Karl Barths erste Begegnung mit der protestantischen ‘Orthodoxie’

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Zu: ‘Unterricht in der christlichen Religion. Die Lehre vom Gott / die Lehre vom Menschen (1924/1925), Zürich 1990

In seinem “Zum Geleit” bei der Neuausgabe Heinrich Heppes Kompendiums der klassischen reformierten Dogmatik in 1935 hat Karl Barth bezeugt, wie wichtig ihm, wenn er im Sommersemester 1924 zum erstenmal Vorlesungen über Dogmatik zu halten hätte, die Begegnung mit dieser “Orthodoxie” (oder, wie er gerne sagt: mit “den Alten”) gewesen sei. Bei seinen Lehrmeistern aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert konnte und wollte er nicht länger anknüpfen. Seine Römerbriefauslegung war wirklich als Auslegung der Bibel und nicht als systematisch-theologische Rechenschaftsablegung gemeint. Heppe und mit ihm das lutherische Parallelwerk von H. Schmid, haben ihm damals dann, laut diesem seinen späteren Zeugnis, den Weg zur richtigen, sachlich-kirchlichen Wissenschaft gewiesen.

Heute sind wir in der glücklichen Lage, diese Behauptung Barths über den Werdegang seiner dogmatischen Arbeit an den Quellen prüfen zu können. Denn im Rahmen der Karl-Barth-Gesamtausgabe werden jetzt auch seine ersten, Göttinger, Dogmatikvorlesungen (unter der – von ihm nicht freiwillig gewählten, sondern ironisch übernommenen – Bezeichnung als “Institutio”, “Unterricht”) veröffentlicht.

Der erste Band legte zwar an mancher Stelle, aber doch nicht auf der ganzen Linie, Zeugnis von der Begegnung mit der protestantischen “Orthodoxie” ab. Die Erscheinung ausführlicher “Prolegomena” in der Dogmatik war denn auch eher vom “Neuprotestantismus” evoziert, und der einführende Band der ersten Barthschen Dogmatik hatte den Charakter einer originellen Skizze, einer ursprünglichen Antwort auf diese durch den Neuprotestantismus geschaffene Lage. Aber so war es bei dem Stoff, den man im 19. Jahrhundert als “die materielle Dogmatik” anzudeuten gewohnt war, nicht. Und deshalb hören wir am Anfang der zweiten Vorlesungsreihe den lapidaren Satz an die |188| Studenten: “Zur Mitarbeit an meinen Vorlesungen verweise ich vor Allem auf die Quellenbücher von Heppe (Elberfeld) und Schmid.”

Tatsächlich sind diese beide die Führer im Wintersemester 1924/25. Die protestantische “Orthodoxie” wird mittels ihrer Wiedergabe dargestellt (von den primären Quellen redet seit dem 2. Dezember nur der cartesianische Coccejaner Fr. Burmann mit). Wenn wir richtig gezählt haben, ist Heppe 317 und Schmid 150 mal zitiert worden. Es war Karl Barth, mit seiner Römerbriefauslegung und mit seinem Prolegomenaentwurf, der diese zwei zu Führern gewählt hat. Aber es waren zugleich diese zwei, die ihm zu Führern geworden sind. Die Frage dieser Besprechung lautet: welche ist die chemische Verbindung, die hier zustande gekommen ist? Zu welcher Synthese hat diese Begegnung geführt? Und welche Widersprüche zeigt diese Synthese auf?

Barth hat seinen “Unterricht” “ein erstes Experiment, von allen möglichen Gefahren und Verdächten umgeben” genannt. Es könnte mit den Widersprüchen seines ersten synthetischen Versuchs zusammenhängen, daß er nachher noch zweimal von vorne mit einem ganzheitlichen dogmatischen Entwurf angefangen hat. Wir werden in diesem Beitrag den “Unterricht” nicht mit der Kirchlichen Dogmatik vergleichen. Eine solche Untersuchung wäre sicherlich ein fruchtbares Unternehmen. (In vielen seiner Sprüche in der KD scheint er im Lichte dieses früheren “Experiments” sich selbst zu widersprechen, viele Forschungsfragmente finden schon hier ihre Vorlage). Aber wir machen keinen Hehl daraus, daß die folgende Untersuchung nach den Widersprüchen im ersten Umgang Karl Barths mit der “orthodoxen” Tradition mit von der Erkenntnis der Art und Weise, auf welche er später gemeint hat, diese Tradition korrigieren zu müssen, beeinflußt worden ist.

Die Strukturierung des Bandes

Der Stoff des Bandes U.I. entspricht den Loci IV bis XV bei Heppe. Die Überschrift von Locus X wird sogar in Paragraph 21 im Lateinischen übernommen (“De angelis bonis et malis”). Locus VI (“De Trinitate”) ist vorher in U.P. erarbeitet worden, was schon eine bedeutende Entscheidung gewesen ist. Locus I, “De theologia naturali” wird umgekehrt statt in die Prolegomena in die Gotteslehre integriert. Die Stelle des Locus “De Providentia” hat sich im Vergleich mit Heppe geändert (nicht am Ende der Lehre vom Geschöpf, sondern daran vorangehend), entspricht aber der Anordnung Schmids. Der |189| Locus “De Decretis”, der im Aufbau des reformierten Systems eine Schlüsselstelle einnimmt, wird von Barth stillschweigend übergangen, was über Barths selektiven Umgang mit der Lektüre Heppes schon viel aussagt.

Es ist die Frage, ob Barth einfach die Loci-Methode übernimmt. Sein systematischer Geist hat offenbar mehr gewollt. Und so bietet er statt 12 selbständiger Loci zwei Kapitel mit je 6 Paragraphen (die, wie es uns vorkommt, einen heimlichen Parallelismus zueinander aufzeigen). Der jeweils vierte Paragraph betont die reformierte Zuspitzung: von der Gnadenwahl – vom Bunde. Die Titel der Kapitel stimmen mit der Einteilung Schmids überein, ja mehr, die Aufteilung der ganzen Dogmatik in sechs partes ist auf ähnliche Weise bei Schmid zu finden. Man hätte, von Barths Vorträgen “Der Christ in der Gesellschaft” (1919) und “Die Kirche und die Kultur” (1926) her, meinen können, die Dogmatik sei nach den drei Gesichtspunkten regnum naturae, regnum gratiae, regnum gloriae aufgebaut worden. Das ist aber überraschenderweise nicht unzweideutig der Fall. Vielmehr macht Barth eine doppelte Bewegung: 1. Gott und Mensch im allgemeinen, 2. Christus und der Geist im besonderen (und daneben eine Sonderstelle für die Eschatologie). 

Wir hören nicht, wie sich diese Struktur zu der Entscheidung in den Prolegomena, nl. die Offenbarung von der Trinität her zu denken, verhält. Jedenfalls sieht sie so aus:

SS 1924 WS 1924/25 SS 1925 WS 1925/26

Das Wort Gottes Von Gott Von der Versöhnung Eschatologie

Vom Menschen Vom Heil

Wie bei Schmid: 

Prolegomena

I. De deo

II. De homine

III. De principiis salutis 

IV. De mediis salutis

V. De novissimis

Diese sei nach Barth “die klassische Disposition, die … erst Schleiermacher fallen gelassen hat”. Barth ist also damals nicht der Meinung gewesen, daß diese Disposition korrekturbedürftig wäre. Das wird sich in der folgenden genaueren Analyse näher zeigen. |190|

Paragraph 15: Die Erkennbarkeit Gottes

Gleich am Anfang finden wir eine spannende Konfrontation. Was hat Barth bei seinen ersten systematischen Überlegungen von der klassisch- nachreformatorischen natürlichen Theologie gehalten?

Von seinem Neukantianisch-Marburger Hintergrund her hatte er mitbekommen, jener theologia naturalis mißtrauend zu begegnen. “Die Alten” lehrten sie aber und Barth wollte versuchen, einen guten Sinn darin zu entdecken. Seine Lösung ist: es handelt sich wirklich um Theologie, um richtige Offenbarung. In der Offenbarung, die eine Tat Gottes ist und die ein Geheimnis bleibt, kann man, sei es indirekt, dennoch adäquat den Gott, der sich offenbart, erkennen. Deshalb ist in dem Faktum des Redens Gottes unsere Möglichkeit, dieses Reden zu hören, mit einbegriffen. Aber auch diese Ermöglichung ist eine erstaunliche Tat Gottes, wie die Erweckung einer Leiche. Sie ist keine Gegebenheit, kein habitus, sie ist als facultas ein Geschenk. Insoweit es im Menschen eine Analogie zu dieser geschenkten Möglichkeit gibt, gibt es sie nur negativ: in der Kritik Kants oder in der Gottesfrage eines Jobs oder eines Iwan Karamasows. So ist in der Erkenntnis des Gekreuzigten die Erkenntnis des Schöpfers inbegriffen.

Auf diese Weise meint Barth den Intentionen der Alten recht zu tun. Er beobachtet bei ihnen zwar die gefährliche Tendenz in Richtung zweierlei Offenbarungen, aber versucht diesen durch schärferes, besseres Reden zuvorzukommen. Was er beim Lesen seiner Quellenbücher fast übergeht oder kaum ernst nimmt, sind die Signale, wie fest die doppelte Buchführung jedenfalls in der späteren Scholastik zum System gehört und wie sie zu einer Spaltung zwischen der cognitio naturalis als Erkenntnis der Gerechtigkeit Gottes, die eine natürlich-sittliche und von jedem Bürger zu beachtende Gerechtigkeit ist, und der cognitio revelata als Erkenntnis der Barmherzigkeit Gottes, von der erst viel später in ihrer Geltung für die Begnadeten Sünder gesprochen werden kann, führt.

Die Paragraphen 16 und 17: Das Wesen und die Eigenschaften Gottes 

Auch hier sieht Barths Haltung den alten Schultheologen gegenüber so aus: ihr Anliegen war richtig, “schärfere Formulierungen, schärfere Maßnahmen” sind aber notwendig. Die Front ist in diesem Zusammenhang gegen die Mystik gerichtet. Barth steht an sich auffallend offen für ihr Wollen, aber er tadelt ihren Einfluß auf die Dogmatik, wo sie das Suchen nach einem adäquaten Reden von Gott unterminiert. “Wir tragen diesen Ansatz alle irgendwo in uns” (64). Es hat aber in der Gotteslehre einerseits dazu geführt, daß |191| Gottes Wesen so unbestimmt wie möglich gelassen wurde, andererseits dazu, daß alles Prädikatisieren nur noch als mehr oder weniger willkürlicher Akt unseres Bewußtseins gedacht werden konnte. Für diese Lage hält Barth offenbar namentlich den Neuprotestantismus für verantwortlich, obwohl er feststellt, daß die altprotestantische Lehre hier merkwürdige Lücken aufzeigte, z.B. darin, daß sie das Moment der “Persönlichkeit Gottes” gar nicht in ihren Definitionen von Gott mit berücksichtigt hatte. Dennoch meint er sich mit seiner eigenen, wie er sagt “supra-nominalistischen”, Position bei ihr anschließen zu können. Die “schärfere Maßnahme” sieht so aus: statt des Gerhardschen Satzes “Deum quidem cognoscimus, sed non comprehendimus” sagt er, umgekehrt: “Gott gibt sich uns in seinem Wort zu erkennen, darum können wir ihn nicht begreifen.” Und deshalb ordnet er die Eigenschaften Gottes so an, daß er zuerst von denjenigen, in denen Gott sich uns zu erkennen gibt, und erst danach und von da aus von denjenigen, in denen Gottes Unbegreiflichkeit als Qualifikation seiner Erkennbarkeit zum Ausdruck kommt, redet. Damit ist schon, der Tradition gegenüber, etwas grundsätzlich Neues passiert. Barth will keinenfalls einen unberechenbaren deus absconditus hinter der Offenbarung.

Dennoch hat Ingrid Spieckermann nicht Unrecht, wenn sie behauptet, daß hier doch “die Erkennbarkeit Gottes nur als Hülle und Form der Unbegreiflichkeit” erscheint. Wir fragen:

1. Barth arbeitet noch stark mit dem Bild des Laotseschen Wagenrads: alle Eigenschaften weisen als Stange auf die von uns nicht zu füllende Mitte hin. Alle Qualifikationen werden erprobt bis zum Punkt, wo sie abbrechen an “einer scharfen Kurve” von Gott her. Gott ist zwar nicht nur die Negation unseres Prädikatisierens, aber dazu ist von seiner Gegenständlichkeit auch positiv etwas zu behaupten. Was ist dann aber zu behaupten? (zum Beispiel, sehr schön: Gottes Ewigkeit ist nicht nur Negation der Zeit sondern vor allem Herrschaft über die Zeit – 160. Frage: was kann man dann positiv über die Ewigkeit Gottes als ewige Begründung seines Verhältnisses zu uns in unserer Zeit sagen? Darüber hören wir 1924 nichts).

2. Für alle Eigenschaften gibt Barth Raum, es gibt keine Hierarchie, keine Ausschließung. Aber in wieweit wird diese Einsicht fruchtbar gemacht in dem Sinne, daß die Eigenschaften sodann auch in der Erzählung einer Geschichte Gottes mit den Menschen funktionieren können?

In der KD hat Barth “den Hauptstrom der theologischen Überlieferung” in dieser Frage als “semi-nominalistisch” gekennzeichnet. Wir fragen: |192| in wieweit war sein eigener “Supra-nominalismus” in U.I., trotz seiner “schärferen Maßnahmen”, doch diesem “Seminominalismus” verpflichtet?

Paragraph 18: die Gnadenwahl

In seinen Römerbrieferklärungen hatte Barth sich intensiv mit Röm. 9-11 beschäftigt. Von daher war er froh, zu entdecken, wie in der von ihm studierten reformierten Überlieferung die Prädestinationslehre als Zuspitzung der Gotteslehre auftauchte: wenn man von Gott redet, dann ist die spezifische Freiheit dieses Gottes, des Gottes der Offenbarung, durch sein spezifisches Verwerfen und Erwählen gekennzeichnet.

Wie schon in seiner exegetischen Arbeit erhebt Barth auch hier ernsten Einspruch gegen was er “Mythologie” und “einen säkulären Irrtum” in der Überlieferung nennt: die Vorstellung als seien “certos homines” erwählt, “certos homines” verworfen. Denn, so lautet seine Kritik, damit wird doch die Aufmerksamkeit von dem in seiner Freiheit barmherzigen Gott auf einen bestimmten Tatbestand auf Seiten des Menschen abgelenkt. Man muß aber für jeden Mensch sagen, daß er sich nicht darüber zu wundem braucht, wenn Gott ihm in seiner Unbegreiflichkeit immer verborgen bleibt, aber daß dennoch Gott sich entscheiden kann, ihm in seiner Gnade erkennbar zu sein, sodaß das Verworfensein eine Möglichkeit ist, die der Mensch vor Gott hinter sich, und das Erwähltsein eine Möglichkeit, die er vor sich hat.

Nun ist diese Bewegung von hinten nach vorne auch bei Heppe sehr klar anwesend. Barth hat aber ignoriert und bewußt oder unbewußt übergangen, wie stark in der “Orthodoxie” diese Richtung nach vorne mit dem getadelten Gedankengang des “certos-certos” zusammenhängt. Wie gesagt hat Barth den Locus “De Decretis” überschlagen. Dort geht es von den decretes in genere, die die ganze Schöpfung betreffen, zum decretum speciale, das nur die Erwählten betrifft. Es gibt eine Stelle in U.I., wo Barth dies ad bonam partem so deutet, als wäre hier das Allgemeine da um des Besonderen willen. Aber in Verbindung mit dem Doppelgleis des “certos-certos” endet die Lehre doch dahingehend, daß das allgemeine decretum die Vielen erhält in der Gerechtigkeit des Gesetzes Gottes, bis sie die Verurteilung erfahren zu der sie in dem ewigen Rat Gottes schon immer prädestiniert worden sind, während das spezielle decretum sich auf das survival of the fittest der durch die Barmherzigkeit der Liebe Gottes Begnadigten bezieht. Wir fragen also: kann man die “Fehler” des “certos-certos” so einfach aus der ganzen Richtung und Linie des orthodoxen Systems (vom Allgemeinen zum Besonderen) loslösen?

Im übrigen wiederholen sich in diesem Paragraphen einige Unklarheiten der Gotteslehre. Wenn so stark die Freiheit Gottes in seinem doppelten Beschluß zum Gericht und zum Erbarmen betont wird, wird dann nicht die |193| Neugier geweckt, wie der Inhalt dieses Gerichts und dieses Erbarmens aus- sieht? In welcher Gestalt, unter welchem Namen kann man dieses Gericht und dieses Erbarmen erkennen? In welcher Geschichte vollzieht sich diese doppelte Erwählung? Barth gibt zu, daß bei seiner aktualistischen Zuspitzung der Lehre die Frage der Gottesgewißheit geradezu “auf eines Berges Spitze gestellt wird”. Sie stellt uns vor ein Loch. Sie entbehrt einer Entspannung. Muß der Heilige Geist dieses Loch füllen?

Die Paragraphen 19 und 20: Die Schöpfung und die Vorsehung

Wenn überhaupt, dann bekommen wir wohl hier Barths großen Ärger über eine moderne Theologie, die eine “Weltanschauung” bieten will und dazu noch eine, die das Elend und das Unrecht rechtfertigt, zu hören. Wie kann man so einfach, so unerschüttert das Übel in die Zufriedenheit über das Bestehende integrieren, wie es hier passiert? Als wäre z.B. “das ganze Blut- und Greuelmeer des Weltkrieges” nur eine “Lebenshemmung”! Wenn schon eine Weltanschauung, dann bitte eine kritische, oder eine sekulär-illusionslose! Aber diese beiden Glaubensartikel sprechen nicht religiös von der Welt. Sie sprechen von Gott, von der Transzendenz bzw. von der Immanenz Gottes und nur von daher von der Welt als von seiner Welt.

Auch hier wiederum tritt Barth den alten Schulen vertrauensvoll entgegen. Er las theologisches in ihren Texten. Was weltanschaulich war, übersah er. Wie doch auch bei Heppe zu lesen ist, daß Gottes Weisheit, Güte und Macht aus u.a. dem Zustand des Kosmos, der Ordnung und der Harmonie des Geschaffenen, dem Rechtsgefühl, das im Gewissen spricht, bewiesen wird – wir hören es nicht, ebensowenig wie den Kernsatz (nicht nur der protestantischen Vorsehungslehre): “nascitur praedestinatio ex providentia”, der das besondere Erwählen Gottes also aus der allgemeinen Weltregierung ableitet. Im Gegenteil: als hätten “die Alten” es immer so gemeint, leitet Barth gerade hier das Allgemeine vom Besonderen ab: “Man hat sich den Concursus im Schema der strengen forensischen und ja nicht etwa im Schema der osiandrischen Rechtfertigungslehre zu denken”; “die Zweinaturenlehre ist der Prototyp der Concursus-Lehre und nicht umgekehrt”; “die allgemeine Im|194|manenz Gottes in der Welt ist eine Projektion, eine Konsequenz, eine Entfaltung und Anwendung dieser höchst besonderen Immanenz (nämlich in der Kirche als Stätte des Wunders und des Gebets) und nicht etwa umgekehrt.”

Also hat er – ja tatsächlich, in der Sprache der “klassischen Disposition” – Gott den Schöpfer von Gott dem Erlöser her denken wollen. Die Lehre von der Schöpfung und die Lehre von der Vorsehung reden von “wirklicher Offenbarung, wirklicher Anrede, wirklicher Gemeinschaft”, “sie setzen den heiligen Geist voraus, Gott in der dritten Person, der das Wunder der Menschwerdung und das andere Wunder des Glaubens und Gehorsams wirkt”. Genauere Auskunft über das Wirken der Trinität in diesem ersten der opera dei ad extra bekommen wir aber nicht. Es würde mich aber nicht wundern, wenn die folgende Formulierung aus dem kurz nach der Abschließung seiner “ersten” Dogmatik gehaltenen Vortrag “Die Kirche und die Kultur” seine Auffassung nicht nur in diesem Paragraph, sondern im ganzen Kapitel “Von Gott” aus U.I. wiedergibt: “Der Mensch ist nicht sein Eigen, sondern Gottes – so lautet der Rechtsanspruch des Schöpfers, den der Sündenfall wohl dem Menschen schlechthin verbergen, nicht aber in sich ungültig und unwirksam machen kann. Daß er vielmehr gilt und wirksam ist, das ist das Regiment Christi im regnum naturae, das Reich des Logos oberhalb des Gegensatzes von Sündenfall und Versöhnung, von dem wir an sich nichts wissen und sagen können, das aber eine unentbehrliche Voraussetzung seines Reiches unter den Sündern ist. In der Fleischwerdung des Wortes, in der Versöhnung durch Christus lebt diese Voraussetzung auf. In der theologia revelata ist die theologia naturalis, in der Wirklichkeit der göttlichen Gnade, ist die Wahrheit der göttlichen Schöpfung mit enthalten und ans Licht gebracht.” Das klingt nicht besonders “barthianisch”. Das ist offenbar wohl eine Lesefrucht der ersten Begegnung Barths mit den orthodoxen Vätern.

Paragraph 21: Der böse und gute Engel

Weil nicht nur die moderne Skepsis, sondern ebensosehr das berechtigte moderne Fragen auch ihm im Blut liegt, macht Barth sich viel Mühe, einen hermeneutischen und entmythologierenden Zugang zur in der Bibel vorausgesetzten Wirklichkeit der Engel zu suchen. (Und er findet diesen Zugang auch, nämlich in der Existenz von Abstraktionen und Mächten die ein platter Empirismus zwar leugnen, aber faktisch nur zu seinem großen Schaden leugnen kann). Barth will sich mit diesem Zugang “einfach einer Disziplin unterziehen”, wenn er sich in der Nachfolge der Alten “ernsthaft auf die Sache einläßt”. |195|

“Es handelt sich auch hier für die Theologie jedenfalls nicht um Metaphysik, sondern um die Darstellung eines dem irdischen entsprechenden himmlischen Geschehens.” (Deshalb zieht er diejenigen Formulierungen der Scholastik vor, wo die Engel als “Gott schlechterdings subordinierte, seinen Willen ausführende Wesen” definiert werden).

Aber was ist dieses himmlische Geschehen in der überlieferten Lehre? Die Koordinate “gute und böse Engel” deutet auf die himmlische Geschichte eines Engelfalls, der dem Fall des Menschen auf der Erde vorangeht. Also doch Metaphysik, nämlich eine “metaphysische Ouvertüre”. Diese allgemein-christliche Tradition hat noch eine reformierte Zuspitzung gefunden, wo die Engel als Wesen, an denen sich das aus der Prädestination folgende Urteil, das sich an uns Menschen noch vollziehen muß, schon vollzogen hat, gesehen werden. Diese Lehre übernimmt Barth. Er spricht von “Wesen …, die in abstrakter Entschiedenheit die beiden im Ratschluß Gottes und in der Freiheit des Menschen liegenden Möglichkeiten schon verwirklicht haben”. Das bedeutet aber, daß man hier von “certos angelos (electos)” – “certos angelos (damnatos)” reden sollte! Gerade dasjenige Reden, das Barth in der Erwählungslehre nicht gewollt hat, übernimmt er in der Angelologie! Und so führt er ein metaphysisches Beispiel an, das früher oder später in der Lehre von der Erwählung und Verwerfung des Menschen Folgen haben muß. Ob er auch die Konsequenzen der “Alten”, daß die Engel in und zu dem logos asarkos erwählt worden sind und daß die guten Engel aus der Gerechtigkeit der Werke leben, übernehmen will? Gerade hier scheint es uns mit Händen zu greifen, daß der Barthsche Anschluß an die Überlieferung zu Widersprüchen führt, die näherer Korrektur bedürfen.

Die Paragraphen 22 und 23: der Mensch als Gottes Geschöpf und als Gottes Ebenbild

In der klassischen “historica series” ging es in diesem Locus darum, die Art desjenigen Menschen, der zum Fallen fähig war, zu bestimmen. Formell handelte es sich dabei um den Menschen als Mikrokosmos (vinculum, quo coelestia terrenis conjunguntur), als unsterbliche Seele in einem sterblichen Leib. Materiell handelte es sich um den Menschen in seinem statu integritatis, in einer rechten Haltung, die auch wieder verloren gehen konnte.

Barth weicht in diesem Punkt kaum von der Tradition ab. Wir wußten schon, daß er – im Unterschied zu seinem Kollegen Stange – die Un|196|sterblichkeit der Seele nicht leugnen wollte. Das Dogma dient ihm dazu, den Mensch coram Deo, der in der Predigt angesprochen wird, für ein verantwortliches Wesen halten zu können. Die Seele ist zwar ein Geschöpf unter Gott, aber trotzdem unmittelbar zu Gott, und weiß deshalb auch post lapsum von ihrer Entfremdung. Diese Denkfigur, die schon so vielen Analytikern des zweiten Römerbriefes aufgefallen ist, wird hier in eine scholastische Sprache transponiert. Wir bemerken: dem semi-Nominalismus in der Gotteslehre entspricht ein semi-Platonismus (in den Heppe entnommenen Formulierungen oft auch ein semi-Cartesianismus) in der Anthropologie. Wie man a posteriori feststellen kann, daß (dank des logos asarkos) in der Schöpfung facultates und possibilitates zur Gotteserkenntnis im Geschehen der Offenbarung mitgegeben sind, so kann man ebenso a posterio den Menschen wiedererkennen als ein in der Verantwortung geschaffenes Wesen: die facultas aus Par. 15 gehört offenbar der anima immortalis sive substantia cogitans.

Der Herausgeber des U.I., H. Stoevesandt, notiert ausnahmsweise an der Stelle, wo Barth sich vom Materialismus und Idealismus abgrenzt, die entsprechenden Stellen in der KD. Er hätte, wenn er doch an die KD erinnern wollte, dann auch darauf hinweisen sollen, daß Barth die tatsächlich in der KD wie in U.I. stattfindende Grenzziehung, sowohl des monistischen Materialismus, wie des monistischen, spekulativen Idealismus oder Spiritualismus gegenüber durch eine Distanzierung “der abstrakt dualistischen Auffassung, die wir die griechische genannt haben, die aber leider auch die alt- kirchliche genannt werden muß” – wir fügen hinzu: “die leider vor 23 Jahren auch die meinige gewesen ist…” – vorangehen läßt.

Die Paragraphen 23 und 24: der Urzustand und der Urbund

Was Barth vom Geschöpf sagt, sagt er aposteriori. Er denkt von der Mitte zum Rande.

So auch, wenn es sich um den Menschen als Ebenbild Gottes handelt. Barth ist froh, bei Schmid zu lesen, daß “Christus, nur er, die imago Dei substantialis ist”. “Wir sagen in der ganzen Urstandslehre Jesus Christus, wenn wir Imago Dei sagen”, und von da aus erscheint nicht das Paradies, sondern was wir als Welt und Geschichte kennen als Mythos. “Wir treiben rückwärts gewandte christliche Eschatologie, wenn wir Dinge sagen, wie sie die Alten hier gesagt haben.” Zwar ist die ursprüngliche Haltung, die rechte |197| Haltung des Menschen, uns verloren gegangen. Aber obwohl sie uns unanschaulich (aufs neue ein Leitwort aus dem zweiten Römerbrief!) geworden ist, ist sie dennoch eine dem Menschen mögliche Haltung.

Dasselbe gilt, wenn wir hören wie Gott vom Ursprung her mit dem Menschen einen Bund geschlossen hat. Die Kennzeichnung des Menschen als gebundener, verbündeter Mensch ist für das Mensch-sein ebenso charakteristisch wie die Kennzeichnung Gottes als in seiner Barmherzigkeit und Gnade wählender Gott für das Gott-sein. Und wenn das der Fall ist, ist es unmöglich, erst post lapsum vom Bunde reden zu wollen. Auch hier soll theologisch von der Mitte zum Rande gedacht werden. Von der Gnade in Christus her soll gesagt werden, daß diese Gnade alle Menschen angeht, daß sie universal und grundlegend ist. Deshalb ist es gut, daß die reformierte Theologie (namentlich die Föderaltheologie) schon früh in der dogmatischen Ordnung vom Bunde redet. “Wenn (der Bund) als ‘foedus gratiae’ seine Anwendung erfährt auf die durch die Sünde geschaffene Lage, so umfaßt er doch immer die Lage des ganzen Menschen als solchen mit in sich” – immer wieder dieses für U.I. charakteristische “mit”!). “Ohne das foedus gratiae wäre über das foedus naturae kein Wort zu verlieren. Aber man darf deswegen nicht unterlassen, vom foedus gratiae aus rückwärts blickend, sich zu sagen, daß der ganze Mensch auch abgesehen von der Sünde in derselben Weise von Gott in Anspruch genommen, Gottes bedürftig, Gott verpflichtet ist.” “Durchaus Offenbarung, Volloffenbarung ist dabei gemeint.” “Es ist ja re vera nur ein Bund, wie auch nur ein Gott ist.”

Aber nun ist doch die Föderaltheologie, die Barth aus dem Studium von G. Schrenk schon kannte und von der er bei Heppe viele Spuren bemerkte, für ihn eine doppeldeutige Größe. Sie ist erstens historisierend, und zweitens stellt sie beim Reden vom Bunde im Paradies eine pelagianische Werkgerechtigkeit zur heimlichen Norm. Deshalb warnt er die Studenten. “Locus XIII mit Vorsicht zu genießen!” Bitte keine historisierende Heilsgeschichte! Wohl ein foedus naturae, aber bitte kein foedus operum! Barth will hier also der Tradition gegenüber sowohl “ja” wie “nein” sagen, aber er weiß |198| nicht genau, wie man sowohl das “ja” wie das “nein” recht sagen kann. Falls irgendwo, dann häufen sich wohl in diesem Paragraphen “Vom Bunde” die Widerspüche auf.

Die Paragraphen 25 und 26: die Sünde als Tat und als Natur

Diese Paragraphen entsprechen einerseits, innerhalb U.I., den Paragraphen 19 und 20 der Gotteslehre, und andererseits den Loci XIV (“De violatione foederis operum”) und XV (“De peccato”) bei Heppe.

Im Rahmen des Aufbaus der orthodoxen Lehre ist dieser Abschluß des Vorlesungssemesters nicht befremdend. Diese Loci sind ja die letzten, die die ganze Menschheit anbelangen. Von Locus XVI an wird bei Heppe von der Gemeinschaft des Erwählenden Gottes und des in Christo durch den Heiligen Geist begnadeten Sünders im Gnadenbund geredet. Die massa perditionis spielt von da an keine Rolle mehr. Die Erbsünde hat ihre Verwerfung und Verlorenheit (supralapsaristisch:) bestätigt oder (infralapsaristisch:) provoziert. Die Möglichkeit, Gerechtigkeit zu tun, ist verspielt. Es bleibt nur die Geschichte Gottes mit denen, deren er sich erbarmt. Aber diese Geschichte kann in einem anderen Buch gelesen werden.

Aber was muß nun Karl Barth tun, nachdem er jede Historisierung als Prinzip der dogmatischen Reihenfolge von sich geworfen hat? Wie in der reformierten Tradition redet er vom Bunde und von da aus von der Sünde. Jawohl, man muß von der Sünde reden im Offenbarungsverhältnis: Gott mit uns – aber dann, schrecklicherweise, auch: wir gegen Gott. “Es ist ja re vera ein Bund”, hörten wir. Aber wie kann dieser Ausgangspunkt durchgehalten werden? Hören wir weiter:

1. “In der Anthropologie als Lehre vom Menschen, abgesehen von Christus und der durch ihn vollzogenen Erlösung, haben wir uns an die Offenbarung als Schuldigsprechung zu halten”; 2. “Condemnabilitas und condemnatio fallen zusammen – abgesehen von dem tatsächlichen Fortgang der Offenbarung als Gnadenoffenbarung, von der aber in der Lehre vom Menschen sinnvollerweise nicht die Rede sein kann”; 3. “Von der Gnade wird man erst dann echt und nachdrücklich reden können, nachdem man echt und nachdrücklich von der Sünde geredet hat”; 4. “Was sie (die Wirklichkeit) im Lichte der Erlösung ist, das muß gelernt werden an dem, was sie im Licht des Abfalls ist”. |199|

Also hat Barth in dieser Hinsicht die “klassische Disposition” einfach übernommen. Dies ist keine Widersprüchlichkeit mehr. Dies ist Kapitulation. Barths Bemerkung: “ich kam im Lauf des Semesters fast nicht mehr nach und schöpfte zuletzt fast nur noch aus Schmid und Heppe” bezieht sich offenbar nicht nur auf den formalen, sondern auch auf den inhaltlichen Aspekt der Vorlesungen, so muß unsere Schlußfolgerung lauten.

Die Schlußbemerkung von U.l. lautet: “Es gibt aber eine Hölle”. Dies kann passenderweise das letzte Wort unserer Lehre vom Menschen sein. Wenn Barth viele Jahre später in seiner Lehre vom Menschen sagt: “Die Lehre von der Sünde gehört (nicht hierher, sondern) in den Zusammenhang der Lehre von der Versöhnung”, dann hat er damit im nachhinein seinen Schlußsatz aus 1925 für unpassend erklärt.


  • ‘Karl Barths erste Begegnung mit der protestantischen ‘Orthodoxie’. Zu: ‘Unterricht in der christlichen Religion. Die Lehre vom Gott / die Lehre vom Menschen (1924/1925), Zürich 1990’, in: ZdTh 10/2 (1994), 187-199.

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R.H. Reeling Brouwer

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