeckten, um die besondere Gegenwart Gottes beten gelernt haben“ (I, 110).

Eine wichtige Korrektur kommt zweifellos von der dogmatischen Reflexion her. „Nichts steht unser aller Not, soweit sie intellektuell erfasst werden kann, näher” als „ihre Majestät Aschenbrödel”: die Dogmatik. Insbesondere empfiehlt Miskotte den Studenten die Lektüre der Erörterungen zur göttlichen Allgegenwart bei Karl Barth und Otto Weber an (XIII, 141f.).[9] Die wichtigste Aussage Barths, die Miskotte faktisch seiner ganzen Rede zugrunde legt, ist wohl diese, dass „gerade die besondere Gegenwart Gottes [in seiner Schöpfung] in der Reihenfolge biblischen Denkens und Redens immer die erste und in seiner Würdigung und Schätzung immer die eigentliche und entscheidende ist”.[10] Doch sehe ich wohl einen methodischen Unterschied. Miskotte geht immer von der besonderen Gegenwart aus und kann sich dann fragen in wieweit diese sich verallgemeinern lässt; er liest damit das Ergebnis der Barthschen Untersuchungen antischolastisch und setzt diese antischolastische Tendenz  unmittelbar ein.[11] Barth selbst dagegen folgt eher den überlieferten scholastischen Definitionen und Distinktionen, um diese dann allmählig von seiner biblischen Konzentration her von innen heraus umzubilden. Trotz dieses methodischen Unterschiedes ist die Verwandtschaft der beiden Theologen unverkennbar. So schreibt Barth gleich am Anfang seiner Erörterungen, dass der Grund der göttlichen Gegenwart in der göttlichen Freiheit gerade die göttliche Liebe sein muss, weil Gott nur in sich selbst (und dann auch dem Anderen) koexistierend sein kann, wenn er sich selbst (und dann auch dem Anderen) gegenwärtig sein kann.[12] Und Miskotte überlegt sich, dass die scholastische Einführung des Begriffs immensitas nur einen Sinn haben kann, wenn sie statt eine logischen Notwendigkeit eher einen Gefühlswert hinsichtlich der Güte Gottes (parallel also mit „unergründlich” oder „grundlos”) ausdrücken könnte (IX, 129).

Miskotte übernimmt Barths Hinweis auf die dreifache Gestalt der göttlichen Gegenwart nach Petrus Lombardus: erstens in der ganzen Natur, sodann excellentius in den heiligen Seelen, in welchen Gott per gratiam innewohnt, und letztlich excellentissime im Menschen Jesus Christus, wo er per gratiam unionis gegenwärtig ist (XIII, 140[13]). Miskotte stimmt Barths Kritik des Komparativs und des Superlativs in dieser Aussage zu.[14] Dennoch ist es bemerkenswert, dass er auf die göttliche Präsenz im Leib Christi, worauf bei Barth der ganze Diskurs hinausläuft, in seinem Vortrag (abgesehen von einem kurzen Hinweis zum Schluss; XIII, 144) fast nirgendwo eingeht. Stattdessen erörtert er die aktuellen Fragen bezüglich der Gegenwart Gottes ganz von der Theologie des Alten Testamentes her.

Das Zelt der Vergegenwärtigung

„Lehrt die Schrift irgendwo die Evidenz seiner Allgegenwart? Ist nicht alle Erkenntnis Gottes  an einer besonderen Präsenz im Heiligtum gebunden?” (III, 114). Im großen Buch Wenn die Götter schweigen wird das näher erörtert.

„Der Herr, Israels Gott, ‚wohnt‘ auf Zion, wohnt im Himmel und auf den Lobgesängen Israels. Die Verborgenheit ist die dunkle Aura, die dieses Wohnen, diese Gegenwart umgibt. Sie ist und bleibt vorgegeben. Was der Verborgenheit – augenblicksweise – gegenübersteht, ist nicht die Offenbarung, sondern vielmehr die zeichenhafte Gegenwärtigkeit im ‚Zelt der Vergegenwärtigung‘ [nach der Verdeutschung Martin Bubers, RRB]. Er hat Zion ‚begehrt‘, um irgendwo auf Erden zu zelten.”[15]

Dieses „zelten” hat unmittelbar praktische Implikationen:

„Ich bin der Meinung, dass auch die Religion von Hinz und Kunz und ihre Art, den Sonntag zu verbringen, einer Vernachlässigung des Alten Testamentes entspringen: denn auch die Gemeinde, der Kultus, die Liturgie, das Lied, das öffentliche Gebet werden ihres lebendigen Gehaltes beraubt, wenn die Verbindung mit dem Zeugnis des Alten Testaments als der Verkündigung der realen, variablen Weisen der göttlichen Gegenwart abgeschnitten wird.”[16]

Weiter fragt Miskotte: „Ist diese [besondere] Gegenwart nicht eine Gegenwart der göttlichen Tugenden, die z.B. in der Theophanie Exodus 34 genannt und gepriesen werden?” (III, 114). Damit spielt Miskotte auf seine früheren Äußerungen im Biblischen ABC an:

„‘Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langmütig und groß an Huld und Treue‘. Hier könnte nicht ebensogut stehen: Herr, Herr, Allmächtiger, Allwissender, Allgegenwärtiger […] Denn dann würden die Tugenden zum Verschwinden gebracht. Dies ist das Kernwunder der heiligen Lehre, dass es umgekehrt ist.”[17]

Diese Aussage gehört zum (beim Entstehen 1941 ebenfalls vom gerade erschienenen Band KD II/1 inspirierten) Kapitel „Die Ordnung der Tugenden”, wo es auch heißt:

„erst müssen wir wissen und anerkennen, dass Gott irgendwo ist, um alsdann zu wissen, dass er überall ist. […] Es ist nicht naiv, wenn die Bibel davon spricht, dass Gott geht, kommt, wandelt, herniedersteigt usw., denn gerade dieser ist der Allgegenwärtige, dieser ist es, die die Räume der Welt beherrscht mit seiner Tat, mit der Reihe seiner Taten zugunsten der Erde.”

Denn: „In der ganzen Schrift als heilige Unterweisung geht der Weg unserer Erkenntnis vom Besonderen zum Allgemeinen […], von den besonderen Formen des Gegenwärtigseins wie Tempel, Wort, Sakrament zur Allgegenwart.”[18] Und er wagt es sogar, von da aus von einer „legitimen Extrapolation” (XII, 138) zu reden:

„Man stelle sich vor, dass wir alle noch einmal dort ankommen werden, wo die Heiden in ihren religiösen Wahn bereits zu sein sich vermessen haben: wir sehen Gott, wir sehen Gott in allem, wir partizipieren durch seine Präsenz am All, wir sind selig im Gegebenen, im ewigen Sein!”[19]

Die Präsenz der Wahrheit im Wort Gottes

Wenn die besonderen Formen von Tempel, Wort, Sakrament die Ausgangspunkte bieten sollen, wundert es nicht, dass Miskotte, bei allem solidarischen Hören auf die Stimmen der zeitgenössischen Kultur, für seine Zuhörer immer wieder zum Wort, das geschieht, und damit zur Bibel und zur Predigt zurückkehrt. Das biblische ABC, am Anfang der Besatzung der Niederlande durch die Wehrmacht konzipiert, kam dem Bedürfnis von sehr unterschiedlichen Kreisen nach einer Neubesinnung auf die Grundlagen der Humanität in den biblischen Schriften entgegen. Miskotte schreibt dazu:

„Wenn dann irgendwo ein erstes Rascheln von neuem Leben vernehmbar wird, ein Erwachen, ein Sich-die-Augen-Ausreiben, ein Tasten nach einem Halt, ein freudiges Wiedererkennen dessen, was man halb gesehen und halb bekannt hatte, Platz greift […] und diese ersten Lebenszeichen nun quer durch alle Richtungen gehen und Menschen zusammenbringen, die sich bislang nicht nacheinander umsahen […] – so hat das seinen Ursprung in nichts anderem als einer Ahnung, einer Witterung für die Präsenz der Wahrheit. Siehe, ‚er steht mitten unter euch, den ihr nicht kennt‘ (Joh. 1,26).”[20]

Eine Autorität der Schrift kann dabei nicht von vornherein vorausgesetzt werden:

„Nicht im vornhinein, um daran zu proben, ob wir ihr Autorität zuerkennen sollen, sondern nachträglich vom Inhalt der Schrift, von der Präsenz der Wahrheit [! RRB] aus müssen wir lernen, genau zu verstehen, das Wesentliche zu sehen, Unterschiede zu bemerken, Grenzen zu ziehen, Formen und Konturen abzutasten und uns einzuprägen, müssen wir uns unterrichten lassen durch die Grundlinien, die Grundworte, die geistliche Grammatik der Schriften.”[21]

Neben diese didachè gibt es dann auch das kerugma. Vom Ereignis der Predigt erwartet und bekennt Miskotte eine besondere Gestalt der göttlichen Gegenwart. In seiner Homiletik schreibt er: „Dann tragen wir nicht wie so viele das Gotteswort als eine Ware, als einen Artikel unter anderen herum, sondern in Aufrichtigkeit, ‚als aus Gott‘, sprechen wir es ‚in Christus‘ (vgl. 2 Kor. 2,17).”

„Beim Dienst am Wort kann auch, durch die Menschenworte hindurch, eine helle Glocke in den Herzen läuten: Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten. – Und mehr noch: der Deus praesens handelt an uns, um uns zu erquicken und zu sättigen ist seiner jetzt wirkenden Liebe und Gunst, um uns zu beseelen mit dem hier verliehenen Licht und mit einer neuen Freude.”

„Die[se] besondere Gegenwart Gottes bekennen wir als eine Kondeszendenz der Gnade, eine reale Begegnung, eine Erhörung der Bitte: Veni, Creator Spiritus. Sie weckt eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit.” „Gottes Wesen ist ein Kommen; in seinem Kommen ist uns die Begegnung mit seinem Herzen bereitet. Es kann kommen wie der Frühling und die der Sturm, wie ein Frühlingssturm, gewaltig und wohltuend.” “Er zieht ein auf dem Wort der Wahrheit. Da ereignet sich eine geistliche Theophanie, sieghaft in ihrer Herrlichkeit; die geht mitten durch die Reihen; und der eine wird angenommen und der andere wird verlassen werden.”

„Gott ist gegenwärtig und zeigt, dass er von den Missetaten wegsieht, weil er uns in diesem einen Menschen ansieht, der allein der Mensch nach seinem Wohlgefallen ist. Siehe, hier ist euer Gott!, nicht der ‚Allgeist‘, nicht der Kompagnon unseres geistlichen Lebens, sondern Gott, der in Christus war und die Welt mit sich selber versöhnte.”[22]

Es mag sein, dass diese hohen Töne für manche Leser – vielleicht sogar für Günter Thomas, wiesehr er auch das präsentische Reden würdigt – zu hoch, zu sakramental, zu „präsentisch” wirken. Darum ende ich mit anderen Tönen, nämlich mit Worten aus einigen Gebeten, die Miskotte als Prediger vor und nach einer seiner letzten Predigten formuliert hat. Diese Gebete klingen beträchtlich bescheidener, leiser, angefochtener. Wir hören vor der Predigt:

„Herr Gott, wie wunderbar ist es, dass an diesem Tag auf der ganzen Erde Menschen zusammenkommen dürfen, von dir gelockt, von deinem Wort berückt, von deiner Stimme gerufen, von deinem Herzen gezogen. Ja, zu dir wird alles Fleisch kommen, jeder mit seinem Unbehagen, auch an diesem Tag. Aber, o Gott, waren jemals Menschen auf Erden so verlegen wie wir, allein mit unseren Fragen, gequält von Angst, nervös gemacht durch die vielen Stimmen, und vor allem: verlegen in bezug auf dich – nicht weil du so fern wärest, sondern weil du uns so nahegekommen bist in unserm Herrn Jesus Christus, und plötzlich merken wir nichts mehr von dieser Nähe. Und es schwindelt uns.”

Und nach der Predigt im gleichen Gottesdienst: „Wir danken dir, Herr unser Gott, dass dein unerschöpfliches Wort und dein unermessliches Zeugnis in dieser Welt gegenwärtig ist und dicht an unser Herz wachsen oder wenigstens von nahebei flüstern kann…”.[23]


[1] K.H. Miskotte, “Over de tegenwoordigheid Gods,” Vox Theologica 28 (1958): 132-144; 161-172; auch in ders., Geloof en kennis (Haarlem: Holland, 1966), 171-199; und in ders., Theologische Opstellen, verzorgd door J.T. Bakker en H.C. van der Sar, Verzameld Werk deel 9 (Kampen: J.H. Kok, 1990), 220-251; zitiert (jedesmal nach Abschnitt und Seitenzahl) nach der deutschen Übersetzung: “Von der Gegenwart Gottes” in: K.H. Miskotte, Der Gott Israels und die Theologie. Ausgewählte Aufsätze. Zum 80. Geburtstag des Verfassers am 23. September 1974 übersetzt und herausgegeben von Hinrich Stoevesandt und Hans-Jörg Weber (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1975), 110-144; aus der Sekundärliteratur siehe: Wim Dekker, Afwezigheid van God. Een onderzoek naar antwoorden bij W. Pannenberg, K.H. Miskotte und A. Houtepen (Zoetermeer: Boekencentrum, 2011), 115-121. 

[2] Siehe auch K.H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments (München: Chr. Kaiser, 1966), 33-37.

[3] Während des Holland Festivals 2019 in Amsterdam sind – auf einer sehr eindrucksvollen Weise – große Teile der Opern-zyklus Licht von Karl-Heinz Stickhausen ausgeführt worden. Namentlich bei den „Engel Prozessionen” in:  Sonntag aus Licht hatte ich den Eindruck, dass auch der post-römisch-katholische Stockhausen (daran Claudel ähnlich) einen Trost inmitten des kosmischen Erlebnisses bieten will: der Mensch im Kosmos ist immer von (guten) Engeln umgeben. Es ist auch eine „proclamation de la Paix” (Claudel, zitiert von Miskotte, 137), die diese Oper bietet, denn der traditionelle, namentlich in dem Barock (z.B. von Joost van den Vondel) stattfindernder Kampf zwischen dem Erzengel Michael und dem abfälligen Luzifer lässt am Sonntag letztendlich nach. Ob Stockhausen aber, wie Claudel (so jedenfalls Miskotte), diese Botschaft von der partikularen „israelitischen” Gotteserfahrung her vermitteln will, scheint mir fraglich. Eher ist der Trost hier doch immer wieder von einer Erfahrung der Ambivalenz begleitet, denn die Abwechslung von Kampf und Frieden, Tod und Leben, ist zyklisch, nämlich von der einen Woche in die nächste immer wieder sich wiederholend, gedacht. Ein «achter Tag» (Augustin) fehlt.

[4] R. Mehl, “Structure philosophique de la Notion de Présence”, Revue d”histoire et de philosophie religieuses, 38, no. 2 (1958), 171-176.

[5] Hinweis auf A.D. Sertillanges, Der heilige Thomas von Aquin, (Köln-Olten: Jakob Hegner, 1954), 199ff. Dieses Buch wurde von Miskotte seinen Studenten empfohlen.

[6] K.H. Miskotte, “Van verborgen omgang”, in ders., Mystiek en bevinding, Verzameld Werk deel 14, bezorgd en geannoteerd door Kick Bras, Willem van der Meiden en Rinse Reeling Brouwer (Utrecht: Uitgeverij Kok, 2015), 61-85. Vergl. G.H. Ter Schegget, “Die innere Erfahrung der Welt. Versuch über ‚bevinding‘“ bei K.H. Miskotte,” Zeitschrift für dialektische Theologie, 5, no. 1 (1989); 37-64, spez. 49ff.

[7] Auch Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/1 (Zollikon-Zürich: Theologischer Verlag, 1940), 522 kritisiert die Kategorie der infinitas Dei als einen Oberbegriff über der absoluten Raum- und Zeitlosigkeit Gottes. Offenbar wussten weder Barth noch Miskotte, wie die infinitas erstens in der griechischen Patristik als ein kritischer Begriff funktioniert hat – siehe E. Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1966) – und dann später, auf dem Spur des kartesianischen Gebrauch der Kategorie, von Emmanuel Levinas noch in einem viel kritischer Sinn eingesetzt ist – E. Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l”Extériorité (‚s Gravenhage: Martinus Nijhoff, 1974). Übrigens hat Miskotte später wohl das Denken des Levinas zur Kenntnis genommen; siehe Mystiek en bevinding, 226.

[8] Barth, KD II/1, 531.

[9] Barth, KD II/1, 518-551; O. Weber, Grundlagen der Dogmatik. Teil I (Neukirchen: Buchhandlung des Erziehungsvereins, 1955), 493-502. Über die Eigenschaftenlehre in KD II/1 schrieb Miskotte: „Die Erlaubnis zum schriftgemäßen Denken” in Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956 (Zürich: EVZ, 1956), 29-51.

[10] Barth, KD II/1, 537.

[11] Miskotte kann auch erklären: „‚Die Allgegenwart‘ Gottes als solche ist ein Stück halbschlächtiger Philosophie, für die Erkenntnistheorie eine Verlegenheit, für den Glauben nicht unmittelbar überzeugend. Die Predigt hat von der besonderen Gegenwart oder Gegenwärtigkeit auszugehen, so wie sie von der besonderen Offenbarung und mithin von einer besonderen Art von Verborgenheit ausgeht”; K.H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen, 263f. Wir bemerken: „die Predigt” hat davon auszugehen! Von dorther urteilt Miskotte „pragmatisch” den „Nutzen” der Dogmatik.

[12] Barth, KD II/1, 519-521.

[13] A.a.O., 544; Lombardus, Libri sententiarum I dist. 37A.

[14] Barth, KD II/1, 544., korrigiert Lombardus mit einem Hinweis auf Johann Gerhard, der statt excellenter den viel besseren Begriff singulariter verwendet.

[15] K.H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen, 263 („Die Gegenwärtigkeit”).

[16] K.H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen, 264. In „Von der Gegenwart Gottes” zitiert Miskotte Franz Rosenzweig, die von der christlichen Gestaltung bemerkt hat, dass sie von der biblischen Offenbarungsraum her die geschaffene Welt „verräumlicht” (IX, 236f.).

[17] K.H. Miskotte, Biblisches ABC. Wider das unbiblische Bibellesen (Wittingen: Erev-Rav, 1997), 65.

[18] A.a.O., 68-70.

[19]Ebd., 168 (a.a.O. redete Miskotte schon vom ‚extrapolieren”).

[20] A.a.O., 19; “Präsenz der Wahrheit” mit Kursiv und auf einer selbständigen Zeile gedrückt.

[21] A.a.O., Biblisches ABC, 21f.

[22] K.H. Miskotte, Das Wagnis der Predigt [1941; 1948]. Herausgegeben und übersetzt von Heinrich Braunschweiger und Hinrich Stoevesandt (Stuttgart: Calwer Verlag, 1998), 49, 51, 52.

[23] K.H. Miskotte, Predigten aus vier Jahrzehnten. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Hinrich Stoevesandt (München: Chr. Kaiser Verlag, 1969), 172, 181 (Predigt „Unser Unbehagen”, zu Mat. 26,41; gehalten in Amsterdam am 18. Februar 1968. Nach der Tonbandnachschrift.)

About the author

R.H. Reeling Brouwer

Plaats een reactie