‚Die Menschlichkeit Jesu Christi im neuen Licht’, Einleitung De Glind 2014’

Einleitung                                                                                              

Es ist mir eine Freude Sie zur 32. Barth-Tagung in den Niederlanden herzlich begrüßen zu dürfen. Das Thema lautet diesmal: ‚Die Menschlichkeit Jesu Christi im neuen Licht’.

1.

Ich lese aus dem ersten Kapitel des ersten Johannesbriefes die ersten Verse (Vss. 1-4): ‚Was war von Anfang an: / was wir gehört haben / was wir gesehen haben mit unseren Augen / was wir erschaut haben / was unsere Hände ertastet haben / vom Wort des Lebens / – das Leben ist erschienen / und wir haben gesehen / und wir bezeugen / und wir verkünden euch: das Leben in Weltzeit, / welches war bei dem Vater und ist uns erschienen – / was wir gesehen haben und gehört haben / verkünden wir euch, / damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns / – und unsere Gemeinschaft aber / ist mit dem Vater und mit seinem Sohn: Jesus Messias. Und das schreiben wir euch, / damit unsere Freude erfüllt werde.’

Die (von mir kursiv gedruckten) Worte ‚Vom Wort des Lebens’ (peri tou logou tès zoès) könnten hindeuten auf den Titel eines antiken Traktats von der Logik des Lebens, in die man sich schicken muss, und vom Sinn des Lebens, in den man sich schicken soll. Für den Juden Johannes handelt es sich aber nicht um ein frei zu entfaltendes Wort, sondern um das Wort der Weisung, der Thora, das Israel tun soll und von dem es leben soll (Lev. 18,5; Dtn. 30,1ff.; cf. Ton Veerkamp, Weltordnung und Solidarität, TuK 71/71, 1996, 14f.). Dieses Wort ist ein Geschehen, ein ‚Erscheinen’, und für den Apostel trägt es einen Namen, den er verkünden muss. Er hat das Wort gehört, gesehen, erschaut, ertastet als den Grund seines Bezeugnens (martyrion) und seines ‚Botschaftens’ (apangelléin), das er schlieβlich in seinem Brief dokumentiert. Und es gibt einen doppelten Effekt (sieh die beiden ina, ‚damit’-Sätze). Erstens die Gemeinschaft (koinonia) der Hörer und Leser seiner Schrift mit ihm, dem Zeugen, und durch sein Zeugnis mit dem bezeugten Messias. Zweitens dann auch: die Freude (charis).

Im Missale Romanum ist der 27. Dezember der Tag Johannes’, des Evangelisten (statt Johannes, des Täufers und des Zebedäussohnes Jakobus, die auf älteren Listen der Tage der Märtyrer genannt wurden). Auch in den lutherischen Agenden, die die Predigthilfen im Registerband der Kirchlichen Dogmatik folgen, ist für Weihnachten als Epistellesung 1 Joh. 1 vorgesehen. Der Grund dafür ist wahrscheinlich die Ähnlichkeit (aber nicht Gleichheit!) zwischen dem ‚von Anfang’ und dem Prolog des Evangeliums ‚nach Johannes’, die Lesung am ersten Weihnachtstag. Aber im KD-Fragment zu dieser Predigthilfe spricht Barth dann von der Ostergeschichte. Nun kann es sein, dass der Schweizer Barth die schwer zu unterscheidenden Heilstaten in den Johanneischen Schriften mit dem vom Tal aus gesehenen Verflieβen der Gipfel der verschiedenen Berge verglichen hat. Aber die Verknüpfung von Ostern mit dem Zeugnis vom Anfang scheint mir doch mehr als ein Zufall zu sein. In KD III/2 (S. 530ff.) bringt Barth 1Joh 1,1-4 gegen Bultmanns berühmte These, es handele sich im Osterereignis um die Entstehung des Glaubens der Jünger, in der die Verkündigung ihren Ursprung hat, ins Feld. Es ist gerade das Zeugnis, wonach die Jünger (das ‚wir’ im Brief) ‚gehört, mit den Augen gesehen, erschaut, mit den Händen ertastet haben […] das Leben in Weltzeit, / welches war bei dem Vater und ist erschienen’. Auch in einem Gespräch mit den Tübinger ‚Stiftlern’ in 1964 unterstreicht er: die Annahme des Evangeliums der vierzig Tage [nach der lukanischen Zählung der Osterzeit, rrb] und des Evangeliums überhaupt steht und fällt damit, dass es sich im Ereignis dieser Tage um ein ‚leibliches, sichtbares, hörbares, greifbares’, ein ‚raumzeitliches’ ‚Geschehen handelte’ (Gespräche 1964-1968, herausgegeben von E. Busch, Zürich: TVZ 1997, 33ff.). Auch die Redewendung ‚wir sahen seine Herrlichkeit’ im Prolog des Evangeliums (Joh. 1, 14) deutete auf dieses Ereignis hin: die Jünger schauten seine göttliche doxa, aber die doxa im Fleische. Dieses Leben Jesu wurde offenbar zu Ostern, aber genau betrachtet gibt es kein anderes Leben Jesu als das österliche. Denn auch sein sogenanntes vorösterliches Leben steht völlig in diesem Licht. Nach dem schon in der Tambacher Rede von 1919 von Barth so gerne zitierten (J. A. Bengel zugeschriebenen, aber wahrscheinlich auf Fr. Chr. Oetinger zurückgehenden) Wort: die Evangelien in ihrer Ganzheit spirant resurrectionem, atmen die Auferstehung (Vorträge und kleinere Arbeiten 1914-1921, Zürich: TVZ 2012, 567). Kurz: das leibliche, sichtbare, hörbare, greifbare Leben des Auferstandenen bildet für Barth den Schlüssel für das Leben Jesu überhaupt.

2.

Im neulich (2012) in der Karl-Barth-Gesamtausgabe erschienenen und für unser Thema sehr wichtigen Band Vorträge und kleinere Arbeiten 1914-1921 lässt sich gut verfolgen, wie rasch und mit wie viel Wendungen und Störungen sich das Denken und Sprechen über Jesus beim jungen Safenwiller Pfarrer entwickelt hat. Am 25. April 1915, kurz nach seiner Rückkehr von einem Besuch an Christoph Blumhardt in Bad Boll, hielt er einen Vortrag auf dem Bezirkstag der sozialdemokratischen Partei in der Turnhalle in Seon zum Thema ‚Christus und die Sozialdemokraten’ (S. 131-139). Es gilt, so sagt der Redner, Missverständnisse zu vermeiden: Jesus war nicht Politiker, nicht sozialer Reformer, nicht Moralprediger, kein Religionsstifter, sondern er ist der Mensch, der dem Leben in einzigartiger Weise auf den Grund gegangen ist. Der Schein verschwindet, die eigentliche Welt tritt hervor. Diese andere Welt ist der Inhalt des Lebens Jesu. Und weil wir Sozialdemokraten an diese andere Welt, die Christus uns eröffnet, glauben, müssen wir uns trotz allem am Sozialismus freuen und dafür arbeiten. Christus nimmt das Tiefste für uns in Anspruch, den Wunsch, dass nicht die Sachen die Menschen beherrschen, sondern dass der Mensch leben soll. Er ist Kritik und Wegweisung unserer Ideale, Kampfmittel und Ziele. Er ist die Bürgschaft unserer Erwartungen – wir sehen, wie unmittelbar Barth von Jesus als movens der sozialen Bewegung spricht.

Am 15. November 1915 spricht Barth dann in Basel vor einem mehr oder weniger religiös-sozialem Publikum zum Thema ‚Kriegszeit und Gottesreich’ (S. 177-210). Dort führt er Jesus in einer noch stärker von Bad Boll geprägten Weise auf als derjenige in dessen Leben uns Gott entgegentritt in einer Art, die mir deutlich zeigt, dass Gott etwas von Grund aus Anderes ist als Alles Andere, was mir sonst als wahr und richtig vorkommt, anders als Wotan, anders als der Gott der Kriegsparteien. Der Gott, der von uns nicht eine Verbesserung der Welt fordert, sondern der der prinzipielle Durchbruch unserer Weltordnung ist (S. 193, S. 196, S. 201f.) Hier ist die christologische Reflexion schon weiter fortgeschritten, obwohl die Aussagen in theologischer Hinsicht immer noch ziemlich ungeschützt vorgetragen werden.

Nach der Erscheinung der ersten Fassung des Römerbriefes (1919) lautet dann im Aarburger Vortrag ‚Christliches Leben’ vom 9. Juni 1919 (S. 503-513) die Beschreibung ‚unseres Standorts’: ‚Jesus lebt’ – und zwar nicht weil wir etwa etwas mit Jesus erlebt hätten (was die CSV-Leute wohl gerne hören wollten), aber wegen der Auferstehung Jesu, die nur deshalb die weltbewegende Kraft ist, von der wir getragen werden, weil sie die erste Erscheinung einer totaliter aliter geordneten Leiblichkeit und Welt ist. Mit solchen Aussagen muss Barth für seine liberalen Lehrer kaum mehr zu erkennen gewesen sein.

Fast am Schluss des Bandes findet man dann die Rezension des Nachlasses Franz Overbecks aus 1920, die die Wende in die Richtung des Zweiten Römerbriefes markiert (S. 622-661). Dort wird die Frage laut: ‚Kann eine so passive Menschengestalt wie Jesus als Stifter von irgend etwas in der Welt (in der Geschichte) betrachtet werden?’ Oder: ’Wer sieht nicht, dass Jesus von der Annahme beherrscht war, in einer andern Welt könnte Grundvoraussetzung sein, was in der wirklichen Welt unmöglich ist, und dass Jesus gerade in den Forderungen, die sich auf diese Annahme aufbauen, am allerwenigsten als ein unklarer weltunerfahrener Phantast erscheint? Aber wer wagt es, ihm in dieser Annahme, die allein ihn begreiflich machen würde, in Ernst und mit ganzer Konsequenz zu folgen?’ (645-646). Die Möglichkeit von Jesus zu sprechen als das unmittelbare movens einer Bewegung in der Gegenwart ist hier fast unmöglich geworden. Seine Menschheit scheint jetzt völlig in einer eschatologischen (oder ‚urgeschichtlichen’) Unzugänglichkeit verborgen. Wie der Weg zu wie auch gearteten positiven Aussagen dennoch möglich war, hoffen wir von Edward van ’t Slot zu hören. Und wie das sozialistische Engagement des Anfangs später in gewisser Weise rehabilitiert wird, wird im Schlussreferat erörtert.

3.

Der Anlass für unser Thema ist jedoch nicht dieser Band der Gesamtausgabe, sondern die Flutwelle neuerer Jesus-Bücher, mit denen wir den Ansatz Karl Barths in den späteren Bänden der Kirchlichen Dogmatik, vor allem im KD IV/2, ins Gespräch bringen wollen.

Mit dem Namen Franz Overbecks verbindet sich die groβe Krise in der klassischen Leben-Jesu-Forschung und des liberalen Jesus-Bildes, die damals einen völlig neuen Ansatz erfordert hat. H. Berkhof bemerkte zu den viel später erschienenen § 64.3, ‚Der königliche Mensch’, an, dass dieser ein zwar einseitiges, aber doch auffalliges Interesse am Leben Jesu zeigt (Christelijk Geloof, Kampen: Kok 2002, 93). Er stimmt Barth zu, wenn dieser schreibt, dass ‚die alte Dogmatik es, ganz mit der allgemeinen und grundsätzlichen Frage nach der Gottheit und der Menschheit Jesu Christi beschäftigt – und innerhalb dieses Fragenkreises doch mehr an seiner Gottheit als an seiner Menschheit interessiert –, unterlassen hat, das Faktum des Menschen Jesus Christus für sich ins Auge zu fassen’ (S. 174). KD IV/2 erschien Sommer 1955, in einer gewissen Gleichzeitigkeit mit der Bewegung der Bultmannschüler (wie Käsemann, Fuchs, Conzelmann), die aufs neue die Frage nach dem historischen Jesus stellte und die später als ‚the New Quest’ (J. M. Robinson, 1959) bekannt wurde. Die Ergebnisse der Formgeschichte wurden verbunden mit dem Programm des 19. Jahrhunderts. Barth unterscheidet sich von ihnen in seiner bleibenden Ablehnung eines Suchens in irgendeinem ‚leeren Raum’ (a.a.O), abgesehen von der Offenbarung Jesu in seiner Auferstehung und Himmelfahrt, aber in seinem Unterstreichen der Bedeutung der Menschheit Jesu stimmt er mit ihnen überein.

Später hat die Forschung viele Entwicklungen durchlaufen. Ich nenne: die Ergebnisse der Qumran-Forschung, die gnostischen Quellen, die immer früher datiert wurden, die Verschiebung der Sicht auf Jesus, vom Apokalyptiker zum Weisheitslehrer (aber auch die Frage, ob, und wenn schon inwiefern es sich hier um einen wirklichen Gegensatz handelt). Ich nenne weiter: die von der Befreiungstheologie inspirierten sozialhistorischen Fragen nach der Soziologie der frühen Jesusbewegung und die durch die in den letzten Jahrzehnten weltweit gewachsenen pentecostal churches stimulierte Frage nach dem antiken Enthusiasmus oder der Magie usw.

Ende 2012 bekam das Vorbereitungskomitee einen beeindruckenden Text von unserem treuen Teilnehmer Hans Theodor Goebel. Es freut uns sehr, dass er bereit ist die in diesem Text entwickelten Gedanken auf dieser Tagung fortzuführen. Es freut uns umsomehr, weil wir, als wir ihn fragten, noch nicht wussten, dass auch die Leuenberger Barth-Tagung in diesem Jahr als Thema ‚Der wahre Mensch Jesus von Nazareth in der Christologie Karl Barths’ gewählt hat. Hans Theodor wird selber, viel besser als ich es könnte, ausführen, wie sich z.B. einerseits die sowohl historisch als auch theologischen Ansätze in den Jesus-Büchern von Gerd Theissen (1986/2004) und Klaus Berger (2004), andererseits der von Hans Küng stark kritisierte ‚kanonische’ Ansatz von Joseph Ratzinger/Benediktus XVI (I.2007; II.2011 [III.2012]) – auch der von Benediktus gelobten Joachim Ringleben (2008) wäre hier zu nennen gewesen – zum Ansatz Barths verhalten.

Prof. Martien Brinkman hat uns mit einem Buch über den verborgenen Christus im Film, der bildenden Kunst und der Literatur des letzten halben Jahrhunderts überrascht. Er hat gezeigt wie viele indirekte Zeugnisse es auf diesem Gebiet gibt und wie fast alle Fragen, die in der Theologiegeschichte zu Jesus gestellt wurden, hier in irgendeiner Form zurückkehren. Wir freuen uns, dass er bereit ist seine Entdeckungen auch in diesem Kreis, dem er von Anfang an angehört, vorzuführen.

Ebenso sehr freuten wir uns auf den Beitrag von Prof. Otfried Hofius. Bereits seine ernsthaften Bedenken bei den Betrachtungen Karl Barths zur Sündlosigkeit Jesu versprachen eine lebhafte Debatte. Leider musste er uns vor einigen Wochen mitteilen, dass er wegen akuter Herzprobleme nicht in der Lage war hierher abzureisen. Wir haben aber Dr. Wessel ten Boom bereit gefunden an seiner Stelle, wenn auch in ganz eigener Weise, das Referat zu übernehmen. Ten Boom ist Pfarrer der protestantischen Kirche, hat verschiedene Bücher über Friedrich-Wilhelm Marquardt und Augustinus geschrieben und ist gegenwärtig Herausgeber der von K.H. Miskotte nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Zeitschrift In de Waagschaal, die von Karl Barth immer sehr genau gelesen wurde. Wir wissen seine Bereitschaft zu schätzen!

4.

Zum Schluss noch eine Bemerkungeorganisatorischer Art, und zwar zum Ort. Dieses Jahr findet die Tagung nicht im vertrauten Hydepark, dem Tagungshaus der Protestantischen Kirche in den Niederlanden, statt. Der Grund ist zuerst ein finanzieller. Die Preise wurden immer höher, für manchen Teilnehmer inzwischen zu hoch. Dazu kommt, dass die Synode der PKN mittlerweile eine eingreifende Renovierung des Gebäudes beschlossen hat, so dass wir in den nächsten zwei Jahre so wie so nicht in Driebergen tagen können. Hier im YMCA-Konferenzhaus De Glind sind die Bedingungen zwar etwas primitiver, aber dafür ist der Aufenthalt erheblich billiger. Wir hören gerne Ihre Erfahrungen, ehe wir beschlieβen auch in den beiden nächsten Jahren an diesem freundlichen Ort zu tagen.

Und so wünschen wir einander eine fruchtbare Tagung, und wir hoffen gemeinsam die Bedeutung zu erfahren von geheimnisvoller Wörter wie Matth. 7:29: ,und er predigte gewaltig und nicht wie’ – wie wir alle es bestenfalls sind – ‚die Schriftgelehrten’ und Matth. 13,16f: ‚Wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt, zu sehen, was ihr seht und haben nicht gesehen, und zu hören, war ihr hört, und haben nicht gehört’.

Rinse Reeling Brouwer

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R.H. Reeling Brouwer

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