‘Barths Römerbrief – damals und heute. Einleitung zur 33. Barth-Tagung De Glind 2015‘, ZDTh 2016/1, 8-13.

Einleitung

Es ist mir eine Freude Sie zur 33. Barth-Tagung in den Niederlanden herzlich begrüßen zu dürfen. Das Thema lautet diesmal: ‚Barths Römerbrief – damals und heute‘.

1.

Zuerst lese ich aus dem Römerbrief (des Paulus!) Kapitel 3, die Verse 21-28, in der deutschen Übersetzung des lateinischen Textes in der neueren Ausgabe von Calvins Römerbriefkommentar (CSA Band 5.1, Neukirchener Verlag 2005, 185-211): ‘Jetzt aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, bestätigt durch das Zeugnis von Gesetz und Propheten. Ich rede von der Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus zu allen und über alle kommt, die glauben. Es ist wahrhaftig kein Unterschied. Denn alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes vor Gott, und werden ohne Verdienst gerecht gesprochen aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist: Ihn hat Gott durch den Glauben hingestellt als Sühnopfer in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, weil er die Sünden vergangener Zeiten in göttlicher Langmut vergeben hat, um nun in diesen Zeiten seine Gerechtigkeit zu erweisen: damit er selbst gerecht sei und den gerecht spreche, der aus dem Glauben an Jesus ist. Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das der Werke? Nein!, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird ohne Werke des Gesetzes.’

Für die Reformatoren ist diese Stelle deshalb so wichtig, weil sich an ihr der Kampf mit der alten Kirche am schärfsten erläutern lässt – nicht von ungefähr polemisiert Calvin gerade an Hand dieser Stelle in den späteren Editionen seines Kommentars häufig mit dem tridentinischen Dekret über die Rechtfertigung. Es handelt sich darum, dass der Sünder nicht auch durch gute Werke, sondern – auch wenn die particula exclusiva nicht wörtlich im Text zu finden sind – allein durch vollkommenen Gehorsam Christi gegen das Gesetz und durch seine Fürbitte, und damit allein durch das mit dem Glauben verbundene Wort als instrumentum gerechtfertigt wird, dass uns also keine uns eigene Qualität, kein habitus helfen kann. Zu Recht verweist Calvin in seinem Kommentar zu dieser Stelle mehrmals auf die gleichzeitig verfasste Institutio. Denn diese Stelle, man könnte auch sagen dieses compendium doctrinae des Apostels, zeigt zugleich die Anordnung des Briefes als auch die Struktur der kirchlichen Verkündigung. Zuerst ist von der Sünde, so wie sie durch das Gesetz offenbart ist, die Rede – Röm. 1, 18 – 3, 20: de peccato -, dann folgt die zentrale Predigt von der Rechtfertigung des Gottlosen – Röm. 3, 21 – 5, 11: de iustificatione -, und schließlich das dritte Moment in der Heilsordnung, worin von der Rechtfertigung her die Heiligung, wenn auch nachträglich, ihren Ort zugewiesen bekommt – Röm. 6, 1 – 8, 39: de sanctificatione. Diese Ordnung wurde schon bald historisierend verstanden (als historica series). Hauptziel der apostolischen Ausführung war, so las man, der Abschied von der Werkgerechtigkeit. Man bekämpfte zwar den Spätnominalismus in der eigenen Zeit, aber projizierte diesen Nominalismus zurück auf die jüdischen Gegner von Paulus. Mein Doktorvater Nico Bakker hat in seiner Dissertation (In der Krisis der Offenbarung. Karl Barths Hermeneutik, dargestellt an seiner Römerbrief-Auslegung, Neukirchen 1964, 141-144) gezeigt, dass Barth in seinem zweiten Römerbrief, in der Auslegung des siebenten Kapitels, indem er nomos nicht mit Thora, sondern mit … Religion übersetzt, faktisch nur die anti-heidnische Spitze gelten lässt. ‚Die Enthüllung des Zornes Gottes vom Himmel her wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen‘ (Röm. 1, 18) durchschneidet senkrecht von oben die ganze Humanität und ermangelt jeden Aspekts von history und von story (‚Jetzt ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart‘, das heißt: ‚wir stehen vor einer umfassenden und unwiderstehlichen Aufhebung der Welt der Zeit‘, Barth 1922, zu Röm. 3, 21). Hiermit ist Barth in seiner Auslegung des Kerygmas ‚den Griechen zu sehr ein Grieche und den Juden zu wenig ein Jude geworden‘ (Bakker, a.a.O. S. 137).

Inzwischen weiß jede(r) Student(in), dass die reformatorische Lesung des Paulus sich nicht mehr ohne weiteres halten lässt. Als Anfang eines neuen Ansatzes wird immer wieder das Buch Paul and Palestine Judaism von E. P. Sanders (1977) genannt – wenn auch der erste Teil des Buches, über den ‚convenental nomism‘ im damaligen Judentum, besser gelungen ist als der zweite Teil, der Versuch einer Erklärung der Haltung des Paulus. Fünf Jahre später hat dann James Dunn ‚the new perspective on Paul‘ ausgerufen, von der noch immer die Rede ist. Der niederländische Pfarrer Kleijs Kroon aber hat schon 1976 in der Wochenzeitung Hervormd Nederland eine Artikelreihe publiziert, in der er unverkennbar dieser neuen Perspektive vorgegriffen hat (Blijvend Verzet, 1982, 73-82). Kroon (a.a.O. S. 78) findet den Schlüssel zum Römerbrief im 15. Kapitel, Vers 7, wo Paulus sowohl die Juden wie die Griechen anredet: ‚Darum, nehmt euch untereinander auf, wie auch der Messias uns aufgenommen hat zur Ehre Gottes‘. Dieser Vers wird dann näher erklärt in den folgenden Versen (8-9): ‚Denn ich meine: Messias ist ein Diener der Beschnittenen geworden um der Wahrheit Gottes willen, damit die den Vätern gegebenen Verheißungen verwirklicht wurden. Die Völker aber preisen Gott um des Erbarmens willen‘, und zur Bestätigung dieser überraschenden Wirklichkeit folgen Zitate aus der Thora (Deuteronomium 32 LXX), aus den Psalmen (Ps. 18, Ps. 117) und aus den Propheten (Jes. 11), also aus allen Teilen des Tenachs. Nachdem, so die Auslegung Kroons, der Apostel in den ersten acht Kapiteln seines Briefes bei den Juden für die ganze, seufzende (Röm. 8, 22) Völkerwelt (ktisis) eingetreten ist und dann, umgekehrt, in den Kapiteln 9-11, bei den Griechen für die Juden, kommt beides zusammen im ethischen Schluss, in den Kapiteln 12-15 (16): ‚nehmt euch untereinander auf‘.  Mit dieser Erklärung ist es möglich sowohl die reformatorische Einseitigkeit mit ihrem Antijudaismus, als auch die Barthsche Einseitigkeit im zweiten Römerbrief mit seiner antiheidnischen Zuspitzung, zu überwinden – sowie die Einschränkungen einer historisierenden (der reformatorischen) und einer unhistorischen (der von Barth im zweiten Römerbrief) Lektüre des Briefes. Übrigens bewegte sich Barth in seinem sogenannten dritten Römerbrief (die Kurze Erklärung, 1941/1956) in die Richtung dieser Erklärung. Deren Analyse sei aber einer späteren Barth-Tagung vorbehalten.

2.

Es gibt zwei spezielle Gründe – gute Gründe! – um uns auf dieser niederländischen Barth-Tagung mit dem zweiten Römerbrief zu beschäftigen. Der erste ist, dass in 2008 eine niederländische Übersetzung erschienen ist, und, dass wir diesem Ereignis, denn so darf man diese Übersetzung wohl nennen, zu unserer Schande bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Mag sein, dass Kees van der Kooi, der zusammen mit Katja Tolstaja und mit dem vor einigen Jahren verstorbenen Arie Spijkerboer den Text herausgegeben hat, zu bescheiden war, um diese Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen – obwohl Kees doch Mitglied des Vorbereitungskomitees ist. Eine Rechtfertigung unseres Verhaltens kann das aber nicht sein.

Die niederländische Übersetzung hat gegenüber dem deutschen Römerbrief eine eigene Bedeutung. Erstens enthält diese Übersetzung eine Menge Information, die kurz danach auch in der deutschen Ausgabe des zweiten Römerbriefes in der Karl Barth Gesamtausgabe verarbeitet worden ist. Dank dieser Arbeit ist es jetzt möglich den Produktionsablauf des Barthschen Textes zwischen dem Besuch Gogartens am Safenwiler Pfarrhaus Ende Oktober 1920 und dem Umzug nach Göttingen ein Jahr später genau zu verfolgen. Die – gezielte oder auch zufällige – Lektüre Barths während dieser Zeit kann rekonstruiert, der Austausch mit seinem Freund Eduard Thurneysen (die demnächst auch gesondert erscheinen wird) verarbeitet und manche Diskussion präziser nachgegangen werden. Es ist jetzt möglich mehr über die Gesprächspartnern zu sagen, die im Prozess des Umdenkens nach dem ersten Römerbrief 1918 eine Rolle spielten. Zum Teil werden diese schon von Barth in seinem Vorwort genannt – Overbeck (und mit ihm auch Nietzsche), durch die Vermittlung des Bruders Heinrich Barth Plato und Kant, Kierkegaard und mit Hilfe von Thurneysen Dostojewski. Jetzt aber bekommen wir Kenntnis von denen, die im Text nicht genannt werden. So wissen wir nun, dass die Auslegung der ersten Verse des 12. Kapitels, die nachher in einer Arbeitsgruppe auch gelesen werden können, von einer Debatte mit dem Sächsischen religiösen Sozialisten Alfred Dedo Müller geradezu dominiert werden (Herausgabe 2010, XXf., 571-591). Wir haben prof. Christophe Chalamet, Professor der systematischen Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Genf und profunder Kenner der Theologiegeschichte des späteren neunzehnten und früheren zwanzigsten Jahrhunderts, bereitgefunden uns in die historischen Hintergründe einzuführen. Es gibt dazu auch eine Arbeitsgruppe, in der der Vortrag Barths zur biblischen Hermeneutik auf der Aarauer Studentenkonferenz 1920 (es kam dort zu einer ergreifenden Wiederbegegnung mit seinem Lehrer Adolf von Harnack) gelesen wird. Der Vortrag ist erhellend sowohl für den Kontext als den biblischen Ansatz des zweiten Römerbriefs.

Zweitens ist die niederländische Übersetzung bedeutsam gerade als Übersetzung – von der Hand des im Übersetzen von Werken deutscher klassischen Philosophen sehr erfahrenen Mark Wildschut. Dass die heutige Generation (nicht nur der Theologen) in den Niederlanden die deutsche Sprache nicht mehr lesen, geschweige verstehen kann, ist bedauerlich – erfreulicherweise inzwischen auch Gegenstand politisch-kultureller Debatten. Aber die Tatsache, dass wichtige Texte aus der Geistesgeschichte nun auch durch Übersetzungen eine eigene Geschichte in der niederländischen Sprache beginnen können, ermöglicht und eröffnet zugleich eine neue Phase der Rezeption. Und diese Chance wollen wir nicht verpassen. Zur Rezeption des ‚niederländischen‘ Römerbriefes gehört sicherlich ins besondere die Rezension des Professors der Philosophie und der Literatur Ger Groot in der liberalen Tageszeitung NRC Handelsblad vom 18. Juli 2008. Ein Buch, schreibt er, ‚ebenso skandalös wie unentbehrlich‘, ein Buch, dass ‚den irreligiösen Menschen von heute für unlösbare Probleme stellt‘. Wir sind sehr verehrt, dass Professor Groot unsere Einladung angenommen hat, seine Provokation in unserem Kreis zu wiederholen und näher zu erklären.

3.

Der zweite Grund, dass wir uns mit dem zweiten Römerbrief beschäftigen, ist das auffallende Interesse am Apostel Paulus unter Philosophen der Gegenwart. Angefangen hat es vielleicht mit der postum veröffentlichten Studie des Rabbinersohnes Jakob Taubes, Die politische Theologie des Paulus (1993). Dann folgte Alain Badiou mit seinem Saint Paul. La fondation de l’universalisme (1997), kritisiert von Giorgio Agamben, Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani (2000), dessen Buch wiederum kritisiert wurde von Slavoj Žižek in The Puppet and the Dwarf (2003) usw. Unsere Frage ist, was diese Neuentdeckung des Paulus durch Philosophen für die Theologie bedeuten kann. Wir wissen, dass Paulus innerhalb der Kirche immer wieder Anlass war für eine radikale Neubesinnung – Augustin, Luther, Kohlbrugge, Barth. Könnte er der Kirche aber auch quasi von außen zurückgeschenkt werden? Und wie soll sie ihn empfangen? Wir haben Gert-Jan van der Heiden, Professor für Metaphysik an der Radboud Universität Nimwegen (und Mathematiker) gefragt uns in diesem Feld den Weg zu weisen. Er ist tätig in einem interdisziplinären Forschungsprojekt, das die Beziehungen untersucht zwischen Paulus und der Paulusrezeption einerseits und der antiken und vor allem gegenwärtigen Philosophie andererseits. Dazu gibt es eine Arbeitsgruppe, die sich beschäftigen wird mit einem Kapitel des genannten Buches von Agamben, worin er sich so pointiert äußert zum Paulus‘ Römerbrief. Für die Frage, wie ‚Pauls Dialectic‘ in ‚Present-Day Theology‘ verarbeitet werden könnte und was die kritische Theologie in Barths zweiten Römerbrief für die aktuelle theologische Arbeit bedeuten kann, hoffen wir auf die sachverständige Hilfe unseres langjährigen Freundes, Michael Weinrich, Professor für Ökumenik und Dogmatik in Bochum.

So wünschen wir einander eine fruchtbare Tagung, nicht ohne das Gebet, dass, wie für Paulus die Schriften Israels (Thora, Propheten und Psalmen) gültig blieben, für uns auch Paulus selber und seine Nachfolger im apostolischen Dienst (Barth) gültig bleiben mögen: ‚Was einst geschrieben wurde, das ist zu unsrer Belehrung geschrieben, damit wir durch die Beharrlichkeit und durch den Trost, die den Schriften innewohnen, Hoffnung bekämen. Der Gott der Beharrlichkeit und des Trostes gebe es euch aber, eines Sinnes zu sein, im Blick auf den Christus Jesus, damit ihr einmütig aus einem Munde preiset den Gott und Vater unsres Herrn Jesus Christus’ (Röm. 15:4-6, Übers. K. Barth 1922).

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R.H. Reeling Brouwer

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