Rinse Reeling Brouwer
‘Christus allein!’
Das Zeugnis K.H. Miskottes (1940) als Herausforderung
In der Woche des 18. Novembers 1940, ein halbes Jahr nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht, veranstalteten einige christliche Studentenvereine eine Evangelisationswoche in der Aula der Amsterdamer Universität. Hier sprach der Amsterdamer Pfarrer Kornelis Heiko Miskotte zum Thema ‚Christus allein‘. Rinse Reeling Brower paraphrasiert diesen Vortrag, der ungewohnte Gesichtspunkte zu Tage fördert. Diese erweisen sich als erschreckend aktuell.[1]
Ergreifend der Anfang: ‚Die Worte, die hohen Worte, mit denen wir anhoben, sind in der Glut und Lava der gewalttätigen Welt verbrannt.‘ Wie kann man dann noch Christus bezeugen, wenn man dies nur noch tun kann mit Worten, die zwar groß und hoch, aber auch eitel klingen müssen. Sind sie nicht bloß ein schwerer, allzu schwerer Ballast aus der Vergangenheit? Zugleich besteht in der Anfechtung und Entleerung der heutigen Zeit ein Bedürfnis nach einer unmittelbaren Tat, nach einem Leben in der Entscheidung. Der liberale Relativismus des vergangenen Jahrhunderts macht einem ‚dröhnenden Kollektivismus‘ Platz, und eine neue Generation zeigt sich trotz allem Entsetzen empfänglich für irrationale Forderungen, für eine totale und blinde Ergebung gegenüber einer absoluten Autorität und sucht den exklusiven, waghalsigen, heroischen, alles Zögern verhöhnenden Opfertrunk dar zu bringen. Aber Miskotte warnt: die Worte ‚Christus allein‘ ärgerten zwar einen liberalen Relativismus, aber sie sind einem autoritär beschaffenen Geist nicht weniger ärgerlich! Denn die menschliche Entscheidung für das Irrationale ist dem Evangelium ebenso fremd wie der Pluralismus der Vorkriegszeit es war. Auf diese Weise will er die Studenten nicht nur vor der totalitären Versuchung, sondern zugleich auch vor einem voreiligen Greifen nach der (z. B. nationalistischen) Tat behüten. Ihm geht es darum, zur Besinnung zu rufen, damit es zu einem besseren Widerstand kommt.
Eine willkürliche Losung?
Dann kommt Miskotte zur Sache, und er benennt die Ärgernisse. ‚Christus allein‘, das klingt wie eine Losung, eine willkürliche Parteinahme, ein abstraktes Prinzip, ein Schlachtruf im Krieg gegen Andere, eine Reduktion der vielseitigen Wirklichkeit, ein Ausdruck des Fanatismus. Aber, fragt er, wie ist es, wenn mit dem ‚Christus allein‘ nicht gemeint ist, dass ein Mensch für sich selber eine Wahl trifft, sondern er die Erfahrung macht, erwählt zu sein, eine Liebe zu erleiden, der gegenüber er wehrlos ist? In diesem Fall klingen die Worte völlig anders, nicht wie eine Losung, sondern wie ein völlig ungeplantes Bekenntnis: ‚ich kann nur sagen, dass DU, Christus, der Liebhabende, der meine bist und ich mich bei keinem anderen mehr zurechtfinden kann.‘ Das ist keine Willkür, sondern die Konsequenz des ‚seit ich Dich kenne, weiß ich nicht mehr, wo ich sonst noch Freiheit finden würde.‘ Es ist auch kein blutleeres Abstraktum, sondern die Erfahrung einer bundesgenössischen Gemeinschaft in der Fülle des Lebens. Kein Schlachtruf gegen Andere, sondern ein Ausdruck des Staunens, dass Er, der mich gefunden hat, auch für andere nur eine Befreiung bedeuten kann. Kein Systemprinzip, sondern Er der Einzige, in welchem ‚alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen sind‘ (Kol. 2, 3), weil ‚ich, seit ich Dich kenne, alle anderen Erfahrungen nur noch in Deinem Licht für mich selber einzuordnen vermag‘ . Wenn das schon fanatisch sein soll, dann wie der Fanatismus der Liebe im Hohen Lied (8, 6f.), die Ergebung, Gegenliebe, Demut und Dankbarkeit erweckt: ‚Ihre Flammen Feuerflammen, Flammen JHWHs / Wassermassen können die Liebe nicht löschen …‘.
Liberale Ärgernisse
Es gibt zwei Richtungen, die Christuswirklichkeit zu verstehen: : Man kann die Wirklichkeit Christi in die Wirklichkeit aller Menschen einordnen oder man kann sie vergeistigen.
In die eine Richtung ging die liberale Tradition, als sie den Christus, mit schönen Worten und bewegtem Pathos, als religiöses Genie, prophetische Erscheinung, vorbildlichen Menschen oder geistlichen Führer darstellte. Dann wird aber unterirdisch doch immer die Frage nagen: warum gerade er? Worin zeichnet sich gerade seine Genialität, seine Prophetenart, seine Vorbildlichkeit und seine Führerschaft aus vor den Stärken vieler anderer Menschen und Menschentypen? Muss man nicht zugeben, dass man faktisch eine bestimmte Vorliebe für eine bestimmte Gestalt der Humanität auf ihn, und zwar ziemlich anmaßend gerade auf ihn projiziert? Nach Miskotte ist die Widerlegung dieser Argumentation nur auf Grund des altkirchlichen Dogmas möglich. Dort wird die ganze Fülle der Gottheit als in ihm leibhaftig gegenwärtig gesehen (Kolosser 2, 9). Das heißt: nur von der Gottheit, von diesem Gott, dem Gott Israels, her kann gezeigt werden für welche Humanität er tatsächlich sein Leben gegeben hat. Für Miskotte ist das Bekenntnis Israels grundlegend, ‚Höre Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig‘ (5 Mose 6, 4). Die Konzilsaussage der Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater hat nur einen Sinn, wenn damit besagt wird, dass der NAME des Gottes Israels sich selbst in Jesu Christo auslegt (Joh. 1, 18), der Sohn also die Einzigkeit des NAMENS aufs Neue erklärt. Die hohen Aussagen, die Jesus von sich selbst gemacht hat (z.B. Johannes. 14, 6),sind völlig unakzeptabel, es sei denn, wir verstehen sie als göttliche Selbstmittteilungen. Wenn sie aber solche Selbstmitteilungen sind, dann greifen sie auch sehr tief ein, denn sie bezeichnen dann, welche Menschheit dieser Gott geliebt hat, wie tief die Erniedrigung ist, in der sich die Menschheit befindet, die von diesem Gott erwählt ist. Die Auszeichnung dieser Humanität ist aber nicht unser, sondern Sein Akt. Das ärgert uns alle, aber der Liberalismus verschafft diesem Ärgernis eine Stimme.
In die andere Richtung geht sie, als sie die Menschlichkeit Christi vergeistigt. Sie verkörpert dann die Idee des Guten oder die Idee der Menschheit. Sie stellt dann den Sonderfall eines Mythos dar, der auch, obwohl nicht ausschließlich, Christus-Mythos heißen darf. Dem widerspricht aber, sagt Miskotte, der israelitische, irdische Charakter des Evangeliums. Christus war keine Christus-Idee oder Menschheits-Idee, er war ein Jude, und, so Miskotte, ‚an dem Sein eines Juden kann man bekanntlich wenig vergeistigen oder idealisieren‘. Er sagt das im Herbst 1940, als die große Mehrheit der niederländischen Zivilbeamten schon die sogenannte Ariererklärung unterzeichnet hatte, womit klar wurde, wie wenig die bedrohliche Lage der Juden ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen war. Gerade deshalb ist es für Miskotte von höchstem Gewicht zu unterstreichen, dass das menschliche Sein, dass also das ‚Fleisch‘, das der Sohn des Gottes Israels erwählt hat, jüdisches Fleisch gewesen ist. Jesus Christus war Jude. Es gibt demnach keinen Zugang zur Humanität Jesu an dieser Konkretion vorbei. Das ist nicht unsere Entscheidung, das ist eine Entscheidung, die uns gewiesen ist.
Heidnische Ärgernisse
Miskotte verstand – anders als die geläufigen Faschismus-Analysen– den Nationalsozialismus als Ausdruck eines religiösen Strebens. Die Vertreter einer Neubelebung des germanischen Heidentums sah er als repräsentativ für die nationalsozialistische Bewegung als Ganzes. In seinem Vortrag zitiert er den bulgarischen Denker Janko Janeff (der noch immer in neonazistischen Kreisen bewundert und studiert wird) mit seinem Plädoyer und Kampf für ‚unsere Befreiung von Christus, einem Sich-Lösen von diesem Störenfried, der mit seiner semitischen Predigt unseren europäischen Geist, dem diese Predigt nun einmal völlig fremd ist, verdorben und gespalten hat.‘ Miskotte betont, Christen sollten solchen Sätzen nicht widersprechen, denn sie sagen die Wahrheit. Es war ja nichts anderes zu erwarten. Der heidnische Naturalismus muss den Christus als unerträglichen Kritiker unserer Schicksalsergebenheit empfinden, als das Ende unserer Sehnsucht nach einem heroischen Leben, als einen nimmer erwünschten Fremdling. Wer die Trauer um den Verlust der Möglichkeit, die Urkräfte zu verehren, kennt, wer das Weltall erfährt als ein chaotisches Werden ohne Gerechtigkeit und ohne Erbarmen, muss sich an der Botschaft dieses Eindringlings und an ihm selber ärgern, muss ihn letztendlich erledigen wollen.
Nach Miskotte versagt an diesem Punkt die ‚vergleichende Religionswissenschaft‘. Denn kann man wirklich Gott, den Gott Israels, mit den Göttern auf eine Ebene stellen? War es nur ein Zufall, dass es für den Christus im römischen Pantheon keinen Ort gab? Welcher Religionsstifter, der beanspruchte die Wahrheit zu lehren, den Weg zu weisen und das Leben zu kennen, hat es gewagt von sich selber zu sagen, der Weg, die Wahrheit und das Leben zu sein? Das Ärgernis ist real: ‚Selig wer sich an mir nicht ärgert‘ (Mat. 11, 6). ‚Christus allein‘ bedeutet auch: Er passt einfach nicht in unser Konzept, er ist ‚contre la nature‘ (Pascal).
Sein Buch Edda und Thora, 1939 als Warnung vor dem Neuheidentum erschienen, schließt Miskotte ab mit dem Kapitel ‚Die Scheidung der Geister‘. Die europäische Kultur, heißt es dort, war immer ein Amalgam israelitischer und heidnischer Elemente. Das hatte auch seinen guten Sinn, denn es bot die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit Christus sowohl das Ärgernis als auch die Faszination zu artikulieren. Aber jetzt, in einer Zeit, in der das Heidentum neu erwacht, ist Klarheit vonnöten. Darum hat die Bekennende Kirche recht mit ihrer Betonung des einen Wortes Gottes, das wir zu hören und dem wir zu gehorchen haben. Darum auch ist jetzt (1940) ein Kompromiss unmöglich. Rechneten wir mit einer doppelten Offenbarung, einer doppelten Moral, einer doppelten Loyalität: Christus und die vitalen Kräfte des Blutes, die Liebe und die Akzeptanz der schicksalsergebenen Anziehungskraft des Heroismus, die Vergebung und die düstere, mörderische Tiefe der Seele, dann wäre die Möglichkeit eines besseren Widerstandes von vorne herein vereitelt. Das war damals die Aktualität des Bekenntnisses ‚Christus allein!‘.
Eine Randbemerkung. Der Satz von der Vergebung in Christus ist, so weit ich sehe, der einzige in seinem Vortrag, in dem Miskotte eine Anspielung macht auf das solus Christus-Bekenntnis, wie die Reformation ihn verstand. Seine Front ist das drohende Neuheidentum, und in der Folge ein Liberalismus, der für den Kampf gegen dieses neue Phänomen unzureichend gerüstet ist. Seine Front ist also nicht wie bei Luther die nominalistische Verdienstlehre, nach welcher es z. B. heißen konnte, ‚das Werk Christi am Kreuz [ist] niemals die einzige und gänzliche Verdienstursache des Heils‘ (Gabriel Biel). Dennoch nimmt Miskotte mit seinem Satz der Vergebung Luthers Anliegen in seinem eigenen Anliegen auf: die Vergebung Christi allein ist gültig, d.h. allein die Liebe des Einzigen Liebhabers, von der Seele als heilsam begrüßt, zählt, und nicht auch noch die düstere Tiefe der Seele. Miskotte musste das wohl so kräftig betonen, weil, wie man in seinen Tagebüchern lesen kann, die heidnischen Versuchungen seiner eigenen Seele nur zu vertraut waren.
Noch einige Missverständnisse
Zum Schluss noch einige Bemerkungen, die sich auf die letzten Seiten seines Vortrages beziehen. Sie sollen das Gesagte verdeutlichen und möglichen Missverständnissen vorbeugen.
Erstens: Die Einzigkeit, die hier gemeint ist, darf nicht mit der sogenannten Absolutheit des Christentums verwechselt werden. Das Christentum hat keine selbständige Bedeutung, sondern ist nur der Ort, ja, die armselige Wüste, wo Christus selber hat wirken wollen. Es ist ein Raum der Freiheit, wo Menschen die Wahl zwischen den israelitischen und den heidnischen Elementen immer wieder vor Augen geführt bekommen. ‚Christus allein!‘ ist darum, sozusagen, nicht nur exklusiv nach außen, sondern auch exklusiv nach innen, nicht nur eine Einladung an die Welt, diese Einzigkeit anzuerkennen, sondern auch eine kritische Frage an die Christenheit, ob sie diese Einzigkeit wirklich zur Kenntnis genommen hat.
Zweitens: wenn ‚Christus allein‘ nur als das wehrlose Bekenntnis eines durch die Liebe des Liebhabers Überwältigten gesprochen werden kann, ist es offenbar nicht nur unritterlich, sondern auch gar nicht möglich, dieses Bekenntnis mit intellektuellen Argumenten verteidigen oder gar beweisen zu wollen, auch nicht in dem akademischen Setting einer universitären Aula. Miskotte zitiert in diesem Zusammenhang (1940!) den jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig: ‚Letztes Erkennen verteidigt nicht mehr, letztes Erkennen richtet‘ (aus ‚Apologetisches Denken‘). Aber nicht der Zeuge richtet, es ist das göttliche Wort, das mit dem Flügelschlag eines Adlers naht, um das Urteil zu sprechen. Der Zeuge soll nicht leise wie auf Taubenfüssen sein Zeugnis flüstern, er oder sie soll es in aller Öffentlichkeit laut verkündigen. So hat Miskotte in den ersten Monaten der Besatzung seinen Zuhörern und sicherlich auch sich selbst Mut machen wollen.
Drittens: als Ausdruck der Liebe hat das Bekenntnis zweifellos etwas Partikulares, so wie die Gegenliebe zum Liebhaber immer mehr ist als ein Prinzip der Liebe im Allgemeinen. Dennoch ist dieses Bekenntnis absolut nicht engstirnig oder partikularistisch, im Gegenteil. Miskotte betont immer wieder, dass gerade das Besondere die richtige Sicht auf das Allgemeine öffnet und dass gerade ein konzentriertes Bekennen sich als , tendenziell wahrhaft katholisch, also ‚allgemein’erweist. Menschliches Recht, menschliche Freiheit, menschliche Zukunft, in der aktuellen Erfahrung des Weltganzen sind diese gerade nicht zu finden. Sie sind als Werte nur in aller Verletzlichkeit zu bekennen. ‚Christus allein‘ zielt gerade auf dieses Bekennen und muss darum ohne wenn und aber das Potenzial des menschlichen Lebens und die Würde der Humanität implizit und dann auch explizit bejahen, begrüßen und als Perspektive immer vor Augen haben. Denn dem Zeugen ist diese Perspektive, ‚mit Christo in Gott verborgen‘ (Kolosser 3, 3), gewährt, für ihn ist sie auch bewahrt als Hoffnung für die ganze Menschheit.
Viertens: Dass inmitten der Götter nur dem Gott Israels, nur Christo allein die Autorität zukommt, bedeutet nicht, dass nur Ihm faktische Macht zugeschrieben werden kann. Nein, es gibt viele Götter und viele Herren im Himmel oder auf Erden (1. Korinther. 8, 5), und es ist, gerade im Kontext der Neubelebung des Heidentums, wichtig mit der Existenz dieser Götter und Herren zu rechnen. Es gibt aber neben diesen Gegenmächten auch viele Ideale, viele Träume, die in Gott geträumt sein könnten, ohne dass wir wissen wie und wozu. Das solus Christus impliziert keineswegs die Behauptung seiner Alleinwirksamkeit. Es ist umgekehrt: Gerade dieses Bekenntnis impliziert die menschliche Freiheit, auf Ihn zu reagieren, ja oder nein zu Ihm zu sagen, anderen Mächte und Idealen gegen Ihn oder neben Ihm oder vielleicht auch mit Ihm anzuhängen. Die göttliche Geduld und die Wehrlosigkeit des von Gott geliebten Menschen haben diese Freiheit zur Voraussetzung. Zu Christus und zu der in seiner Divinität einbegriffenen Humanität kann man sich ‚nur‘ bekennen. Aber das soll man dann auch tun.
[1] Die drei Vorträge sind unter dem Titel Salve Rex veröffentlicht worden (‚s Gravenhage 1941). Mit demselben Titel nahm Miskotte sein Vortrag in den Sammelband Kennis en bevinding (Haarlem 1969, 49-65) auf. In 2015 wird der Text im Band 14 von Miskottes Verzameld Werk erscheinen.