‘Das Eingedenken als “Die Angel, in welcher die Pforte der Zukunft sich bewegt“ (Walter Benjamin)‘

Das Eingedenken als ‚die Angel, in welcher die Pforte der Zukunft sich bewegt‘ (Walter Benjamin)

‘Sicher wurde die Zeit von den Wahrsagern, die ihr abfragten, was sie in ihrem Schoße birgt, weder als homogen noch als leer erfahren. Wer sich das vor Augen hält, kommt vielleicht zu einem Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene Zeit ist erfahren worden:‘ [Variante: ‚Hält man sich das vor Augen, so sieht man am besten, wie sich dem Eingedenken die Vergangenheit gegenwärtig ist‘]nämlich ebenso. Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum noch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte‘ [Eine Variante fügt hinzu: ‚Die Angel, in welcher sie (sc. die Pforte, RRB) sich bewegt, ist das Eingedenken‘].

Walter Benjamin, ‚Über den Begriff der Geschichte‘, 1940[i]

Mit den Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte‘ Walter Benjamins beschäftigte ich mich schon in meiner systematisch-theologischen Diplomarbeit (1981). Also lange bevor ich als Dozent beauftragt wurde Dogmen- und Theologiegeschichte zu lehren. Ich habe diesen Text immer als wegweisend erfahren.

Benjamin ist aufgewachsen in einem großbürgerlichen Milieu. Seine Eltern waren zwar jüdisch, aber nicht-praktizierend. In seinen Jugenderinnerungen in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert kommt wohl ein Weihnachtsengel vorbei, aber der Sederabend (am Pesachfest) fehlt. Und auch 1940 – in dem Jahr, worin die Thesen geschrieben wurden – spricht er vor einer Leserschaft linker Intellektuellen, oft jüdischer Herkunft, die sich aber als säkularisiert verstanden, in Anhang, These B nicht von ‚wir Juden‘, sondern von ‚die Juden‘ – und auch dann noch zögerte Benjamin, ob er diese These in ‚Über den Begriff der Geschichte‘ aufnehmen sollte (GS I/3, 1254).

Auch der Einsicht, die in dieser These zum Ausdruck kommt, war Benjamin sich nicht immer schon bewusst. Dettlev Schöttker weist in seinem Artikel ‚Erinnern‘ in ‚Benjamins Begriffe‘ überzeugend nach, dass erst, als er in den 20-er Jahren dabei ist einige Bände von Prousts À la Recherche du temps perdu zu übersetzen, das Motivpaar Erinnern-Vergessen vorkommt. Bei Proust handelt es sich um ein in hohem Masse impressiv-sensitives und körperliches Phänomen, das sich eher im Unterbewusstsein als im Bewusstsein abspielt, und dass mehr oder weniger zufällig im gegenwärtigen Erleben konstruiert wird. Benjamin übernimmt, so Schöttker, das konstruktive Moment, aber es geht ihm doch mehr um das Erinnern als bewusstem Akt und entfernt sich damit von seinem großen französischen Geistesverwandten. Dabei übersieht Schöttker in meiner Wahrnehmung zwar die Beziehung, die Proust im siebenten und letzten, posthum erschienenen Teil Le Temps retrouvé erkennt zwischen dem fragmentarischen Wiedererleben des damals Geschehenen und der Ewigkeit – eine Figur, die doch unverkennbar dem Benjaminschen Messianismus verwandt ist. Richtig aber ist: man könnte sich eine Linie denken, mit auf dem einen Ende Freuds Auffassung der Erinnerungsarbeit als einer Wirkung des Unbewussten und auf dem anderen die Bezeichnung der Erinnerung als ein Sein in der Tat, wie Frans Breukelman sie in den biblischen Texten vorfindet: Gottes Gedenken Noachs ist (schon nach der hebräischen Grammatik) identisch mit seinem ‚Führen eines Windbrauses quer über die Erde‘ (Gen. 8, 1-2); auch die Bitte Josefs im Gefängnis an den Obersten der Schenker ihm später zu gedenken ist identisch mit der Bitte, Josef Huld zu tun und ihn dem Pharao zu erinnern (Gen. 40, 14). Auf dieser Linie befindet Proust sich eher auf dem einen Ende der Betonung des Unbewussten, Benjamin eher auf dem anderen Ende der Betonung des Bewussten, des Gedächtnisses als Tat. Und damit nähert sich Benjamin dem Ritual des Gedenkens der Befreiung aus Ägypten in der jüdischen Familie, als ein Bewusstwerden des Anspruchs, den die früheren Geschlechter an uns haben.

Die zweite These redet von diesem Anspruch:

‚Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben‘ [dieses heterosexuelle ‚wir‘ lasse ich wo es herkommt, nämlich aus Benjamins Feder, RRB]‚ nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, eine schwache messianische Kraft mitgegeben‘ – das (im Typoskript unterstrichene) Adjektiv ‚schwache‘, wird von Giorgio Agamben verstanden als eine Erinnerung an die Aussage des Paulus im 2. Kor. 2, 10, ‚an welche die Vergangenheit Anspruch hat‘ (GS I/2, 693f.).

Es wird die LeserInnen  nicht wundern, dass ich beim Hören des programmatischen – und leider von uns Kollegen nur unzureichend diskutierten und verarbeiteten – Vortrags von Hans-Martin Kirn auf dem dies natalis der (ehemaligen ThUK und jetzigen) PThU in Leiden im Dezember 2008, an diese zweite These Benjamins erinnert (!) wurde. Im zweiten Paragraph dieses Vortrags, in welchem er auf die eigene Identität der Theologie in der Interaktion mit den religious studies zu sprechen kommt, führt Kirn die memoria als ein theologisches Motiv beim Studium der Kirchengeschichte auf. Er sagt dazu:

‚Am Anfang der religiös-kulturellen Erinnerung und damit der Geschichtsschreibung steht also nicht die Frage: was ist nett („leuk“) und nützlich für uns zu wissen? Aber: welches Recht hat der verstorbene „Andere“ auf mich als der Überlebende? Die Geschichte wird dann als eine elementare Gabe und als ein Auftrag gesehen – wie der Andere eine Gabe ist, der uns verantwortlich macht.‘

Auch Benjamin ist sich davon bewusst, mit der memoria einen theologischen Gesichtspunkt aufgeführt zu haben. In seinen gesammelten Notizen zur Vorbereitung der Thesenreihe, von den Herausgebern der Gesammelten Schriften zusammengestellt, findet man als ‚Vorbemerkung‘ die doppelte Aussage: ‘Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen‘ (G.S. I/3, 1235). Die zweite Aussage deutet an, dass es nicht angebracht ist eine ‚fromme‘ Geschichtswissenschaft zu betreiben, sei es explizit als gesta Die per Francos, sei es, daraus abgeleitet, in quasi-säkularisierter Gestalt. Auch Kirn bemerkt in seinem Vortrag: ‚Das historische Konzepte einer Heilsgeschichte und sogenannter „Großen Erzählungen“ mit ihren teleologischen oder begriffsmäßigen Metastrukturen sind einfach unhaltbar geworden‘. Die erste Aussage gilt aber auch: theologische Gesichtspunkte können der Geschichtsschreibung zu Hilfe kommen, wenn auch ‚die Theologie heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen‘ (These I, GS I/2, 693). Es ist gerade die Tendenz der Thesen diese ‚implizite‘ Theologie (Pangritz) zu zeigen, obwohl Benjamin-Interpreten wie Schöttker sich für diese theologische Komponente zu schämen scheinen.

Der Anlass dieses letzten und nicht zur letzten Vollendung gebrachten Textes aus 1940, hinterlassen, bevor Benjamin auf der Flucht vor der Gestapo bei Port Bou seinem Leben an der spanisch-französischen Grenze ein Ende setzte, ist die schmerzhafte Feststellung, dass die beiden großen deutschen Arbeiterparteien nicht im Stande waren wirklichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu mobilisieren. Der Sozialdemokratie wirft Benjamin ihren Konformismus vor, mit dem sie sich den für selbstverständlich gehaltenen Gesetzen des historischen Fortschritts anvertraut hat, von denen sie glaubte, sie würden in ihrem Vorteil wirken. Über die kommunistische Bewegung schweigt er. Aber es ist bekannt, dass seine Enttäuschung über den Molotov-Ribbentrop Pakt (August 1939) mit zu der Schärfe der Thesen beigetragen hat. Man kann also sagen, dass es die populäre Version einer hegelianischen Geschichtsphilosophie gewesen ist, die die wichtigste Zielscheibe dieses Textes bildete. Eine solche Ideologie des historischen Fortschritts impliziert auch eine Theologie, aber eine schlechte. Ein neues Bedenken des ‚Eingedenkens‘ soll dagegen ein notwendiges Gegengift sein.

‚Vergangenes historisch artikulieren heißt (…), sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt‘ (These VI, GS I/2, 695). Die memoria entspringt also nicht dem Ritual – obwohl sie hinterher in diesem eingeübt werden kann (die ‚Unterweisung von Tora und Gebet‘ aus unserer These) –, auch nicht einem mehr oder weniger obligaten Calvin- oder Barth-Jahr (von Kirn mit recht ironisiert), sondern dem konkreten ‚Blitz‘ in der ‚Jetztzeit‘ (Thesen XIV, GS I/2, 701 und XVIII, GS I/2, 703 – nach Agamben wiederum ein paulinischer Ausdruck: ho nun kairos, Röm. 3, 26 und 11, 15). Das Eingedenken geschieht also, wenn im heutigen Geschehen das Gedenken des Früheren sich anmeldet; man kann es nicht methodisch hervorrufen, obwohl es, wenn es geschieht, gerade als methodischer Zugang zur Geschichtsschreibung eine Schlüsselrolle hat.

Hier wendet sich die Perspektive, gegen den Glauben, der Fortschritt werde es schon richten. Nicht ‚das Ideal der befreiten Enkel‘, sondern ‚das Bild der geknechteten Vorfahren‘ ist leitend (These XII, GS I/2, 700). Das Eingedenken ist der Gegenwart gegenüber kritisch, denn es bringt die unzähligen bis heute unerfüllten Erwartungen früherer Geschlechter in Erinnerung. Aber das Eingedenken bezieht sich auch kritisch auf die Vergangenheit. Denn die drohende, aber vom Konformismus negierte Gefahr ‚droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern‘: ‚auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein‘ (These VI, a.a.O). Deshalb ist die Zeit nicht als ein homogenes und leeres Neutrum aufzufassen, das sich füllt mit vielerlei Tatsachen und Geschehnissen – auf diese Weise hat Proust seine ‚verlorene‘ und wieder zu findende Zeit sicherlich auch nicht verstanden –, sondern als eine qualifizierte Zeit, wobei das Eingedenken quasi als Wünschelrute funktionieren kann das zu finden, was man in ihr zu suchen hat. Das Wort, der Historiker sei ein ‚rückwärts gekehrter Prophet‘ will Benjamin dann auch so verstanden wissen: ‚er wendet der eignen Zeit den Rücken, und sein Seherblick entzündet sich an den immer tiefer ins Vergangene hinschwindenden Gipfeln der früheren Menschengeschlechter‘ (GS I/3, 1237).

Der Historiker verbietet sich damit zugleich als Seher in die Zukunft aufzutreten. Der Wunsch von der Zukunft zu wissen entspringt einem Beherrschungsbedürfnis. Dagegen hat das biblische Verbot der Zukunft nachzuforschen (Lev. 20, 27; Deut. 18, 10; 1 Sam. 28, 7; Jes. 8,19) noch immer seinen guten Sinn. Wer im Eingedenken wach geworden ist, weiß darum, dass viel mehr und anderes geschehen kann, als man vorherzusagen im Stande ist. ‚Das Eingedenken, in dem wir die Quintessenz ihrer [= der Juden] theologischen Vorstellung von Geschichte zu sehen haben, entzaubert die Zukunft, der die Magie hörig ist. Aber sie macht sie darum noch nicht zur leeren Zeit. Sondern ihr ist jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten kann. Die Angel, in welcher sie sich bewegt, ist das Eingedenken‘ (eine frühere Fassung der These B, GS I/3, 1252). Für die Methode der Geschichtsforschung und der Geschichtserzählung impliziert das, dass gerade der Theologe als Historiker weiß, dass er oder sie dem Eintritt des Messias nicht vorgreifen kann. Es ist nicht seine oder ihre Aufgabe, das Vergangene zu richten – obwohl ich die Erfahrung gemacht habe, dass man sicher als Theologiehistoriker sehr rasch in Gefahr ist dieser Versuchung zu verfallen. Besser ist, als Chronist aufzutreten, ‚welcher die Ereignisse hererzählt, ohne groβe und kleine zu unterscheiden‘, und ‚damit der Wahrheit Rechnung trägt, dass nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist‘ (These III, GS I/2, 694). Freilich ist ‚erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden‘ (a.a.O.), und auch darauf kann der Historiker nicht vorauslaufen. Aber wohl kann dem Geschichtsschreiber – und zwar gerade dann, wenn er vom kritischen Sinn des Eingedenkens weiß – die Gabe beiwohnen, ‚im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen‘ (These VI, 695).

Rinse Reeling Brouwer

Literatur

  • Giorgio Agamben, Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M:  Suhrkamp 2006, 153-162.
  • Frans H. Breukelman, ‚Gedenken und vergessen‘, in:  Debharim. Der biblische Wirklichkeitsbegriff des Seins in der Tat. Biblische Theologie II,1, Kampen: Kok 1998, 13-18.
  • Hans-Martin Kirn, ‚Van Theologie naar Religious Studies? Voorbij het dilemma tussen zelfopheffing en isolement’, Diesrede Leiden, PThU 2008.
  • Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie. Ein Versuch über das Projekt einer ‚impliziten Theologie‘ bei Barth, Tillich, Bonhoeffer, Benjamin, Horkheimer und Adorno, Tübingen: Theologischer Verlag 1996.
  • Marcel Proust, A la Recherche du Temps perdu. Le Temps retrouvé, Paris: Gallimard 1927.
  • Rinse Reeling Brouwer, Is het marxisme een messianisme? Theologie in gesprek met Louis Althusser en Walter Benjamin, Zeist: Eltheto 1981.
  • Detlev Schöttker, ‘Erinnern’, in: Michael Opitz & Erdmut Wizisla (Hrsg.), Benjamins Begriffe. Erster Band, Frankfurt/M: Suhrkamp 2000, 260-298.

[i] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, Anhang These B, in:  Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M: Suhrkamp 1974, Band I/2, 691-704 und Band I/3, 1223-1271, hier I/2, S. 704 und GS I/3, S. 1252).

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R.H. Reeling Brouwer

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