‘Die Bedeutung des empirefür die Auslegung der Bibel heute – einige Bemerkungen zum Buch von Michael Hardt und Antonio Negri’

Die Bedeutung des “Empire” für die Auslegung der Bibel heute

Einige Bemerkungen zum Buch von Michael Hardt und Antonio Negri

In der Accra-Erklärung des Reformierten Weltbundes vom 12. August 2004 erscheint der Begriff “Empire” im elften Paragraphen, der noch nicht zum eigentlichen Glaubensbekenntnis gehört. Es heisst dort: “Als Wahrheit- und Gerechtigkeitssuchende, die sich die Sichtweise der Machtlosen und Leidenden zu Eigen machen, sehen wir, dass die gegenwärtige Welt(un)ordnung auf einem complexen und unmoralischen Wirtschaftssystem beruht, das von (einem) Imperium (Empire) verteidigt wird.” Offenbar hatte diese Formel Fragen ausgelöst, denn in einer näheren Erklärung hören wir: “Unter dem Begriff ‘Imperium (Empire)’ verstehen wir die Konzentration ökonomischer, kultureller, politischer und militärischer Macht zu einem Herrschaftssystem unter der Führung mächtiger Nationen, die ihre eigenen Interessen schützen und verteidigen wollen.” Dieser Versuch einer Definition bedarf selber noch einer näheren Erklärung. Von Teilnehmern der Generalversammlung in Accra aus Kreisen der Befreiungstheologie habe ich verstanden, dass das Stichwort “Empire” im Text ausdrücklich auf den gleichnamigen Begriff im Buch von Michael Hardt und Antonio Negri verweisen will, das in den Kreisen der “Anders-Globalisten” und auch sonst viel Nachhall gefunden hat.[1] Zum näheren Verständnis der Definition werden wir deshalb dieses Buch zu Rate ziehen müssen.

In diesem Beitrag fragen wir 1. wie der Begriff “Empire” bei Hardt und Negri entwickelt wird, um das heutige Zeitalter zu beschreiben ; 2. wie sich dieser Begriff verhält zum klassischen Begriff des Imperiums, im Sinne der Weltmächte in der Zeit der Bibel bis zum “Imperium Romanum” so wie später noch des “Heiligen Römischen Reiches”; und 3. in welchem Masse dieser Begriff mit der Tendenz und der Absicht der Accra-Erklärung tatsächlich zu vereinbaren ist und in wieweit er für unsere Aufgabe, das biblische Zeugnis in der heutigen Welt(un)ordung auszulegen, tatsächlich hilfreich sein kann. Wir beginnen, nachdem wir die Autoren kurz vorgestellt haben, mit dem zweiten Punkt.

Die Autoren

Antonio Negri war Professor für Politwissenschaft. In einem Prozess wurde er auf die Anschuldiging hin, der intellektuelle Kopf der Roten Brigaden gewesen zu sein, zu einer dreizehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Gefàngnis schrieb er eine viel diskutierte Arbeit über Spinoza.[2] Der englische Übersetzer dieses Buches, Michael Hardt, wurde seit den neunziger Jahren, als Negri als Asylant in Paris und später (unter Hausarrest stehend) in Rom wohnte, zu seinem Kompagnon in einem gemeinsamen philosophisch-politischen Projekt. Neben Empire (2000) schrieben sie inzwischen auch eine Fortsetzung: Multitude (2004).[3] Michael Hardt ist heute Professor für Literaturwissenschaft in Durham, NC in den USA. Sie nennen sich selber Kommunisten, aber Kommunisten “neuen Typus”, entsprechend dem Zeitalter nach dem Wohlfahrtsstaat und nach Ende des Kalten Krieges. Ihre oft hinreissend geschriebenen Schriften sind eine Kombination passionierter Anklage und nüchternen Denkens, so wie breiter Intellektualität und anziehender Mobilisierungskraft. Sie hassen die Tiefe und das Grübeln und verkörpern in dieser Weise eine heute ziemlich seltene offensive Haltung, die die Vorherrschaft, die der Neoliberalismus für sich beansprucht, nicht allzu ernst nehmen will.

 

Vom Imperium Romanum zum “Empire”

“Empire ist hier als ein Begriff, der nach einem theoretischen Zugang verlangt, angesehen” (Hardt/Negri 2003, 12). Damit ist gemeint, dass der Sinn des Begriffs hauptsächlich von der Analyse der heutigen globalisierten Weltlage her entwickelt werden soll. Trotzdem gibt es Assoziationen mit der Vergangenheit, die die Autoren veranlassen, gerade diesen Begriff zu wählen, um die heutige Weltlage zu charakterisieren. Solche assoziativen Elemente sind z.B. die Masslosigkeit des Raums des Imperiums, die Verdrängung der Blutbäder, durch welche es sich konstituiert hat und ständig neu konstituiert, der Anspruch des “ewigen Friedens”, den es bringen soll, und die Ausweitung ihrer imperialen Macht so, dass sie die Welt schafft, in der ihre Bevölkerung lebt (13). Aber die Erinnerung an die alten Imperien eröffnet auch eine Perspektive, die es von sich aus nicht zeigen kann und will. Die Historiker (wie Polybius) wissen ja doch von einer Differenzierung der Macht im alten Rom: nicht nur der Imperator (der Monarch), sondern auch der Senat (die Aristokratie) und die comitia (die Volksversammlung) spielen ihre Rolle und bilden zusammen ein funktionales Gleichgewicht, das gerade die Dauerhaftigkeit der Macht ermöglicht (175, 325). Und sie wissen auch, dass ein solches Gleichgewicht immer wieder zerstört werden kann. Deshalb reden sie von “Aufstieg und Fall” aller bisherigen Reiche (378). Und anlässlich des Falls der ewigen Stadt Rom hat Augustin sogar behauptet, dass schon von Anfang an diese eine civitas (Staat) ihre Geschichte immer nur hat machen können, vermengt mit einer anderen civitas, die sie ablösen soll (401). So lässt sich, nach Hardt und Negri, auch das heutige “Empire” nie denken ohne die Kräfte, die schon über es hinausgehen – ein Element des Begriffs “Empire”übrigens, das sich in der oben zitierten vorläufigen Definition der Accra-Erklärung so nicht, jedenfalls nicht explizit, findet.

Die neue Weltlage

Das “Empire” bedeutet eine Welt, die 1. den alten Kolonialismus und auch den alten Imperialismus, 2. die klassische Form der Souveränitätsausübung und 3. die Dominanz der disziplinierten industriellen Arbeit hinter sich gelassen hat.

1. Der europäische Imperialismus bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts war ein Projekt, die Enden der Erde zu erreichen und zugleich die eroberte Erde unter einigen Nationalstaaten zu verteilen. Dieses Projekt ist in vielen Befreiungskriegen schwer bekämpft worden, was mit dazu geführt hat, dass es abgelöst wurde. “Empire” kennt keine Territorien mehr, die erobert werden müssen. Es kennt überhaupt kein “Aussen” mehr. Alles bewegt sich in ihm und es bewegt sich selbst in Allem. Dies hat auch zur Folge, dass es kein eigentliches Zentrum mehr gibt. “Das ‘Empire’ arrangiert und organisiert hybride [gemischte] Identitäten, flexibele Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch modulierende [ständig wechselnde] Netzwerke des Kommandos” (11). Auch die Vereinigten Staaten, von vielen als die letzte Entscheidungsgewalt in der neuen Weltordnung gesehen, nehmen nicht die Stelle der alten Kolonialmächte ein und können das auch gar nicht. Sie sind ein (sicherlich wichtiger und auch oftmals störender) Faktor innerhalb eines sich noch bildenden Systems funktionalen Gleichgewichts, das im Weltmassstab ihrer eigenen Verfassung entsprechen soll. Auch nach dem Anfang der Kriege in Afghanistan und Irak nehmen Hardt und Negri diese Behauptung nicht zurück.

2. Wenn es kein Zentrum, sondern nur eine Vernetzung der Macht gibt, hat es auch keinen Sinn, die alte linke Forderung nach der Hegemonie der Politik über die Wirtschaft wiederholen zu wollen. Es ist fraglich, ob, wie das früher der Fall war, die Macht noch vor allem im Bereich der Politik zu suchen ist. Soweit es noch Politik gibt, redet man wohl nicht ohne Grund von einer “Führung ohne Regierung” (29, 336). In einer vernetzten und dezentrierten Zerstreuung der Entscheidungsprozesse sind Ökonomie, Politik, Kultur und Recht überhaupt schwer zu trennen – eine Einsicht, die die Accra-Definition anscheinend übernommen hat, wenn sie von einer “Konzentration“ (the coming together = das “Zusammenfallen”) verschiedener Gestalten der Macht redet (vergleiche für dieses “Zusammenfallen” Hardt/Negri, 55), obwohl sie es in ihrem Sprechen von einer “Dominanz mächtiger Staaten” auch wieder mehr oder weniger zurückzunehmen scheinen.

3. Zwar gibt es weltweit noch viel industrielle Arbeit, aber das Schwergewicht in der Produktion hat sich in andere Bereiche verlegt. Die wichtigsten Bereiche sind heute (303f.) einerseits die mit der Computertechnologie verknüpfte immaterielle – intellektuelle und sprachliche – Arbeit (Intelligenz: Problemerkennung, Problemlösung, Strategie), deren “Produkt” Information und Kommunikation ist, und andererseits die affektive Arbeit (die Herstellung intermenschlicher Kontakte, Gesundheitsdienstleistungen, aber auch die Unterhaltungsindustrie). Diese Arbeit ist ständig in Gefahr privat angeeignet zu werden (z.B. die kommerziellen Rundfunk- und Fernsehsender) und ist deshalb meistens in die Hände einer kleinen Gruppe Machthaber gelegt worden. Zugleich aber widersetzt die nicht-hierarchische und nicht-zentralisierte Art der Kommunikation innerhalb eines Netzwerkes sich einer solchen Aneignung (310f.). Man könnte sogar sagen, so meinen Hardt und Negri optimistisch, dass die Dominanz dieser neuen, kreativen und kommunikativen Formen der Arbeit von der spontanen Emanzipierungwelle der sechziger und siebziger Jahre ausgelöst wurde und, dass die kapitalistische Aneignung dieser Arbeit faktisch sekundär ist – und deshalb auch abgeschüttelt werden kann (278).

Die Alternative

Der Widerstand gegen “Empire” kann aufgrund dieser Analyse nicht mehr ein Kampf gegen die grenzenlose globale Vernetzung sein, die sich an einem bestimmten Ort abspielt und mit einem eindeutigen “Kämpfer-Subjekt” verbunden ist (58). Ein Konzept wie “der Aufbau des Sozialismus in einem Land” gehört definitiv der Vergangenheit an. Der Nationalstaat ist selber ein viel zu ambivalentes Phänomen, um als Grundlage einer Alternative funktionieren zu können. Er basiert auf einer “Souveränität”, die nach ihrer Art einen hierarchischen Anspruch enthält. Er setzt ein “Volk” als uniforme Grösse voraus, die es nicht ist, oder als zu uniformierende Grösse, die es nicht sein soll (115).

Stattdessen verwenden die Autoren die Kategorie “Menge” (multitude). Die Menge befindet sich innerhalb des “Empire”, sie ist seine Produktivkraft, und kann sich zugleich gegen das “Empire” richten (74). Sie ist gerade nicht uniformiert, sondern in ihr bestehen viele Differenzen – nach gender, sozialer Lage, kultureller Herkunft usw. – neben und mit einander, ohne das es notwendig oder sogar erwünscht, ist diese in eine sogenannte höhere Einheit aufzuheben. “Der menschliche Körper ist aus vielen Individuen (verschiedener Natur) zusammengesetzt, von denen jedes in hohem Masse zusammengesetzt ist”, so sieht das (spinozistische ) Leitbild der Menge als sozialer Körper aus.[4] Weil sie “zusammengesetzt” ist, brauchen die unterschiedenen Singularitäten (Eigentümlichkeiten), die sie bilden, nicht beseitigt zu werden, um doch gemeinsam operieren zu können. Die Menge befindet sich selbst immer innerhalb einer Vernetzung und es wird stets ein Zufall und eine Aufgabe sein, ob sie sich als eine Bedrohung für das “Empire” tatsächlich findet. In ihr gibt es die vielen Armen der Welt (169ff.), die Verweigerer (214ff.), die fysischen und geistigen Nomadinnen und die Migrantinnen (222ff.) sowie die “neuen Barbaren” innerhalb des Reiches (227ff.). Hardt und Negri sind nicht an erster Stelle interessiert an ihrem Elend und ihrem Leiden, sondern vor allem an ihrer Kraft, ihrer Überlebenskunst, ihren sprachlichen, mobilen und kreativen Fähigkeiten. Diese Eigenschaften sind die Bedingung der Möglichkeit einer wahrhaften Demokratie, in welcher die Menge überall in der Vernetzung des “Empire” auftauchen und die private Aneignung ihrer Energien unterminieren kann. Die Autoren wollen in ihren Büchern, die hauptsächlich philosophischer Natur sind, nicht sosehr den Entwurf einer solchen Demokratie skizzieren als vielmehr zu ihrer Denkbarkeit anregen.

Schwächen

Wie verlockend die Theorie von Hardt und Negri für manche, die sich nach einer weitreichenden Handlungsperspektive sehnen, auch sein mag, die Schwächen dieser Theorie dürfen nicht verschwiegen werden. Dabei können wir an die letzte Bemerkung zur Entfaltung einer weltweiten Demokratie als eine Möglichkeit im Denken und Handeln anknüpfen. “Das posse” – das lateinische Verb “können”, aber auch, bemerken Hardt und Negri spielerisch, substantivisch die Kraft einer Rap-Band – “bezieht sich auf die Macht der Menge und ihr Telos (Ziel), es verkörpert die Macht des Wissens und des Seins, die stets offen gegenüber dem Möglichen ist” (414). Schon im Spinozabuch Negris konnte man dieser Hauptthese begegnen: es gibt Macht als potestas (Autorität, Souveränität), die immer hierarchisch und eine Macht des Todes ist, und es gibt Macht als potentia, das posse in höchster Intensität, die eine Kraft des Lebens und der Selbstentfaltung des sich emanzipierenden Seins ist. Das heisst: Negri versteht die Demokratie, als Verwirklichung dieser Potenz, auf naturalistische und vitalistische Weise. Es ist die Natur, die sich äussert, es ist das Leben, das sich ausspricht. Aber, so kann man fragen, hat der Spinozist sich selber wohl recht verstanden, wenn er meint, seine Selbstentfaltung in der “Natur” begründen zu können? [5] Ist sein Verlangen nach einer nicht-hierarchischen und offenen Welt nicht selbst auch eine Position unter anderen, sagen wir: so etwas wie ein Glaubensbekenntnis? Die Verfasser der Accra-Erklärung haben es offenbar heimlich so verstanden, wenn sie Hardt/Negri und Bekenntnis mit einander verknüpften. Ist aber das Bekennen nicht eine Gestalt der Ausübung der potestas, ein Souveränitätsanspruch (wie z.B. die Aussage “Jesus, der Knecht, ist Herr!” das unverkennbar ist)?

Und man muss weiter fragen: wie ist es dann mit denjenigen, die in diesem naturalistisch begründeten Emanzipationsprozess nicht mitgehen wollen? Wie soll man sich verhalten zu den Singularitäten, die es sich verbitten, sich in den “zusammengesetzten sozialen Körper” der “Menge” einfügen zu lassen? Sind sie nur Verkörperungen der Kräfte des Todes? Findet die Demokratie als “absolute” Freiheit (92) hier dann ihre Grenze im Ignorieren der “Freiheit des anders Denkenden” (nach dem bekannten Wort von Rosa Luxemburg)? Es könnte sein, dass Demokratie erst hier wirklich schwierig wird, und das nicht nur, wie Hardt und Negri zu meinen scheinen, wegen der überholten Repräsentationsstrukturen des üblichen politischen Betriebs.

Ein Beispiel. Es ist bei ihrem Feiern der Grenzenlosigkeit und ihrem Widerwillen gegen eine Lokalisierung der Kämpfe nur konsequent, wenn Hardt und Negri die Menschenströme der Migrant/innen und Asylant/innen als solche und ohne jeden Abstrich begrüssen. Die Grenze zwischen den USA und Mexico, zwischen der EU und Marokko, zwischen Asien und “Arabia Felix”, diese schrecklichen Mauern des “Empire”, sollen abgebaut werden, um einen Exodus ungekannten Ausmasses zu ermöglichen (405). Schön wäre es! Als Einwohner eines Landes, in dem das soziale Klima sich nach den Morden an Pim Fortuin und Theo van Gogh sehr rasch verschärft hat, muss ich nicht daran denken, welche Reaktionen ein solches völlig “freies Strömen” bei der Mehrheit der Bevölkerung auslösen würde. Und plötzlich wird der heitere Optimismus der Autoren bei mir zum Alptraum.

Legion

Wir veranschaulichen uns die genannten Stärken und Schwächen nun anhand eines kursiv gedruckten Abschnitts aus der Fortsetzungsstudie Multitude: “dämonische Menge”.[6] Hardt und Negri interpretieren in diesem Abschnitt die Rolle, die die biblische Erzählung von den Dämonen, die in die Säue fuhren, in Fjodor Dostojewskis Roman “Die Dämonen” (1871-72) spielt. Der Titel des Romans ist dieser Erzählung, die ihm auch als Motto beigegeben ist, entnommen. Die Hauptfigur, der Witwer Stepan Werchowenski, hat in seiner scheinbar ruhigen Provinzstadt erfahren, wie eine kleine konspirative Truppe, von seinem eigenen Sohn Pjotr geleitet, erst die Stadtgemeinschaft in grosse Verwirrung versetzt hat, wonach einige sich selber umgebracht haben oder im Gefängnis bzw. im Exil gelandet sind. Er lässt sich am Ende des Romans, krank und fiebrisch, diese Erzählung vorlesen (Dostojewski zitiert die Fassung aus Lukas 8, 32-36). Und er sagt in grosser Aufregung: solche Dämonen verunreinigen schon lange unser Russland und sie, ja wir sind schon dabei, in die Säue zu fahren – aber der Kranke, das ist Russland, er wird sich zu den Füssen Jesu setzen und wird gesund werden! Hardt und Negri interpretieren das so: Stepan, und damit Dostojewski selber, sind von den vielen gesellschaftlichen Veränderungen in Russland seit der Abschaffung der Leibeigenschaft und dem Aufstieg radikaler Bewegungen in den sechziger Jahren sehr erschüttert. Die Dämonen, die sie zu sehen meinen, enthüllen vor allem etwas über ihre eigenen Ängste. Es ist darum vielsagend, dass in der biblischen Geschichte der Besessene, von Jezus gefragt nach seinem Namen, antwortet: “Legion”. Das bezeichnet wahrscheinlich eine destruktive Kraft, wie sie eine Römische militärische Einheit von ungefähr 6000 Soldaten tatsächlich in sich hat, aber der Name besagt mehr. Hardt und Negri weisen darauf hin, dass in der Grammatik des Evangeliumtextes singulare und plurale Subjekte einander ablösen (z.B. Lukas 8, 30: “ich heisse…”; Vs. 31: “sie – die Dämonen – baten ihn, dass er sie nicht hiesse in die Tiefe zu fahren”). Der eine Besessene ist zugleich viele (vgl. Markus 5, 9: “denn wir sind unser viele”). Sieh mal, sagen Hardt und Negri, da hat man “die Menge” (multitude). Die Ängste Dostojewskis beziehen sich auf eine von ihm als “dämonisch” erfahrene Menge, die zugleich eine und viele, zugleich eine Gemeinschaft und eine Reihe von Singularitäten ist.

Als Bibelauslegung enthält dieser Abschnitt in Multitude in meinen Augen einen beachtenswerten Vorschlag. Es lässt sich gar nicht ausschliessen, dass die biblischen Schriftsteller/innen die Dämonie im Land der Garasener bzw. Gadarener tatsächlich nicht sosehr als eine realistische Bezeichnung der dort wohnhaften unreinen “Heiden” (“Säue”) gemeint haben, sondern vielmehr als eine Wiedergabe der Projektionen und Ängste der Frommen. Dann könnte der Legion-Name u.A. bedeuten: “die Vorurteile und Befürchtungen über mich sind viele” und das Verschwinden der Säue in den See könnte die Perspektive verkünden: “die Vorurteile der Frommen haben ein Ende!”[7] Das ist ihre Stärke: die kommunistischen Philosophen erweisen sich als gute Exegeten.

Aber als Interpretation Dostojewskis besagt dieser Vorschlag doch wohl nur die halbe Wahrheit. Dostojewski wird auf diese Weise zwar als der politische Reaktionär, der er zweifellos in seinen späteren Jahren auch war, entlarvt. Aber was hat dieser Schriftsteller, wenn man ihn nur so liest, den Leser eigentlich noch zu fragen? Könnte es nicht sein, dass er, der doch selber eine Vergangenheit in der konspirativen Untergrundbeweging hatte, seinen ehemaligen Genossen etwas vorhält? Gemeint ist nicht ein endgültiges Urteil: “ihr Terroristen seid vom Teufel!”, sondern eine eindringliche Warnung: “wenn ihr so weitergeht, verfallt ihr den Dämonen!”[8] Die Schwäche Hardts und Negris könnte sein, dass sie solche kritischen Rückfragen nicht an sich heranlassen; weder in ihrer Dostojewski-Lektüre noch in ihrer politischen Theorie.

Nochmals: “Empire” in der Accra-Erklärung

Wir sahen am Anfang dieses Beitrags, dass der Begriff “Empire”, wie er von Hardt und Negri entwickelt wurde, unverkennbar einen bestimmten Einfluss auf die Erklärung der 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes ausgeübt hat, aber wir liessen noch unbestimmt inwiefern dies der Fall war und inwieweit dieses Konzept auch in Zukunft der ökumenischen Arbeit nützen kann.

Am Ende unserer Überlegungen scheint mir jedenfalls wichtig zu sein, die im Begriff “Empire” reflektierten einschneidenden Änderungen in der Weltlage zur Kenntnis zu nehmen. Für eine aktuelle Auslegung der biblischen Texte ist es von Bedeutung, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Welt des “Empire” eine andere Welt ist als die Welt der grossen antiken Imperien oder auch noch die des klassischen “Imperialismus”. Die “Anwendung” der alten Widerstandstexte auf unsere Situation kann also auch in dieser Hinsicht nur eine indirekte sein.

Dass die Kategorien Hardts und Negris dabei von ihrem (originellen) “Kommunismus” geprägt sind, braucht als solches für uns kein Problem zu sein. Warum auch sollte dieser “Kommunismus” einer guten Schriftauslegung nicht willkommen sein? Die Autoren vertreten übrigens ohnehin eine “schwache” Spielart des “Nihilismus” (= das Bewusstsein “nach dem Tode Gottes” zu leben), wobei sie meinen die “prophetische” Kunst der herkömmlichen Religionen, das Begehren der Menge zu wecken, positiv begrüssen zu können (Hardt/Negri 2003, 79). Insofern könnten sie auch von sich aus den Reformierten Weltbund in der Bildung der multitude willkommen heissen. Trotzdem bestehen zwischen “Empire”-Begriff und Accra-Bekenntnis Spannungen, die die Verbindung von beiden nicht ohne weiteres selbstverständlich machen. Einige seien hier genannt:

  •  Der genannte “Naturalismus” der Autoren beinhaltet auch eine radikale Leugnung jeder außerweltlichen Erlösung. Damit könnten sie wahrscheinlich einigen biblischen Aussagen im Accra-Bekenntnis über die Schöpfung an sich zustimmen – wie z.B., dass die Erde nicht zur privaten Aneignung da ist (Accra, 18. Paragraph), oder dass die Ökonomie eine Ökonomie der Gnade und damit richtiger Haus-halt zu sein hat (Accra, 20.) –, aber sie würden einen “Schöpfer”, der einen Anspruch auf seine Geschöpfe hat, vermutlich ablehnen. Sie befürworten das ni Dieu, ni maître (kein Gott, kein Meister) der Aufklärung (106), verweigern deshalb die Anerkennung jeglicher Autorität – auch die einer Gegen-Autorität – und können, wie wir sahen, damit auch ihre eigene Position nicht anerkennen als eine Reihe von Behauptungen, die ihrerseits auf Autorität Anspruch haben.
  •  Während der Mensch in der Accra-Erklärung als “Partnerin und Partner“ der Schöpfung und der Erlösung erscheint (Accra, 17.), schafft bei Hardt und Negri der Mensch – nach dem “Tode des transzendentalen Menschen” (ni l’homme: kein Mensch) – sich selbst, und zwar immer wieder neu (nämlich in der Produktivkraft der multitude, 104ff.).
  •  Während Accra im Namen der “Gerechtigkeit” spricht (16., 24. usw.), ist “Gerechtigkeit” im “Empire” eine ontologische Unmöglichkeit. Sie setzt ja ein objektives Mass voraus, während die neue Welt, in der es kein “Aussen” mehr gibt und eine unendliche Flexibilität herrscht, nur das “Unermessliche” kennt (362ff.).
  •   Was Hardt und Negri in den biblischen Überlieferungen fasziniert, ist die Idee der “Fleischwerdung” als die Aktualisierung der Potentialität der “Menge” (314), und dann auch die “Auferstehung des Fleisches”, als das Sehnen nach einer zukünftigen Kraft des Fleisches.[9] Aber das Fleisch wird bei ihnen nicht, wie bei Paulus und Johannes, geurteilt. Auch die Vorstellung des Leibes Christi, als eine gelungene Metapher für die Zusammensetzung der “Menge”, fasziniert sie. Ebenso können sie von einem “säkularen Pfingstfest” sprechen, wenn sie sich die gemeinsamen kommunikativen Fähigkeiten einer in sich sowohl sprachlich wie auch kulturell aus Singularitäten zusammengesetzten Menge vor Augen stellen (370).
  •  Die Menge ist, wie gesagt, eine Menge von Armen, Nomaden, Barbarinnen. Aber solche sozialen Gruppen werden von Hardt und Negri nicht in ihrer Schwäche, sondern immer in ihrer Potenz zur Sprache gebracht. Einem masochistischen Kult des Leidens gegenüber, wie dieser vom Christentum oft betrieben worden ist, kann man diesem nur beistimmen. Bei unseren spinozistischen Autoren aber ist dieser Akzent ein absoluter. Der Tod ist aus der Philosophie verbannt (92) und Tränen über die Zerstörung, die der Kapitalismus fortwährend überall auf der Welt mit sich bringt, sind unpassend (313). Nur die Freude, die eine Freude am (produktiven) Sein ist, bleibt (420; übrigens mit einer Berufung auf die Freudigkeit des Franz von Assisi). In dieser Hinsicht scheint Accra doch eine andere Sprache zu sprechen.

Diese Spannungen erfordern eine nähere Erklärung, die sie zum Teil vielleicht auch abmildert. Aber auch dann werden wichtige Differenzen bleiben. Die biblische Theologie, und damit das Bekennen der ecclesia kennt nun einmal ihre eigene kritische Blickrichtung, die sich nicht leicht in einen allgemeinen Diskurs, auch nicht in einen allgemeinen subversiven Diskurs, auflösen lässt. Die ecclesia kann nicht unterlassen, zu zeugen (1) von dem Ruf der Armen, der eine verbindliche Autorität für sie hat; (2) von einem “wirklichen Menschen”, nämlich einem messianischen Menschen, der ihr geschenkt worden ist; (3) von einem Namen, der zwar keine kosmische, ontologische Ordnung der Gerechtigkeit garantiert, der sich aber in der Beschränkung und der Konkretion seiner Taten sehr wohl als gerecht erweist; (4) von einem Kampf, der den Kampf nach innen, d.h. den Kampf um eine Askese der Reichen und den Kampf gegen das eigene Nichtwollen der Befreiung, mit einschliesst; (5) von einer Sensibilität, die dem gewalttätigen Leiden und Tod gegenüber zu sagen wagt: es darf nicht sein und es wird nicht sein. Vielleicht wird gerade ein solches Zeugnis ein Erweis der Singularität von durch die biblische Sprache geprägten Menschen in der Bildung einer gemeinsamen, aus ganz unterschiedlichen Singularitäten zusammengesetzten “Menge” sein.

Rinse Reeling Brouwer


[1] Hardt/Negri, Empire, Cambridge, Mass. (Harvard University Press) 2000; zitiert wird hier die Deutsche Übersetzung: Empire. Die neue Weltordnung. Durchsehene Studienausgabe, Frankfurt/New York (Campus Verlag) 2003.

[2] L’anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza, Milan 1981. Übers. Die wilde Anomalie: Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin (Wagenbach) 1982.

[3] Multitude. War and Democracy in the age of empire, London/New York (Pinguin) 2004; Übers. Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/New York (Campus) 2004.

[4] Spinoza, Ethica, Buch II, propositio 13, postulata 1. Zitiert in Hardt/Negri 2004 (eng. ), 190. In den politischen Schriften Spinozas bedeutet multitudo übrigens weniger die Menge der Armen usw. als die vernünftige Bürgerschaft.

[5] Zu dieser Kritik siehe Marin Terpstra, De wending naar de politiek. Een studie over de begrippen ‘potentia’ en ‘potestas’ bij Spinoza, Nijmegen 1990.

[6] Hardt/Negri 2004 (eng.), 138-140: “Demonic multitudes: Dostoyevski reads the bible”.

[7] Diese Möglichkeit ist auch zu finden bei Th.J.M. Naastepad, Menswording. Uitleg van het evangelie naar Markus, Baarn 2000, 117-123.

[8] Vgl. Bastiaan Wielenga, Lenins Weg zur Revolution, München 1971, 328.

[9] Hardt/Negri 2004 (engl.), 158-159: “De corpore”; “the power of the flesh”.

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R.H. Reeling Brouwer

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