Auslegung das Buch “Er Rief” 16,1-2.29-34

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Rinse Reeling Brouwer, Amsterdam

Internationales Symposium « Biblische Radikalitäten. » Zur Aktualität der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts, Bonn; Sonntag 13. Juli 2008

MORGENGEBET: AUSLEGUNG (Das Buch ‘ER Rief’ 16: 1-2; 29-34)

Liebe Freundinnen und Freunde,

Am Sabbat Hagadol in diesem Jahr, am 18./19. April 2008 in der christlichen Zählung der Monate und der Jahre, gab es in der Synagoge ein merkwürdiges Zusammentreffen der Gegebenheiten. Einerseits war es, wie gesagt, Sabbat Hagadol, der letzte große Sabbat am Vorabend des Pesachfestes, und zugleich traf es sich, dass der Wochenabschnitt im Kreislauf, der jährlich einmal die ganze Thora durchläuft, gerade die paraschat ha Schavua oder die Seider Acharee Mot – ‘nach dem Tode (nämlich der zwei Söhne Aharons)’ – war, der nach der Angabe der Lutherbibel im 3. Mose 16, 1 anfängt. Diese Lesung wird aber auch am anderen Höhepunkt im Jahr, am Jom Kippur, dem Versöhnungstag gehört (obwohl dann auf eine andere Melodie gesungen), sodass der eine Brennpunkt der Ellipse ausnahmsweise gleichsam mit dem anderen Brennpunkt zusammenzufallen scheint. Diese Sachlage hat damit zu tun, dass der Kreislauf der Lesungen in einem Jahr, nach der Tradition der babylonischen Synagoge, dem Ort der Feste in der Thora selbst eigentlich keine Rechnung tragen kann – ein Grund, weshalb bestimmte Historiker die synagogale Liturgie des palästinensischen dreijährigen Zyklus für authentischer halten. Aber vieles ist da unsicher und auch umstritten.

Mir fiel das Zusammentreffen der Elemente aus den beiden Festen auf, weil solches den christlichen Überlieferungen nicht unbekannt ist. Rühren nicht die Palmenzweige, mit denen nach dem Evangelisten Johannes ‘viel Volks’ Jesus bei seinem Aufgehen und Hingehen nach Jerusalem entgegenkommt (Joh. 12, 13), von der Thora des Hüttenfestes, das doch der Vollendung der Ernte im Herbst zugehört, her (3. Mose 23, 40)? Und hat namentlich der Autor des Briefes ‘An die Hebräer’ nicht immer wieder unterstrichen, wie der jährliche Akt des Hohenpriesters am Versöhnungstag durch das ewige Opfer ‘unseres’ Hohenpriesters Jesu aufgehoben worden ist: ‘nun, am Ende der Welt, ist er einmal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben’ (Hebr. 9, 26)? Das jährliche Gedenken dieses Opfers findet in der christlichen Liturgie bekanntlich am Karfreitag statt, also im Zyklus der Ostertage. Und obwohl es in den alten lectionaria um den Quatemper des Herbstes herum zwar Reminiszenzen an den ‘gewaltigen Tagen’ der Synagoge in derselben Jahreszeit gibt, ist die vorherrschende Tendenz doch gewesen: das hohepriesterliche Gebet um Versöhnung wurde als am Golgotha erfüllt gesehen, in jedem Gottesdienst am Sonntag als Gedächtnis der Ostertage wurde vom Einzelnen an dieses Gebet erinnert und der schon früh im Judentum anwesende Brennpunkt der Feste im Herbst verkümmerte.

Nebenbei bemerke ich, dass diese Entwicklung dem christlichen Verständnis des Osterfestes nicht gut getan hat. Auf diese Weise hat es doch eine doppelte Herkunft: Pesach, also Fest der Befreiung, und Jom haKippurim, also Tag der Versöhnung. Aber wie kann man eigentlich beide zugleich richtig feiern, erfahren, erwägen? Musste es nicht zu großen Spannungen und Polarisierungen in der christlichen Gemeinde kommen, in der das Verhältnis von Versöhnung und Befreiung immer wieder umstritten, und es der innerlichen Aufhellung nicht dienlich ist, beide auch noch gleichzeitig verkündigen zu müssen?

Für heute unterstreiche ich eine andere Sorge. Franz Rosenzweig hat in seinem phänomenologischen Vergleich der jüdischen und der christlichen Feste, wo immer wieder den Festen des jüdischen Kalenders solche der christlichen entsprachen, am Ende gefragt: ‘was für eigene Art von Festen entspräche also den gewaltigen Tagen?’ Und er hat selber die Antwort gegeben: ‘keine. Zu diesen Festen unsres Kalenders fehlt dem Kirchenjahr die Entsprechung’.  Also: ‘ein eigenes Fest der Erlösung fehlt’. Wir, die hier zum Durchdenken der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardt zusammen sind, spitzen unsere Ohren. Hat Marquardt sich nicht immer wieder einer Theologie des Perfekts, der schon geschehenen Erfüllung, wie im lutherischen ‘est’, widersetzt? Enthält seine Dogmatik nicht gerade deshalb ein Übergewicht der eschatologischen Teile, weil die Frage der Erlösung ihm immer gegenwärtig war und er sich mit einer Christenheit, die nicht mehr gewöhnt war sich diese Frage zu stellen, einfach nicht mehr abfinden konnte? Wir stoßen hier, kann man sagen, auf die liturgische Seite dieses ‘sich nicht mehr abfinden können’. Was besagt es, dass die Ekklesia offenbar schon früh ihr Gespür für die ‘Feste der Erlösung’ verloren hat?

Hören wir erst noch zur Explikation, was Rosenzweig mit seiner Charakterisierung des Tages der Versöhnung als Fest der Erlösung meint. ‘Die gewaltigen Tage’, sagt er, ‘stellen die ewige Erlösung mitten in die Zeit. Das Gericht, das sonst in die Endzeit gelegt wird, hier wird es unmittelbar in den gegenwärtigen Augenblick gesetzt. Nicht die Welt deshalb kann es sein, die gerichtet wird, – wo wäre sie denn schon in dieser Gegenwart? Sondern das Gericht richtet über den Einzelnen. Jedem Einzelnen wird nach seinem Tun sein Schicksal bestimmt.’ (…) ‘Der Beter kleidet sich in diesen Tagen in sein Sterbekleid’ (das hier nicht als Hochzeitskleid erscheint). ‘Und wie in diesem der Mensch einst, wenn man es ihm anziehen wird, allein ist, so ist ers auch im Gebet dieser Tage. Auch sie stellen ihn in nackter Einsamkeit unmittelbar vor Gottes Thron. So wie Gott ihn einst richten wird, ihn allein nach seinen eigenen Taten und nach den Gedanken seines eigenen Herzens, und wird ihn nicht fragen nach den andern, die ihn umgaben, und was wohl deren Schuld und Verdienst an ihm sei, sondern er allein wird gerichtet: so tritt er hier in vollkommener Einsamkeit, ein Gestorbener mitten im Leben, und Glied einer versammelten Menschheit, die sich alle wie er selbst mitten im Leben schon jenseits des Grabes gestellt haben, vor das Auge des Richters.’ Auch Friedel Marquardt hat darüber geschrieben, in seinem schönen Paragraphen ‘Die Halacha, sich in das Sterben zu schicken’ (Esch. 2): ‘Lesen wir im Gebetbuch des jüdischen Volkes, im Siddur, werden wir erst und nur im Herzstück des Gottesdienstes am Versöhnungstag auf ein betendes Ich stoßen, wo Israel sich als Volk von Sündern vor Gott stellt und sich ihm des Todes schuldig bekennt.’ ‘Von dort, dem Jom Kippur, her aber drängt sich das Beten und Sich-Bekennen in die Sterbestunde’ – ich würde sagen: wie das christlich gesprochen immer von Ostern und ins besondere von der Taufe her der Fall sein wird.

Und nun fällt von diesem späteren jüdisch-liturgischen Kontext her auf, wie sehr auch schon der Text der Thora diese Atmosphäre von Sterben und Gericht atmet. Wie gesagt: ‘Acharee Mot’, lautet der Name der Lesung, ‘nach dem Tode der zwei Söhne Aharons, als beim Nahen vor Sein Anlitz sie starben…’ also nach dem Gericht über die Priestersöhne, die ‘ungehöriges Feuer, das er ihnen nicht geboten hatte’ aufgelegt hatten (3. Mose 10,1). Von vornherein ist es klar, welch eine ungeheure kritische Angelegenheit das Erscheinen vor dem Gericht eigentlich ist. Kann es wohl geschehen? Kann ein Mensch es überhaupt wagen? Wenn wir näher zusehen erfahren wir, dass es dem Priester-Vater Aharon eigentlich gar nicht geboten wird, sich vor den Thron zu stellen: ‘ER sprach zu Mosche: / Rede zu Aharon deinem Bruder, / daß er nimmer zu aller Zeit eingehe ins Heilige / innseit des Verhangs / vors Anlitz des Verdecks, das über dem Schrein ist, / daß er nicht sterbe / – denn in der Wolke lasse ich mich sehen über dem Verdeck’ (und wer kann IHN sehen und … leben?). ‘Dass er nimmer zu aller Zeit eingehe’: es ist eher ein Verbot als ein Gebot! Der Ausdruck ‘allezeit’ hören wir mehrmals in der hebräischen Bibel: ‘Ich will den Herrn segnen allezeit’ (Psalm 34, 2); oder ‘erschaue du aus allem Volk Männer von Tucht…., richten sollen sie das Volk zu aller Zeit’ (2. Mose 18, 21-22). Aber’ nicht zu aller Zeit’, das hören wir nur hier. Was ist damit gesagt? Doch nicht: ‘dann oder dann’. Aber auch nicht: ‘niemals’. Eher: ‘es gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder Stunde’ (Apostelgesch. 1, 7), und: ‘sehet zu, dass euch nicht jemand verführe’ (Matthäus 24, 4). ER lässt sich sehen über dem Verdeck, ‘ubi et quando visum est Deo’ (CA 5). ER ist der Herr der Zeit. Kein Mensch herrsche über dem ubi oder dem quando. ER lasse sich sehen, so ER will und ER lebt, würde Marquardt sagen.

Wenn wir so lesen, ist es fraglich (wie Ben Hemelsoet schon 1976 gezeigt hat), ob wir das hapax Hebräer 9, 26 etc. wohl als strittig mit dem dritten Buch Mose verstehen dürfen. Dass er ‘nimmer zu aller Zeit eingehe’ ist dem Hohepriester von Mose geboten. ‘Am Ende der Welt ist er einmal erschienen’, sagt der Apostel. Das ‘nicht zu aller Zeit’ kann das ‘Einmalige’ enthalten, es schließt es jedenfalls nicht aus. Wir müssen dann sagen: diesmal, beim Opfer Jesu, hat ER gewollt, hat ER sich sehen lassen. Gut. Aber wie steht es dann mit der Bestimmung ‘einmal im Jahr’: ist diese dann nicht von Mose geboten (3. Mose 16, 34)? Und ist diese dann nicht nach dem Hebräerbrief in der messianischen Zeit des Hohenpriesters Jesu aufgehoben worden? Hier würde ich sagen: beachte, wie im ganzen Kapitel 3. Mose 16 erst im 29. Vers von einer Chukat-olam, einer ‘Weltzeit-Satzung’ die Rede ist – und dann aufs neue in Vs. 34 als inclusio der Perikope Vss. 29-34 und dazu Vs. 31 in der Mitte dieser Perikope. Ein liturgischer Hinweis schließt gleichsam das ganze Kapitel ab. Wo das ‘nimmer zu aller Zeit’ als solches eigentlich nicht repräsentierbar ist, wird dem Volk nun doch eine rituelle Repräsentation angeboten. Und so verstehen wir die spätere Entwicklung zum Versöhnungstag der Synagoge: ‘das Gericht, das sonst in die Endzeit gelegt wird, hier wird es unmittelbar in den gegenwärtigen Augenblick gesetzt’ (Rosenzweig, s.o.). Aber auch hier kann man fragen: wie verhält sich dieses Ritual dann zum Hebräerbrief, wo es heißt: ‘nun, am Ende der Welt, ist er einmal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben’? Dieser Satz schließt dann zwar, wie wir sagten, nicht das ‘nimmer zu aller Zeit’ von Vers 2 aus, aber müssen wir dann nicht sagen: doch sehr wohl das ‘einmal im Jahr’ von Vers 34? Ein Moment. Die Stelle im Hebräerbrief geht weiter: ‘wie den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht:’ – hören Sie, auch hier dieselbe Semantik: Opfer / Sterben / Gericht – ‘also ist Christus einmal geopfert, wegzunehmen vieler Sünden; zum andernmal wird er ohne Sünde erscheinen denen, die auf ihn warten, zur Seligkeit’ (Hebr. 9, 27-28; Luther-Übersetzung). Auch das Einmalige dieser Erscheinung und dieses Opfers, schließt nicht aus, dass noch eine weitere Erscheinung und ein weiteres Gericht ausstehen. Das Eschatologische ist also von Golgotha nicht überflüssig gemacht worden. Auch das Geschehen am Karfreitag war so etwas wie ‘das Gericht unmittelbar in den gegenwärtigen Augenblick gesetzt’, ohne das damit die Welt schon gerichtet und erlöst sein sollte.

Fazit: trotz des Verschwindens des zweiten Tempels hat das Judentum der Synagoge die ‘Satzung’ aus den Versen 29-34 in den ergreifenden Ritualen der ‘gewaltigen Tagen’ weiter bewahren können, ‘einmal im Jahr’. Die Ekklesia hat das ‘nimmer zu aller Zeit’ in der einmaligen Geschichte des Opfers Jesu Christi bewahrt gesehen, ‘einmal in der Geschichte’ könnte man auch sagen. In gewisser Hinsicht stehen diese beide Gestaltungen auf einer vergleichbaren Ebene – nur, dass sich ein Geschehen ‘einmal in der Geschichte’ nicht leicht ritualisieren lässt und dass sich deshalb auch der Unterschied zwischen Versöhnung und Erlösung nicht leicht in liturgischer Form aufzeigen lässt. Und damit können wir die Probleme, die es der Ekklesia bereitete, neben ihren Ostertagen einen zweiten Brennpunkt festzuhalten, von innen her besser verstehen. Dennoch, so würde ich sagen, ist es keine Naturgesetzlichkeit, dass sich in der Ekklesia keine Erlösungsfeste entwickeln könnten. Es wäre wohl nicht gut möglich und es wäre außerdem wenig respektvoll, die Formen der Synagoge nach so vielen Jahrhunderte der Trennung einfach zu kopieren. Also liegt die kreative Aufgabe in dieser Hinsicht noch vor uns. Ich kann mir denken, dass richtige Schüler von Friedel Marquardt bei der Erfüllung dieser Aufgabe so ihre eigene Rolle spielen werden.

Nachbemerkung

Die Abschnitte in dem Stern der Erlösung von Franz Rosenzweig, auf welche hier verwiesen wurde, befinden sich im im Dritter Teil, erstes Buch (‚Die Feste der Erlösung’) bzw. im Dritter Teil, zweites Buch (christliche ‘Erlösungsfeste’?); s. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Haag 41976, 359-364 bzw. 407-408.

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R.H. Reeling Brouwer

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