‘Die Bibel als große Erzählung?’

Rinse Reeling Brouwer

Die Bibel als Große Erzählung?

Eine seltsame Beharrlichkeit, ein unaufhaltsames Bei-der-Sache-Bleiben, ein völlig konjunkturunabhängiges Weitermachen: das alles bewundere ich an dem jetzt achtzigjährigen Ton Veerkamp. Welch eine Schriftgelehrtheit! Welch eine gesellschaftsanalytische Einsicht! Ich wünschte mir, jeder Theologe und jede Theologin wäre imstande, am Ende seines / ihres tätigen Lebens, eine solche Frucht der Arbeit eines ganzen Lebens wie das große Buch Die Welt anders vorlegen zu können, worin fast alle Bücher der biblischen Bibliothek gelesen und verarbeitet werden – und dazu ihren organischen geschichtlichen und kanonischen Ort zugewiesen bekommen, oder besser: gefunden haben. Seit den Tagen der Kirchenväter oder der Reformatoren ist eine solche Leistung wohl einmalig. Ich selber, der Ton schon 1975 auf der WSCF-Konferenz in Lillehammer kennen gelernt habe, erfahre immer wieder, wie sehr ich mir seine Einsichten zu eigen gemacht habe. Beim Schreiben von Artikeln für ein Handbuch über 25 Jahrhunderte Theologiegeschichte stellte ich fest, wie nicht nur seine Exegesen des Buches Nehemia oder des ersten Johannesbriefes, sondern sogar seine Betrachtungen zum Nizäner Konzil meine Texte erheblich beeinflusst haben.

Aber nun hat unser gemeinsamer Freund Dick Boer mich daran erinnert, dass ich beim Lesen dieses Buches auch meine Bedenken hatte, vor allem beim Untertitel: Politische Geschichte der Großen Erzählung. Und er sagte mir: erkläre dich doch näher! Er hatte recht, aber es ist nicht ohne Scheu, dass ich es in diesem Beitrag wage, dieser Bitte unseres Freundes – der selber übrigens diese Formel (Große Erzählung) gerne übernommen hat – nachzukommen.

Auf den ersten Seiten des Veerkampschen opus magnum hören wir:

»Als französische Philosophen Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Ende der Moderne ankündigten, sahen sie zugleich das Ende der, wie sie sagten, ›Großen Diskurse‹ gekommen. Ein ›Großer Diskurs‹ war für sie die Aufklärung, die eine Epoche des mündigen Menschen ankündigte, eine Epoche, in der die Menschen frei von Bevormundung jeder Art und einander gleich ihr Leben autonom bestimmen, ein Diskurs, ein rationales Gespräch, über Freiheit und Gleichheit. Aber die Französische Revolution hat noch ein drittes Schlagwort: Fraternité, Brüderlichkeit.«1

Dieses Dritte hat aber die bourgeoise Durchführung der Revolution schon rasch durch andere Worte, nämlich Eigentum und Wettbewerb ersetzt. Die Arbeiterbewegung dagegen hat Brüderlichkeit als Solidarität verstanden, besser, weil geschlechtlich inklusiver.

»Durch den Abgang der Arbeiterbewegung von der politischen Bühne erhielten Eigentum und Wettbewerb das Monopol des gesellschaftlichen Diskurses. Was die französischen Philosophen um 1980 ahnten, war nicht nur das Ende der Großen Diskurse und der Großen Theorien, sondern eine Gesellschaft ohne Große Erzählung«.2

Ton fährt dann fort:

»Ich nenne Große Erzählung eine von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder erkannte und anerkannte Grunderzählung, in der sie ihre einzelnen Lebenserzählungen miterzählt wissen, durch die sie einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen und so die gesellschaftliche Grundstruktur mit ihren Loyalitäten und Abhängigkeiten verinnerlichen. Jede große Volksreligion ist eine solche Große Erzählung. (…) Die Moderne kannte ihre eigene, nicht-religiöse Große Erzählung in doppelter Gestalt: die bürgerliche Erzählung der (…) Emanzipation aus traditionellen Abhängigkeiten sowie, auf ihr aufbauend, die Erzählung der Arbeiterbewegung (…). Eine Gesellschaft, die die menschlichen Beziehungen nur als Beziehungen zwischen konkurrierenden Individuen sehen kann und für die Freiheit im Wesentlichen Freiheit zur Anhäufung privaten Reichtums ist, hat keine Große Erzählung. Die so entstehende Gesellschaft der Freiheit des Geschäfts ohne Grenzen bietet den Menschen keinen Wohnort mehr, sie macht sie unbehaust. Das hat die französische Philosophie am Ende des 20. Jh. mit ihrer Parole Ende der großen Diskurse, Ende der Moderne zum Ausdruck gebracht. Diese Philosophie der Postmoderne entstand nicht zufällig nach dem Abtritt der Arbeiterbewegung von der politischen Hauptbühne. (…) Aus der Not der »Verwesung der Großen Erzählungen« machte Jean-François Lyotard eine Tugend, die Tugend der Vernetzung.«3

Und dann folgt die Ankündigung:

»In diesem Buch reden wir also über die vergangene Bewohnbarkeit der Welt. Sie ist daher Erinnerungsarbeit, ja, Trauerarbeit. Wir erinnern uns an die Orte unserer Ursprünge.«4

In diesem Beitrag stelle ich folgende Fragen:

1. Wie habe ich damals Lyotard verstanden?

2. Wie sehe ich die Volksreligion des Christentums als Große Erzählung?

3. Warum kann ich die Bibel schwerlich für eine Große Erzählung halten?

1. La condition postmoderne. Ein Rückblick

Für Jean-François Lyotard selber war dieses Buch nicht seine wichtigste Arbeit. Er hat diese Arbeit auf Anfrage des Rates für die Universitäten des Kanadischen Staates Quebec als einen Bericht über den Status des Wissens in den entwickelten Gesellschaften konzipiert, sie dann auch als Buch in Frankreich herausgegeben. Die Hauptfrage ist also die nach der Legitimation wissenschaftlicher Erkenntnis – wörtlich: die Möglichkeit, vor dem Gesetz beziehungsweise vor irgendeinem Gesetz zu bestehen. In der Moderne, meint er, hatte das Wissen eine doppelte Funktion. Einerseits war es ein wichtiger Bestandteil eines Emanzipationsprogramms: das Erkennen dessen, was immer verborgen (vielleicht sogar: verborgen gehalten) worden ist, verleiht den ehemals vom Wissen Ausgeschlossenen Macht.

Andererseits gibt es auch Menschen, die in besonderer Weise Träger dieser neuen Erkenntnisse sind. Das können die kulturellen Eliten des Bildungsbürgertums sein5, oder die naturwissenschaftlichen Forscher an den Universitäten, oder auch die Vorhut einer Arbeiterpartei6. Lyotard stellt aber fest, dass diese Legitimation des Wissens in allen diesen Fällen erodiert. Es gibt keine metaphysische Begründung der neuen Erkenntnis (mehr). Außerdem ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Institutionen dieser Erkenntnis sowie ihrer unterschiedlichen Träger dabei zu verschwinden. Damit ist die Wahrheit als Ziel der Wissenschaft selber verschwunden, und an ihrer Stelle ist die Prozedur oder der Prozess getreten. Die Frage des Wozu oder des Sinns des Wissenschaftsbetriebes wird, wenn auch nicht verboten, dann doch an allen Seiten beschwiegen und für nicht beantwortbar gehalten. Übrigens weist Lyotard nach, dass schon im deutschen Idealismus oder in der Wiener Schule Anfang des 20. Jh. das »nihilistische« Bewusstsein, dass die positiven Resultate der Erkenntnis auf nichts gründeten, immer schon Teil ihres Programms war7.

Früher gehörte Lyotard einer marxistischen Gruppe Sozialismus oder Barbarei an, und diese Vergangenheit leugnet er in seinem Text keineswegs. Im Gegenteil, die wichtigsten seiner späteren Einsichten bauten, wie er selber sagt, auf seinen Reflexionen während seiner marxistischen Zeit auf. Und man kann sagen, dass er in seinen rücksichtslosen Analysen der gesellschaftlichen Prozesse dem Materialismus treuer blieb als der ehemalige Frankfurter Habermas (im Buch ein ständiger Gesprächspartner), der den Wissenschaftler quasi neben seinem Beruf auch noch über Sinnfragen kommunizieren lassen will. Ich selber war in den siebziger Jahren stark auf die Theorie Louis Althussers orientiert. Da konnte ich verfolgen,

wie eine anfängliche Leidenschaft für die Wissenschaftlichkeit des Marxschen Projekts allmählich der Erkenntnis weichen musste, dass eine wissenschaftstheoretische Legitimierung dieses Projekts (»die abwesende Ursache«) unmöglich war und dass sich die Wahrheit von der Ideologie nicht sicher abgrenzen ließ. Immer weiter näherte Althusser sich dem Punkt, an dem das Denken an die Grenze des nicht mehr Denkbaren stieß. Man kann auch sagen: es war ein letzter, fast verzweifelter Versuch eine Tradition zu retten, die auch nach eigener Einsicht unter postmodernen Verhältnissen nicht mehr zu retten war.

Lyotard selber war inzwischen vor allem erschrocken über den oft zynischen Gebrauch der Formel condition postmoderne und hat sich dazu nicht mehr geäußert. In seinen späteren Veröffentlichungen ist er aber dem Schlusswort seines Traktats von 1979 treu geblieben:

»une politique se dessine dans laquelle seront également respectés le désir de justice et celui d’inconnu«8.

Das erste Wort, justice, ist vielleicht eine Reminiszenz an seine jüdischen Vorfahren. Mag sein, dass das Gesetz zur leeren Gesetzmäßigkeit der Prozeduren verkommen ist, die Frage der Gerechtigkeit bleibt. Das Wort verbindet ihn mit Ton Veerkamp, wie auch die Trauerarbeit um das verlorene Erbe und um den verlorenen Glauben sie verbindet (siehe die Widmung in seinem zuletzt erschienenen Buch: dem »glaubenden« Widerstandskämpfer André Malraux). Das andere Wort  aber, l’inconnu, schafft eine solche Verbindung nicht. Denn unser Ton ist ein unverbesserlicher Aufklärungsdenker, der im Unbekannten immer eine List der Reaktion wittert, den Unterdrückten die für ihre Emanzipation nötige Erkenntnis abzusprechen. Aber an diesem Punkt sind auch Ton und ich nie eines Geistes gewesen.

2. Das Christentum als Große Erzählung

Ich stimme völlig mit Ton Veerkamp überein, dass das Christentum sich allmählich, und sicherlich in Konkurrenz mit dem sich gleichzeitig, wenn auch nicht in gleicher Weise, neu konstituierenden Judentum, zu einer Großen Erzählung entwickelte. Die von Lyotard so genannte Struktur dieser Erzählung Schöpfung – Fall – Versöhnung – Erlösung findet man schon im Hauptwerk des durch die Polemik gegen die gnostische Trennung von Schöpfung und Erlösung geprägten Kirchenvaters Irenäus9. Aber Veerkamp hat recht, dass erst das

Staatskirchentum und die gleichzeitige Fixierung der beiden christologischen Dogmen für die Gestalt der Erzählung entscheidend waren. Und es ist ganz richtig, dass insbesondere bei Augustin die Abweichungen von den Strukturen des TeNaKs offensichtlich werden. Ebenso richtig ist, dass das Gebilde, das da entstand, ein höchst ambivalentes war. Das Band mit der messianischen Variante der Erzählung Israels wird festgehalten und zugleich in den ideologischen Apparat des spätantiken Imperium Romanum integriert. Verweigerung und Akzeptanz sind in Prinzip beide möglich, aber die Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse ist die Regel.

»Daher ist auch Kirchengeschichte bis heute beides: Kritik herrschender Zustände und Chronique scandaleuse unsäglicher Verbrechen, die die Kirche billigt bzw. selber begeht.«10

Und jetzt ist auch diese Große Erzählung von der umfassenden Erosion solcher Erzählungen betroffen. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus sind wir, einige Theologen mit sozialistischer Orientierung, vom niederländischen kirchlichen Rundfunk (den es übrigens inzwischen auch fast nicht mehr gibt) interviewt worden. Neben Dick Boer und mir war auch Gerrit Neven, dialektischer Theologe, mit dem ich später viele Jahre in Kampen zusammengearbeitet habe, zu einem Gespräch eingeladen. In diesem Gespräch bemerkt er, wie die Politische Theologie und die Theologie der Befreiung usw. einen großen Schock auslösten: es konnte doch nicht sein, dass Unterdrücker und Unterdrückte in derselben Erzählung beide ihre Wahrheit finden konnten? Es stellte sich dann heraus, wie unmöglich dies tatsächlich war. Innerhalb des sogenannten einen Christentums war es faktisch nicht mehr möglich, einander in einer gemeinsamen Konfession, einer gemeinsamen Wahrheit wiederzuerkennen. Fukuyamas Behauptung, der Zusammenbruch des Sozialismus bedeutete das Ende der Geschichte, war für Neven die Bestätigung, dass eine gemeinsame, historisch gewachsene Tradition, die Menschen befähigt, einander zu verstehen, nicht mehr existiert. Für Fukuyama gab es eigentlich keine Inspiration mehr jenseits der nun endgültig bestehenden Ordnung. »Und theologisch«, erwidert Neven,

»kann ich dem keine alternative Geschichtsordnung, keine ideale Zukunft mehr gegenüberstellen. Gegenüber der von Fukuyama beschriebenen Ordnung sieht man nur noch die Splitter und Scherben einer völlig kaputt gemachten Welt, die übrigens von dieser Ordnung selber mit verursacht wird. Das ist dermaßen massiv und allumfassend, dass ich als Theologe nichts vorzubringen habe, das diesem gleichkommen könnte«11.

»Aber«, fragt der Interviewer, »die biblische Botschaft ist doch massiv und allumfassend? «

Neven:

»Nein, diese ist gar nicht umfassend. Es ist die Ideologie der Christen, die Botschaft der Bibel sei allumfassend und böte eine Erzählung, in der Alles, vom Anfang bis zum Ende, nach allen Niederlagen und Krisen zu ihrem finalen Ende käme. Sogar die biblische Apokalyptik, am Rande der Schrift, ist blitzartig in ihrem Trennen von Licht und Dunkel, und eignet sich nicht für den Entwurf einer Geschichtsphilosophie«12.

Es ist auffallend, wie sehr Neven in einem Gespräch über das Ende des Sozialismus zugleich auf das Ende des Christentums als einer Großen Erzählung fokussiert war. Allmählich musste ich erkennen, wie sehr er damit recht hatte – auch mit seiner Auffassung, dass sich der kostbare biblische Schatz im Christentum nicht als eine Große Erzählung bezeichnen lässt.

Zwar macht man in den Vereinigten Staaten den Versuch, nachdem der Akzeptanzkurs der liberalen Theologie zur völligen Verdeckung der biblischen Erzählfiguren – mit Hans W. Frei gesprochen, ihrer Eklipse – geführt hatte, die Neubelebung einer biblischen metanarrative zu betreiben: die sog. New Yale School oder die postliberals, zu deren Theologen außer dem gerade erwähnten Frei auch George A. Lindbeck gehört. Ihr Programm fordert schroffe katechetische Maßnahmen: jedenfalls eine ganz neue Einübung im Christentum mit Hilfe eines neuen Lernens der Sprache der biblischen Botschaft. Es setzt ausserdem voraus, dass die Wittgensteinschen Sprachspiele kaum in einander übersetzt werden können. Das führt zu einer ziemlich monokulturellen Lösung der Fragen der Organisation und Sozialisation. Insofern deckt es sich doch nicht ganz mit dem Programm Ton Veerkamps, das doch mindestens zweisprachig ist – die Sprache der Bibel und die der Arbeiterbewegung sind ja durchaus ineinander übersetzbar. Aber gemeinsam ist das Heimweh: die Möglichkeit die Bibel zu lesen als ein Haus, worin man wohnen kann, inmitten einer nicht mehr bewohnbaren Welt, ja, als Widerstand gegen diese Welt (und damit gegen den Gott der Liberalen).

Wenn die Chancen für eine Reanimation der Großen Erzählung aber zweifelhaft sind, kann man sich auch fragen, ob es Elemente in der Erzählung gibt, die man sich neu aneignen kann. In den vorher genannten Gesprächen nach der Wende wurde mehrmals auf das Erbe der Negativen Theologie verwiesen. Unter der condition postmoderne ist das keine Überraschung. Es sind ja gerade die positiven Aussagen einer Erzählung, der Anspruch eines Wissens dessen, was nicht gewusst werden kann, eine Präsenz des Abwesenden, eine Autorität, die sich letztendlich nicht zu legitimieren vermag, die von einer Negativen Theologie negiert werden. Obwohl die Ursprünge im antiken Neuplatonismus zu suchen sind, hat die christliche Negative Theologie sich ganz klar in einer biblischen Linie verortet. So hat Gregor von Nyssa in seinem Leben Moses beschrieben, wie Mosche auf dem Berg in die Finsternis geht (Ex 20,21), nicht um Gottes Wesen kennenzulernen, sondern um zu erfahren, wie dieses Wesen nicht sichtbar (aoraton) und nicht erkennbar (akataleipton) ist. Gerade in der Wolke, in der der Gott Israels sich verbirgt, empfängt der Gottesknecht die Gebote, die ihm und dem Volk sagen, wie »ganz anders« der Name ist – und nicht, um Gott, wie es in den Religionen der Völker der Fall ist, zu erfassen. Das zweite Wort des Dekalogs

fasst Gregor als ein Verbot auf, sich Denk-Bilder von Ihm zu machen (sehr aufschlussreich in einem griechischen Kontext!). Denn Er transzendiert jede Repräsentation (hypodeigma) und ist ohne Gleichnis mit irgendeinem Erkennbaren in der geschaffenen Welt13. Hier soll alles entmythologisiert werden, nur das Gebot aus dem Munde des Namens nicht! Methodisch führt diese Einsicht zu der epektasis (nach Phil 3,13), dem Sich-Ausstrecken nach dem, was vorne ist: die Unmöglichkeit Gott zu Ende zu denken. Wenn Mosche nur den Rücken des Namens sehen darf (Ex 33,23), bedeutet das, dass Er ihm immer nur vorausgehen kann und dass Sein Prophet niemals über Ihn verfügen, Ihn niemals besitzen darf. Das ist das kritische Moment der Negativen Theologie, wie es sich später auch beobachten lässt in der Methode der Prädikation der göttlichen Attribute beim Aquinaten, dessen Denken Ton so vertraut ist, und in der frühen dialektischen Theologie. Hat ja doch Karl Barth die Aufgabe der Theologie darin gesehen, dass eine positiv-dogmatische Darstellung ihrer Erzählung und eine kritische Unterminierung all ihrer Konzepte einander immer abwechseln müssen, weil keiner dieser beiden Wege je wirklich absolut konsequent zu Ende gefolgt werden kann. Hier wird also die negative Theologie in ihrer Opposition zur positiven Theologie wieder relativiert. Wir können nach Barth auf beiden Wegen nur Gott die Ehre geben, denn wir können als Theologen die Wirklichkeit des lebendigen Gottes nie selber hervorrufen14. Dieser letzte Vorbehalt findet seine Entsprechung im Diskurs der französischen Philosophie des späten 20. Jh. Jacques Derrida hat die Verwandtschaft der (philosophischen, jüdischen, christlichen) negativen Theologie mit seinem eigenen Programm der Dekonstruktion auch ausdrücklich festgestellt. Er hat aber auch befürchtet, in der Negation könnte immer noch eine Bestätigung des Negierten, eine negative Affirmation des Metaphysischen also, mitschwingen15. L’inconnu, das Unbekannte, als eine der bleibenden Perspektiven des Lyotardschen Buches, muss deshalb auch wieder jenseits der Negation gesucht werden. Denn auch die Negation der Großen Erzählung könnte noch negativ an diese Erzählung gebunden sein. Man kann sich fragen, ob Derrida hier nicht das Nicht-Kommen oder jedenfalls das Ausbleiben des Messias zum Prinzip gemacht hat. Aber wenn ich Ton Veerkamp richtig gelesen habe, hat der Apostel Johannes das Gleiche getan.

3. Die Bibel ist keine Große Erzählung

Kehren wir nun vom Christentum als einer Großen Erzählung, die aber Elemente der Selbstkritik in sich hat, zur Bibel zurück. Oder besser: schreiten wir zu ihr vorwärts. Wie bei den postliberals erkenne ich auch bei Ton die anti-bürgerliche Pointe des Begriffes »Große Erzählung« gerne an. Gegen die historisch-kritische Fragmentierung des Textes, die auch ihre Unwirksamkeit erzwingen sollte, ist es von größter Bedeutung sich die  Zusammenhänge der einzelnen biblischen Bücher, wie auch des Kanons des TeNaKs und der messianischen Schriften vor Augen zu stellen. Ich gedenke hier dankbar derselben Lehrmeister, bei denen auch Ton »gelernt« hat, und schöpfe auch selber immer noch aus ihren Quellen.

Jedoch, ich werde etwas misstrauisch, wenn ich als Begründung dieser Einsicht lese:

»Das Ganze ist vor den Teilen, es formatiert die einzelnen Texte zu Teilen überhaupt, denn es gibt keinen Teil, wo es kein Ganzes gibt. Es ist nützlich, sich hier an Hegels Wissenschaft der Logik zu erinnern: ›Das Ganze ist das Selbständige, die Teile sind nur Momente dieser Einheit‹ (…). Die Selbständigkeit der Teile ist daher relativ, die Teile sind immer nur aufeinander und miteinander auf das Ganze bezogen. Das Ganze ist aber nur das Ganze in den Teilen, die Teile sind immer nur Teile eines Ganzen. Deswegen ist die Herausarbeitung der Konkordanz einzelner Texte mittels der einzelnen Schlüsselwörter als ›Technik‹ der Textentschlüsselung zwingend vorgeschrieben«16

Vieles davon hätte auch Frans Breukelman sagen können; und insoweit bin ich mit Ton einverstanden. Aber dennoch, was soll man von diesem Vergleich mit Hegel halten? Ich bin aus vielerlei Grund ein Verehrer Hegels (z.B. als ein wunderbarer Interpret Spinozas), aber es ist klar, dass der Zusammenhang der Teile in einem Ganzen die Form eines Systems hat. Ist eine Große Erzählung mit einem (im Sinne des Deutschen Idealismus zu definierenden) System vergleichbar? In meiner Antrittsvorlesung habe ich – gestützt auf die aus der Dogmengeschichte bekannte Begrifflichkeit von simplicitas (Einheit) und singularitas (Einzigkeit) – vorgeschlagen, zu unterscheiden zwischen dem Partikularen und dem Singularen in ihrem Bezug auf das Ganze oder das Universale – eine Unterscheidung, den ich interessanterweise schon in der modernen Philosophie (z.B. bei Slavoj Žižek) vorfand17. Zweifellos hat das Verhältnis von Teil und Ganzem in einem Text oder in einem größeren Textkorpus mit Partikularität zu tun. Dieses Verhältnis zu bedenken ist für die Erklärung von Texten unumgänglich. Aber die Erklärung von Texten in der Bibel als Ganzes kann dabei nicht stehen bleiben. Für sich genommen, stehen die Texte nämlich alle unter dem Vorbehalt der Proklamation in Dtn 6,4ff.: »Höre Israel / der Name, dein Gott, der Name, Einziger«18. Die Einzigkeit des Namens besagt, dass Er niemals unter einem höheren Ganzen subsumiert werden darf. Und immer dann, wenn ein Ganzes zu einer Instanz neben dem Einzigen zu werden droht, braucht es eine negative Theologie, um die Produktion eines (Denk-)Bildes des Einzigen zu unterminieren. Das ist auch mein wichtigstes theologisches Bedenken gegen die These, die Bibel sei eine Große Erzählung. Eine solche Große Erzählung ist ja immer noch unsere Konstruktion – zwar getragen von einer Analyse der Texte in ihrem Zusammenhang, aber dennoch von einer von uns vollzogenen Analyse. Solche Konstruktionen müssen auch gemacht werden, das ist die notwendige via affirmativa in der Theologie. Man muss sie sich aber immer wieder aus den Händen schlagen lassen – das ist die ebenso notwendige via negationis. Und wir sollen auf beiden Wegen dem Namen die Ehre geben.

Mein Zögern findet eine Bestätigung, wenn ich (und das im Werk Ton Veerkamps nicht zum ersten Mal) lese: »die gesellschaftliche Grundordnung der Freiheit und Gleichheit – also Gott«19. In dieser Definition fällt Gott mit den letzten Identifizierungen eines gesellschaftlichen Ganzen zusammen. Wenn diese Definition stimmt, kann Gott tatsächlich mit einer Großen Erzählung seines Namens zusammenfallen. Aber stimmt diese Definition? Bedeutet sich Gott so vorzustellen keine Übertretung des zweiten Gebots? Ist und bleibt der Gott Israels in Seiner Identifizierung mit Seiner Welt, sei es die Welt des Textes, sei es die Welt Seiner Freiheit und Seiner Gleichheit unter den Menschen, nicht auch doch immer von dieser Welt unterschieden (wie auch Ton selber schreibt20)? Und wenn das nicht der Fall ist, ist Er dann noch … Gott, der Einzige, der Unvergleichbare? Mit Erstaunen stellt Paulus, den Propheten Jesaja zitierend, fest: »was kein Auge gesehen hat, und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben – uns hat es Gott offenbart durch seinen Geist« (1 Kor 2,9f.). Können wir uns mit diesem »uns« identifizieren? Haben wir nicht auch dieses »uns« immer nur epekstatisch vor uns? Ist auch eine Gesellschaft menschlicher Freiheit und Gleichheit nicht bestenfalls eine Wirklichkeit, die nur blitzartig für uns aufleuchtet, als eine Wirklichkeit, die von der Zukunft, d.h. von der Auferstehung des Messias her, auf uns zukommt? Ist die Unbekanntheit dieses fremden Namens – l’inconnu nicht als allgemein-religiöser Begriff, sondern als ein biblischer Gottesname – nicht die Voraussetzung Seines Erscheinens?

Sicherlich gibt es Zeiten, in denen man mehr, und Zeiten, in denen man weniger sieht. Selig sind die Zeitgenossen und Weggenossen Nehemias! Selig sind sie, die teilnahmen an der Arbeiterbewegung im Zeitalter der Revolution während einer spezifischen kritischen Phase des Kapitalismus! Sie waren Zeugen der Treue des Namens, und sie sahen die Zeichen Seines Kommens. Aber sie waren nicht selber die Offenbarung des Namens.

Eine letzte Frage noch: was ist die Bibel dann, wenn sie nach meiner Einsicht besser nicht als Große Erzählung bezeichnet werden soll21? Ich schlage vor: sie ist ein liturgisches Buch. Das heißt: sie bietet Tag für Tag eine Tagesportion des Wortes, »von jeglichem, was aus seinem Munde fährt« (Dtn 8,3). »Da, ich lasse euch Brot vom Himmel regnen« ausziehn soll das Volk und lesen: die Tagesmenge an ihrem Tag, / damit es prüfe, ob es in meiner Weisung geht, ob nicht« (Ex 16,4). Gewiss hat das Wort immer alle anderen Worte zur Voraussetzung, und gewiss muss man das Ganze studieren, um es richtig zu verstehen. Aber nichtsdestoweniger ist es so: ein davar ist immer ein konkretes Wort für diesen einen Tag, ein Wort, das man tun kann, ein Wort, von dem heute leben kann. Dieses Wort zu empfangen ist nicht selbstverständlich, aber möglich! Das Konzipieren einer (wahrscheinlich heute sehr pessimistisch ausfallenden) Geschichtsphilosophie können wir getrost Anderen überlassen. Wir, Hörer des Wortes, haben an dem Manna des heutigen Tages genug. Und so wünschen wir auch Ton Veerkamp dieses Manna für die Lebenstage, die ihm noch gegönnt werden!

Literatur

  • Barth, Karl, Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924.
  • Derrida, Jacques Comment ne pas parler, in: Psychè, Paris 1987.
  • Gregor von Nyssa, La vie de Moïse ou Traité de la perfection en matière de vertu. Introduction, texte critique et traduction de Jean Daniélou s.j., Paris 31968.
  • Frei, Hans W., The Eclipse of Biblical Narrative, New Haven 1974.
  • Groot, Ger, In memoriam Jean-François Lyotard, in: NRC Handelsblad 21 april 1998.
  • Haan, Job de/Rijpert, Bert (Hg.), Een wereld zonder tegenspraak? »Linkse« theologen na de teloorgang van het socialisme, Baarn 1992.
  • Lyotard, Jean-François, La condition postmoderne, Paris 1979.
  • Reeling Brouwer, Rinse, Deze is een en enig. Over de taak de singulariteit van de Naam te respecteren, Amsterdam 2012.
  • Veerkamp, Ton, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2012.
  • Zuurmond, Rochus, Het »grote verhaal« van de bijbel, in: Interpretatie. Tijdschrift voor Bijbelse Theologie 3 (1995) Heft 5, 18–21.

Anzeichnungen

1 Veerkamp 2012, 13; Hervorhebung im Original.

2 Ebd., 14; Hervorhebung im Original.

3 Ebd.; Hervorhebung im Original.

4 Ebd.

5 Lyotard 1979, 56.

6 A.a.O., 61.

7 A.a.O., 64.68.

8 A.a.O., 108 (»Es zeichnet sich eine Politik ab, in welcher die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und die

nach dem Unbekannten in gleicher Weise respektiert werden.«).

9 Veerkamp 2012, 357f.

10 Veerkamp 2012, 415; Hervorhebung im Original.

11 De Haan/Rijpert 1992, 84.

12 Ebd.

13 Gregor von Nyssa 1968, I, 46–47 und II, 163–165.

14 Barth 1924, 169ff.

15 Derrida 1987.

16 Veerkamp 2012, 22; Hervorhebung im Original.

17 Reeling Brouwer 2012.

18 Veerkamp 2012, 45.

19. A.a.O, 17.

20 A.a.O, 55.

21 Vgl.  dazu auch Zuurmond 1995.

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R.H. Reeling Brouwer

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