• ‘“Es (das Wort) will reden, zu jeder Zeit, in jede Zeit, jeder Zeit zum Trotz“ (Buber)‘, in: Andreas Bedenbender, Julia Lis, Philipp Geisthais (hgg), Hoffen wider alles Hoffen. Festschrift für Dick Boer, den Freund und Genossen zum 80. Geburtstag, Münster: ITP & Dortmund: Lehrhaus e.V., 2019, 129-131.

„Es (das Wort) will reden, zu jeder Zeit, in jede Zeit, jeder Zeit zum Trotz“ (Buber)[1]

Nach Theodor Adorno sollte Walter Benjamin für sein Passagen-Werk (‚Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‘) eine Methode der ‚schockhaften Montage des Materials‘ vorgeschwebt haben, also als reine Zitatmontag.[2] Auch mein Beitrag bietet eine solche Zitatmontage, aber unterbrochen von kommentierenden Sätze, die die Verbindungen zwischen ihnen herstellen sollen. Die (neun) Zitate sollen den Raum abstecken, in dem der Leser oder Leserin sich einen Ort wählen oder auch, zwischen den verschiedenen Orten wechselnd, einen eigenen Ort suchen kann.

Philipp Melanchthon, Loci communes 1521, aus dem Widmungsbrief ‚dem frommen wie gelehrten Mann D. Tilemann Plettener‘

Wir fangen im Herz der Reformationsbewegung an. Philipp Melanchthon hatte 1518 als Professor für Griechisch seine Vorlesungstätigkeit angefangen. Nachdem der vom Reichstag vogelfrei erklärte Luther 1521 auf die Wartburg untergebracht war, mußte er (als 24jähriger) praktisch als dessen Stellvertreter auftreten. Das beinhaltete dann auch eine große theologische Verantwortlichkeit. Um die Befugnis zu kursorischer Lektüre biblischer Schriften zu bekommen, erwarb Melanchthon schon 1519 den theologischen Grad eines Baccalaureus Biblicus. Es war üblich, auch als Baccalaureus Sententiarius aufzutreten, d.h. als Erklärer des Sentenzen Kommentars des Petrus Lombardus (ungefähr 1150). In diesem Kommentar wurden Sätze der Kirchenväter verglichen und beurteilt. Aber beim Studium dieses Kommentars wurde er sehr enttäuscht. Als er in seinen Vorlesungen zum Römerbrief einige erklärende Notizen machte, ausdrücklich als Hilfe bei der Lektüre des Apostelbriefes gedacht, beschwor er, dass er mit diesen loci communes keinen Kommentar gemeint habe, sondern nur einige biblisch-theologische Grundworte zum Behuf einer besseren Lektüre der Bibel bieten wollte. Und dann sagt er in seinem Widmungsbrief:[3]

‚Ich wünsche nichts so sehr, als daβ – wenn irgend möglich – alle Christen sich möglichst frei nur in der heiligen Schrift umtun und völlig in ihre Wesensart umgestaltet werden. Denn da die Gottheit ihr ihr vollkommenstes Bild eingeprägt hat, wird sie anderswoher weder sicherer noch näher erkannt werden. Es täuschst sich, wer sich anderswoher die Wesensgestalt des Christentums zu beschaffen sucht als aus der kanonischen Schrift.‘

Es geht also erstens um die Freiheit: Jeder Christ soll sich völlig frei in der Welt der Schrift bewegen können. Zweitens geht es – und das ist sehr wichtig – um Transformation. Man kann sich die Schrift nicht wirklich aneignen, ohne ‚in ihre Wesensart umgestaltet‘ zu werden. Daraus folgt, daβ diese Umgestaltung nirgendwo anders zu haben ist – sicherlich auch nicht in den scholastischen Kommentaren, die zwar vorgeben die Lehre der Schrift wiederzugeben, aber das faktisch gerade nicht tun. Ist doch die forma (in aristotelischem Sinn: die Wesensgestalt) des Christentums nirgend anderswoher zu beschaffen als aus der kanonischen Schrift. Und damit wird auch der Grund dieses  ‚nirgend anderswoher‘ bekenntnismäßig angedeutet: die Gottheit hat nur ihr (der Schrift) ihr imago (Bild) eingeprägt. Dieser Gottheit soll der Leser ‚anhaften‘ (Gen. 2, 24, nach Buber/Rosenzweig), um es biblisch zu sagen.

Johannes Calvin, aus seinem Entwurf zu den Anfangsartikeln der Confessio Gallicana (1559)

Dem Streben der französischen reformierten Minoritätskirche zur Identitätsbildung mittels einer eigenen Konfession stand Johannes Calvin sehr zögernd gegenüber. Er fürchtete Böses, wie es sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auch tatsächlich in sehr gewalttätigen Bürgerkriegen vollzogen hat. Dennoch war er, wenn die illegale Synode zu Paris einen solchen Text dann doch unbedingt aufstellen wollte, bereit einen Entwurf dazu einzureichen. Die Synode hat diesen Entwurf in der Confessio Gallicana auch tatsächlich übernommen, mit der Ausnahme aber der beiden ersten Artikel.[4]

In der reformatorischen Bewegung gab er bis Calvin zwei Traditionen, wie ein Glaubensbekenntnis anfangen sollte. Erstens gab es das Vorbild der Augsburger Konfession (1531). Melanchthon hatte in der Anwesenheit des Kaisers vor allem betont: wir wollen die Kirche zwar reformieren, aber wir sind keine häretischen Neuerer, aber wir lehren, in Übereinstimmung mit dem Nicänischen Konzils, den einen und dreieinigen Gott. Zweitens die Linie, die man (wahrscheinlich vor allem Guillaume Farel) bei der Genfer Konfession 1537 gefolgt war: 1. das Wort Gottes (das ist die Schrift), 2. der eine Gott (und 3. Das Gesetz Gottes).[5] Calvin scheint in seinem ersten Artikel bei Farel anzufangen und im zweiten mit Melanchthon fortzufahren, aber er macht es so, dass der erste Artikel – über die Schrift – schon den zweiten – über den einen und dreieinigen Gott – vorbereitet, und den zweiten sich als Schlussfolgerung aus dem ersten lesen lässt. Calvins Vorschlag lautete:[6]

  1. ‚Weil, wie Sankt Paulus sagt, das Fundament des Glaubens das Wort Gottes ist (Röm. 10, 17), glauben wir, dass der lebendige Gott sich in seinem Gesetz und durch seine Propheten, und schließlich im Evangelium (Heb. 1) manifestiert, und dass er Zeugnis seines Willens abgelegt hat so viel wie es für das Heil des Menschen ausreichend ist. Also halten wir die Bücher der heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testamentes für die Summe der einzigen unfehlbaren Wahrheit, die von Ihm ausgeht, der zu widersprechen nicht erlaubt ist. Weil sogar die vollkommene Richtschnur aller Weisheit darin enthalten ist, glauben wir, dass es nicht erlaubt ist etwas dazuzutun noch etwas davonzutun (5 Mose 12, 32; Off. 22, 18.19), sondern dass man ihr in Allem und durch Alles beistimmen soll. Nun denn, weil diese Lehre ihre Autorität weder  Menschen noch Engeln entnimmt, sondern Gott allein, glauben wir auch (da es eine Sache ist, die dem menschlichen Verständnis übersteigt, zu unterscheiden, dass Gott es ist, der redet), dass er allein seinen Erwählten die Gewissheit davon schenkt, und sie in ihren Herzen durch seinen Geist versiegelt.‘ [7]

In den beiden ersten Absätzen wird bekannt, dass das Wort Gottes in der Schrift, als Summe der göttlichen Wahrheit und als vollkommene Regel der Weisheit, für die Erkenntnis des Heils ausreicht. Im dritten Absatz wird bekannt, dass die Anerkennung der Autorität der Schrift selbst nur eine göttliche Gabe sein kann. Diese Anerkennung kommt darin zum Ausdruck, dass es nur der Heiligen Geist sein kann, der in den Herzen der Menschen wirkt und der das Wort als Wort Gottes wiedererkennen kann.[8] Beim Hören des Wortes der Schrift begegnen sich das Wort an den Menschen und der Geist Gottes im Menschen. Diese Korrelation von Wort und Geist kommt auch in der reformierten Liturgie zum Ausdruck und zwar im Gebet um die Erleuchtung des Geistes am Anfang der Lesung der Schrift, ein Gebet, das die klassische collecta ersetzen soll.

Und aus dieser hermeneutischen Perspektive der Korrelation von Wort und Geist im Vorlesen der Schrift in der Gemeinde, spricht Calvin dann, von der Dreieinigkeit Gottes:

  • ‚Auf diese Weise fundiert, glauben wir an einen einzigen ewigen Gott, dessen Wesen geistlich, unendlich, unbegreiflich und einfach ist; dennoch gibt es darin drei unterschiedenen Personen: der Vater, sein Wort oder seine Weisheit, und sein Geist. Und obwohl der Name Gottes meistens insbesondere dem Vater zugesprochen wird, insoweit er das Prinzip und der Ursprung seines Wortes und seines Geistes ist, schließt dies doch keineswegs aus, dass der Sohn in sich selbst die ganze Gottheit in Vollkommenheit innehat, wie auch der Heilige Geist, insoweit jeder dasjenige was dem eigenen Person eigen ist auf einer solchen Weise besitzt, dass das einzige Wesen dadurch keineswegs geteilt wird. Und damit bekennen wir dasjenige, das von den alten Konzilien ist festgestellt, und verachten wir alle Sekten und Häresien die von den heiligen Lehrern, von Sankt Hilarius und Sankt Athanasius bis zum Sankt Ambrosius und Sankt Cyrill, verworfen sind.‘[9]

Also war Calvins Reden von der Schrift im ersten Artikel schon trinitarisch, wie sein Reden von der Trinität hier im zweiten Artikel noch hermeneutisch ist. Die Trinitätslehre ist kein metaphysisches Konstrukt, sondern eine Umschreibung dessen, was geschieht, wenn Gott und Mensch einander begegnen im Hören und Verstehen der Bibel. Das nächste Zitat geht auf diese Konstellation näher ein.

K.H. Miskotte, ‚Das Problem der theologischen Exegese‘ (1934 / 1936 / 1948)

Im Jahr 1934 schreibt Miskotte einen programmatischen Aufsatz zur ‚theologischen Exegese‘. Darin nützt er auch die Schriften zur Bibel von Franz Rosenzweig und Martin Buber, die er in seiner 1933 erschienenen Dissertation zum Wesen der jüdischen Religion thematisch noch nicht verarbeiten konnte. In 1936 erschien eine deutsche Übersetzung des Aufsatzes teilweise in der Festschrift zum Karl Barths 50. Geburtstag. Und im Jahr 1948 nahm er den Text in einer überarbeiteten und erweiterten Gestalt in seinem großen hermeneutisch-homiletischen Werk Om het levende Woord auf. Der folgende Abschnitt ist dem Paragraphen zu der Bibel als Wort Gottes entnommen.[10]

[1936] ‚Die Schrift ist Gottes Wort. […] Es kommt jedoch darauf an, daβ wir diesen Ausdruck ‚Wort‘ selbst biblisch verstehen. Nur wer Wort nimmt in dem Sinn von dabar […] geht bei der Anwendung dieser These, die mehr ist als These, nämlich Glaubensbekenntnis, sauber zu Werken. Obwohl in dem Schriftglauben mit gegeben ist, daβ der Inhalt der Schrift wahr ist, weil und wie sich selbst als Wahrheit gibt […], so hat doch dieser ‚Inhalt‘ an und für sich nicht die Macht, unsere Gedanken gefangen zu nehmen und zum Gehorsam zu leiten ohne das testimonium Spiritus Sancti, das sich bezieht auf die Schrift als auf das aufgerichtete Zeichen einer Offenbarung, die war und die kommen wird und siehe, sie ist da, wieder und wieder, wo es Gott beliebt.‘[11]

[1948 hinzugefügt] ‚Der Ausdruck ‘das Wort‘ ist selbst ein (wenn man so will östlich-magischer) Anthropomorphismus; gerade so soll man ihn zum Verständnis dessen, was er als Qualifizierung der Schrift bedeutet, ernst nehmen. Dabar ist diejenige Macht, durch welche die Welt jeder menschlichen Erklärung und Verfügung entzogen wird; welche aber zugleich dem Menschen ‚entdeckt‘, was es mit ihm auf sich hat, und als solche über ihn verfügen will. Dabar ist dieses überlegene Geschehen, in welchem Faktum und Sinn eins sind. Er ist die Tat, die spricht und das Wort, das eingreift; in ihm singt die Sache, die mitgeteilt wird; und der Gesang, der sich erhebt, ist die Seele der Sache; und das Ganze dieses tatsächlichen Sprechens muss nirgendwo neutral, aber immer schöpferisch gedacht werden, nirgendwo als eine unpersönliche Wahrheit oder als ein in sich ruhendes Faktum, sondern immer als auf einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation gerichtet, als immer voller ‚Tendenz‘, darauf aus den Menschen und das Volk aus ihren selbstgewählten  Positionen zu vertreiben.

Unserer Ansicht nach ergibt sich aus einem sauberen Nützen des Sinnes von dabar eine unmittelbare Korrektur der Lehre des testimonium Spiritus Sancti. Diese Lehre ist nur insofern heilsam, wenn sie im Einklang mit dem Wirken des Geistes im Allgemeinen, das „extern“ heiβen muss, verstanden wird. Dieses kann uns nur trocken, kalt und weitab vorkommen, solange man die Schrift als ein in sich ruhendes Ding auβer uns betrachtet, welchem dann in unserer Seele wenigstens eine Grunderfahrung, ein mystisches Ureinsicht entsprechen soll. Unsere These geht aber gerade an diesem Schema vorbei.‘[12]

Es ist bemerkenswert, wie Miskotte, von jüdischen Zeugen belehrt, versucht ein neues philologisches Verständnis von dabar als Interpretationsmedium der reformatorischen Lehre vom Wort Gottes, wie sie von Karl Barth erneuert ist, zur Geltung zu bringen. So kann er rationalistische und gesetzliche Missverständnisse dieses Wortes vermeiden und korrigieren. Und er wird lyrisch: dabar ist immer ein schöpferisches Geschehen, worin Faktum und Sinn, Sache und Gesang, eins sind und die Menschen aus ihren selbstgewählten Positionen vertrieben werden – aufs Neue erscheint hier das Melanchthonischen Element der Transformation, die das Wort bewirkt.

Im Text von 1934/1936 beruft Miskotte sich noch auf der altreformierten Lehre des inneren Zeugnisses des Geistes, um zu zeigen wie gerade im Geist die Inhalt des Wortes zu einer Macht wird, die unsere Gedanken gefangen nimmt und zum Gehorsam leitet. Im Jahr 1948 aber behauptet er, dass das richtige Verständnis von dabar gerade auch eine Korrektur dieser überlieferten Lehre enthält. In dieser droht nämlich die Wahrheit des Wortes objektivistisch (als ‚ein in sich ruhendes Ding auβer uns‘), die Wirkung des Geistes (als ‚eine Grunderfahrung der Seele‘) subjektivistisch missverstanden zu werden. Tatsächlich lassen sich in der reformierten Geschichte auch Tendenzen aufzeigen, wo das innere Zeugnis des Geistes entweder (pietistisch) als das ‚eigentliche‘ Erfahren, quasi am Wort vorbei, oder  (aufgeklärt)[13] als ein Zeugnis des menschlichen Geistes, der das Wort nachprüfen und beurteilen kann, verstanden wird. Aber in der Abwehr solcher Tendenzen droht Miskotte seinerseits – eigentlich eher lutherisch als reformiert –, die ganze Selbständigkeit des Geistes in die Wirklichkeit des dabars aufzulösen. Als Warnung dagegen sei das nächste, kurze, Zitat angeführt.

Martin Buber, aus: ‚Der Glauben der Propheten‘ (1941)

Wenn Buber in dieser Arbeit, am Anfang des Zweiten Weltkrieges für ein religionsgeschichtliches Handbuch geschrieben, das Auftreten des früheren Propheten Samuels inmitten der anderen nebiim bespricht, definiert er die Prophetie als ein Niederfahren von Etwas aus der göttlichen Sphäre auf den Menschen. Dieses ‚Etwas‘ kann dabar sein oder ruach, ohne, dass dabar und ruach sich gegenseitig ausschlössen:[14]

‚Dabar oder Ruach, Logos oder Pneuma, Wort oder Geist. Diese beide sind nicht streng geschieden. Der Dabar ersetzt den Ruach nicht, sondern tritt zu ihr. Wer biblisch in der Vollmacht steht, hat erst die Ruach erfahren, dann den Dabar empfangen.‘

Vielleicht war Buber in den Augen Miskottes doch noch zu viel ein geisterfüllter Mystiker. Dennoch meinte Buber selbst offenbar, dass nach seinem Verständnis der dabar den ruach nicht völlig in sich aufsog. Und das halte ich für eine wichtige Korrektur der (Miskotteschen) Korrektur (der reformierten Tradition).

Wir wenden uns jetzt der Frage der Autorität der Schrift zu.

K.H. Miskotte, Das biblische ABC (1941 / 1966)

Das biblische ABC ist entstanden, als sich im zweiten Jahr der Nazi-Besatzung der Niederlande eine stille Laienbewegung anbahnte. Die Bibel wurde ihr wichtig als die letzte Linie, auf der der Einsatz für die Humanität zu halten war. Für die ‚Kader‘ bot der Amsterdamer Pfarrer Miskotte einen Kursus an  über die Grundbegriffe und die Hauptlinien, die der Bibel eigentümlich sind.  Typisch war, dass die Absicht dieses Kursus  eher phänomenologisch als unmittelbar theologisch war.

Im ersten Kapitel (1941: ‚Das Lesen der Schrift‘; spätere Editionen: ‚Der Umgang mit dem Buch‘) spricht er von der Autorität der Schrift. Es ist offensichtlich, dass der Text sich im Sommer 1941 mit den Autoritätsansprüchen des totalen Staates und einer heidnischen Weltanschauung auseinandersetzt. Bei einer Neuauflage des Buches im Jahr 1966 war die Situation eine andere. Im Kontext der emanzipatorische, neu-aufklärerische und neu-romantische ‚antiautoritäre‘ Jugend- und Studentenbewegung war nicht eine andere, sondern die Autorität als solche eine verdächtige Angelegenheit. Diese Situation erforderte zusätzlich noch eine andere Weise der Verantwortung. Lesen wir beide Textfragmente, sowohl der ursprüngliche wie die additionale Intervention:[15]

[1941] ‚Aber nun die Gefahr […], daβ wir reden und reden und an unser eigenes Gerede und Rechthaben oder Rechthabenwollen glauben, bevor wir, jeder für sich und alle gemeinsam, gesehen haben, daβ

die Autorität vorangeht.

Denn das würde bedeuten, daβ wir, einsam gewordene, preisgegebene Erdenkinder, erneut in unserer Einsamkeit gelassen würden und uns selbst erziehen müβten, statt erzogen zu werden, uns selbst einen Weg durch den Wirrwarr der Meinungen zu bahnen hätten, statt übergesetzt zu werden in die Welt, in das Reich dessen, der der „Gott alles Fleisches“ (4. Mose 16,22) heiβt.

Selbsterziehung ist keine Erziehung; wir können nicht zur Schrift kommen, wir müssen von ihr ausgehen. Dann ist eine fruchtbare Bewegung nach allen Seiten in das unermeβliche Leben hinein möglich, aber wir müssen zuvor unsere Position wählen oder vielmehr (da es hier im Ernst nichts zu wählen gibt) dazu erwählt werden, im Herzen dieser Wahrheit und der Wirklichkeit unsern Platz zu beziehen. Gewiβ ist es hundertmal einfacher, die Autorität der Schrift zu begründen, als etwa diejenige des totalen Staates oder dieser oder jener heidnischen Weltanschauung. Und doch darf das nicht geschehen, weil es in letzter Instanz nicht geschehen kann. Gottes Wort wäre nicht das Wort Gottes, wenn eine Ableitung und Begründung seiner Autorität möglich wären. Die Autorität geht vorauf! Aber nun auf der anderen Seite, positiv: was ist nötig? Was schneidet unserer üblen Neigung, mittels der Bibel uns selbst zu rechtfertigen, den Weg ab und bewahrt uns vor privatisierenden, sektiererischen Strebungen?‘

[1966] ‚Wie finden wir unter und aus Autorität echte Freiheit? Was ist imstande zu verhindern, daβ wir diese Autorität miβverstehen? Autorität [das, was das Sagen hat[16]] ist hier identisch mit dem Gesagten selbst, sofern dieses sich und in seiner eigenen Art anbietet. Sie wird uns nicht auferlegt, sondern angeboten. Sie tritt ans Licht und zieht uns zum Licht. Die Art und Weise, in der sie uns mit Beschlag belegt, gleicht mehr derjenigen eines Kunstwerkes als der einer verstandesmäβigen Darlegung. Sie gewinnt unser Herz nicht, indem sie es unterwirft, sondern indem sie es befreit.

Die Schrift beraubt uns nicht unserer Selbständigkeit, sondern sie bedeutet eine Einweihung in deren höhere Ursprünglichkeit. Das Gesagte kommt dabei in einer Einfalt zu uns, die unsere Komplikationen beschämt.‘[17]

Um zu verstehen, was hier gemeint ist braucht es eine nähere Worterklärung. Der Begriff ‚Autorität‘ hat eine komplizierte Geschichte. Im römischen Privatrecht bedeutet es das Befugnis eines auctors, z.B. eines pater familias, einen Akt eines Subjektes, das nicht rechtsgültig handeln kann, zu legitimieren, d.h. zu ‚autorisieren‘. Diese ‚Autorisation‘ erfolgt also nachträglich.[18] Aber von einer solchen ‚Autorisation‘ lässt sich schwerlich behaupten, dass sie ‚vorangeht‘. Das niederländische Wort gezag hingegen, hängt etymologisch zusammen mit ‚sagen‘. Es besagt hier, dass Gott das erste Wort hat (EG 199). Für die antiautoritäre Bewegung hat dieser Befund übrigens nichts ausgemacht: sie richtete sich in den Niederlanden ebenso sehr gegen ‚het gezag‘ als sie sich anderswo gegen ‚die Autorität‘ richtete. Aber in seinem Text spielt Miskotte (vor allem in 1966) sehr wohl mit diesem Befund, in Sätze wie: ‚das, was das Sagen hat, ist hier identisch mit dem Gesagten selbst‘. Der formale Anspruch auf Autorität ist damit auf dem Inhalt des Gesprochenen gegründet, sind doch beide in einem ‚das Wort‘. Und gerade diese, sprachlich-phänomenologische, Beobachtung bietet Miskotte die Möglichkeit, im biblischen (und reformatorischen) Sinne zu erörtern, wie ‚gezag‘, das dem Menschen anspricht, die Befreiung zur Freiheit des Menschen nicht frustriert, sondern gerade inauguriert.

Frans Breukelman, Biblische Theologie I/1 (1980)

Im zitierten Text Calvins (Zitat nr. 2) lagen ‘la parole de Dieu’ und ‘les livres de la saincte Escripture’ dicht beieinander. Auch Miskotte (in Zitat nr. 3) übernahm zwar den Ausdruck ‘Die Schrift ist Gottes Wort‘, wenn er auch das, was Wort besagt, neu interpretierte, ohne sich jedoch (jedenfalls im gewählten Fragment) zum Verhältnis von Wort und Schrift zu äußern. Bekanntlich hat Karl Barth (1927, 1932-1938) eine Lehre der ‚Dreifachen Gestalt des Wortes Gottes‘, entfaltet, die zum Teil auch schon bei Luther zu finden war. Im jetzt folgenden Fragment aus dem einleitenden Teil seiner Biblischen Theologie weist mein Lehrer Frans Breukelman aber hin auf eine dreifache Gefahr im Verhältnis der drei Gestalten zueinander.[19]

Die Offenbarung

Die Schrift                             Die heutige Auslegung

‚Wegen der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes – die Offenbarung, die Heilige Schrift und die Verkündigung der Kirche – gibt es drei Möglichkeiten fataler direkten Identifikation. Die erste ist die der Offenbarung mit der heiligen Schrift, wie wir diese in der Theologie der protestantischen Orthodoxie (1560-1720) finden. Die zweite ist die der Offenbarung mit der Tradition der ecclesia docens, wie sie in der klassischen römisch-katholischen Theologie gefunden wird. Die dritte aber ist die direkte Identifikation der Schrift mit der kirchlichen Verkündigung, und mit dieser haben wir in vielen modernen Bibelübersetzungen zu tun. Dadurch wird die Differenz zwischen dem Sprechen der Propheten und Apostel und dem Sprechen der heutigen Gemeinde zunichte gemacht. Indem man aber die Propheten und die Apostel zwingt, als Zeugen der Offenbarung in einer Übersetzung zugleich auch dem modernen Menschen direkt anzureden – das, was aber nicht ihnen, sondern uns aufgetragen ist –, können sie uns nicht mehr hören lassen was sie uns (auch in einer Übersetzung) hören lassen wollten. Uns ist es damit unmöglich gemacht, den Menschen unserer eigenen Zeit, in einer Sprache die sie verstehen können, die Tendenz und die Tragweite des Zeugnisses der Propheten und Apostel zu erhellen, wenn wir das tun sollen aufgrund einer Übersetzung in der sie in unserer Sprache ihre eigene Sprache nicht mehr sprechen dürfen.

Das Verhängnisvolle dieser drei genannten Identifikationen liegt darin, dass es für den Geist und dann auch die unentbehrliche Phantasie keinen Spielraum mehr gibt.‘[20]

Die erste von Breukelman aufgewiesene und kritisierte Identifikation ist die der ersten Gestalt des Wortes (die Offenbarung, obenan im Dreieck) mit der zweiten Gestalt (die Schrift, unten links). Ein berüchtigtes Beispiel davon ist die Helvetische Konsensformel von 1675, wo berühmte Schweizer reformierten Theologen wie Fr. Turrettini (Genf) und J.H. Heidegger (Zürich) sich gegen die textkritischen Befunde von Gelehrten wie Louis Cappel (Saumur) wendeten und feierlich erklärten (aber nicht publizierten!), dass die Vokalzeichen des masoretischen Textes des Alten Testaments immer schon vom Heiligen Geist an die biblischen Autoren diktiert worden waren.[21] Die Formel ist übrigens schon rasch von einer nächsten, aufgeklärten Generation (und nach Wunsch des, ebenfalls reformierten, Königs von Preußen) wieder zurückgenommen. Die ‚Chicago Statement on Biblical Inerrancy‘, Produkt einer internationalen Konferenz evangelikaler Kirchenleiter, hat aber noch im Jahr 1978 daran festgehalten.

Die zweite Identifikation ist die der ersten Gestalt des Wortes (oben) mit der Tradition der ecclesia docens (unten rechts), wie sie in der tridentinischen römisch-katholischen Kirche vom kirchlichen Lehramt, und insbesondere vom Papst, betreut wird. Seit der dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung Dei Verbum ist das Verhältnis der beiden Gestalten bei Rom aber weitgehend als ein Asymmetrisches erklärt worden.

Die dritte Identifikation, die Breukelman ins besondere diagnostiziert und womit er sich immer wieder auseinandersetzt, ist die neuprotestantischen Gleichschaltung der zweiten Gestalt des Wortes (der Schrift, unten links) mit der dritten Gestalt (der kirchlichen Verkündigung, unten rechts). Insbesondere in Übersetzungen der Bibel wird die eigene Sprache und Botschaft der Bibel als mit der der eigenen Gefühle, Überzeugungen und Meinungen ohnehin verwandt betrachtet und es deshalb für überflüssig gehalten, diese eigene Sprache in der Übersetzung speziell zum Ausdruck zu bringen. Die Schrift hört dann auf, das kritische Gegenüber der heutigen Stimmungen zu sein.

Der letzte Absatz des Zitats, in welchem Breukelman seine positive Intention darlegt, fasziniert mich. Die drei Identifikationen, so bemerkt er, laufen alle Gefahr, dass sie die Freiheit des Heiligen Geistes einzuschränken drohen. Es ist aber notwendig, dass es ‚für den Geist und dann auch für die unentbehrlichen Phantasie Spielraum gibt‘. Gerade auch eine Übersetzung, die nicht bloß sagt was wir uns selbst auch schon sagen könnten, ladet uns ein, jetzt selber zu sagen was nur wir heute sagen können, und zwar um es geistreich und phantasievoll zu sagen.

Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz (1967)

Aber, kann man fragen, gibt die Schrift uns überhaupt noch die Möglichkeit, auf ihrem Zeugnis mit einem eigenen Zeugnis und mit eigener Phantasie zu reagieren? Ist die Schrift als eigenständiger Gegenstand für uns überhaupt noch aufweisbar? Der französische Philosoph Jacques Derrida hat das in seinem Programm einer ‚Dekonstruktion‘ aller unseren Identifikationen mit gegebenen Texten ernsthaft in Frage gestellt. Wir müssen seine Stimme hören, weil sie die geistige Beschaffenheit vieler unserer Zeitgenossen (und auch unsere eigene Beschaffenheit?) zu artikulieren scheint.

Die Zitate sind aus dem Aufsatz ‚Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch‘ genommen.[22] Jabès, in einer frankophonen jüdischen Familie in Ägypten geboren, wurde von dort im Jahr 1956 vertrieben und arbeitete in Paris. Unter seinen Gedichten und weitere Arbeiten nehmen die sukzessiven Teile von Le livre des questions (auf dessen Teilen I-IV Derrida hier reflektiert) eine besondere Stelle ein. Der Jude fragt, er kann nicht anders. Er befragt seine Tradition, er befragt sich selbst. Dabei ist Jabès (ebenso wie seine Freunde, z.B. Paul Celan) geprägt von der tief eingreifenden Erfahrung des Exils seines Volkes, wie sie in der Kabbala zum Ausdruck kommt. Der Anfangspunkt, das Woher? ist verloren gegangen und wird nicht mehr wiedergefunden. Es bleibt nur die Zerstreuung übrig. Und gerade dort ist der Dichter zu situieren.

‚Zwischen den Bruchstücken der zerbrochenen Tafel [Ex. 32, 19] wächst das Gedicht und fasst das Recht zur Rede Wurzel. Damit hebt das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut wieder an, weit von „der Heimat der Juden“ entfernt, die „ein heiliger Text inmitten der Kommentare ist“. Die Notwendigkeit des Kommentars ist wie die poetische Notwendigkeit, die Form selbst der Rede im Exil. Am Anfang steht die Hermeneutik.

Diese gemeinsame Unmöglichkeit, in die Mitte des heiligen Textes einzutreten, wie auch diese gemeinsame Notwendigkeit der Exegese, dieser Imperativ der Interpretation, wird vom Dichter und vom Rabbiner unterschiedlich interpretiert. Die Differenz zwischen dem Horizont des ursprünglichen Textes und der exegetischen Schrift läßt die Differenz zwischen dem Poeten und dem Rabbiner unüberbrückbar werden. […]. Die ursprüngliche Eröffnung der Interpretation bedeutet im Wesentlichen, daβ es immer Rabbiner und Dichter geben wird. Und zwei Deutungen der Interpretation.‘[23]

Die zwei Tafeln des Gesetzes sind von Gott selbst beschrieben, ‚und die Schrift, Schrift Gottes sie, gegraben in die Tafeln‘ (Bubers Übersetzung von Ex. 32, 16). In seiner Wut hat Moses diese beiden Tafeln, die Werk Gottes waren, zerschlagen, und diese sind niemals wiedergefunden. Es gibt nur Bruchstücke. Die traditionelle rabbinische Exegese, meint Jabès, rechnet schon damit. Sie weiß zwar – schon rein graphisch – von einem Text inmitten der Kommentare, aber sie muss sich immer weiter von dieser Mitte entfernen, und immer wieder Kommentare der Kommentare der Kommentare usw. schreiben. Deshalb gilt schon im orthodoxen Judentum: ‚am [so Derrida] Anfang steht die Hermeneutik‘. Es gibt nur Interpretation und kein Ende, denn das Wort Gottes ist verloren gegangen.

Noch anders ist es aber um den Dichter bestellt. Er teilt mit dem Rabbiner die Einsicht in die Unmöglichkeit, in die Mitte des Textes einzutreten, aber auch den Weg des Kommentars ist ihm abgesprochen. Seine Hermeneutik ist eine andere Hermeneutik. Noch stärker ist er sich ‚das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut‘ bewusst. Sicherlich braucht er seine Phantasie, wie Breukelman meinte, aber diese Phantasie ist nicht länger von der Botschaft der ursprünglichen Schrift aufgefordert. Sie bewegt sich völlig ins Freien, oder läuft sie … ins Leere?

René C.J. Venema, Schriftuurlijke verhalen in het Oude Testament (2000)

Man kann die Wirklichkeitserfahrung, die Derrida zum Ausdruck bringt, für unentrinnbar halten. Eigentlich ist man immer im Nachteil, wenn man in der Dekonstruktion nicht völlig mitgeht. Kann man dann je den Ernst und die Schwere des Exils leugnen?

Dennoch wage ich es, auch jetzt wieder ein Zitat vorzulegen, das das vorangehende Zitat widerspricht. Wir kehren zurück zu Moses bei seinem Abstieg vom Berge. René Venema hat eine Studie geschrieben zur Rolle des ‚Buches‘ oder des ‚Buches der Thora‘ in der hebräischen Bibel.[24] Eine solche Fragestellung ist unter uns zweifelsohne von der modernen Dichtung, in welcher der Prozess des Schreibens selbst immer wieder thematisiert wird, beeinflusst, aber sie braucht nicht unbedingt im Sinne der Dekonstruktion beantwortet zu werden. Es ist nun das fünfte Buch Mose, Deuteronomium, das der eigene Charakter des Buches als Buch reflektiert:

‚Diese Untersuchung konzentriert sich auf vier Erzählungen im ‚Alten Testament‘, in welche ‚Bücher‘, und speziell ‚das Buch der Thora‘ eine Schlüsselrolle einnimmt [Deuteronomium 9-10; 31 – 2 Könige 22-23 – Jeremia 36 – Nehemia 8].

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Erzählung des goldenen Kalbes. In Deuteronomium 9-10 findet man eine Version dieser Geschichte, die sich offenbar nicht auf das Bild des Kalbes fokussiert, sondern auf die steinernen Tafeln, die Moses von JHWH empfangen hat und die er, mit dem Götzendienst des Volkes konfrontiert, auf der Stelle in Stücken zerbricht. Wenn ihm ein zweites Paar Tafeln gegeben wird, bewahrt Mose sie auf in der Lade, wo sie für immer bleiben (vgl. 1 Könige 8-9).

Die Bedeutung dieser wohlbekannten Episode wird am Ende des Buches Deuteronomium klar. Moses schreibt im ‚Buch der Thora‘ die Worte auf, die er gesprochen hat, und stellt dieses ‚Buch‘ zur Seite der Lade (Deut. 31, 24-26). Auf dieser Weise sind zwei Schriften mit ihren ‘Autoren’ aufeinander bezogen. Jeder, der den Worten, die JHWH selber nach Deuteronomium auf den steinernen Tafeln niedergeschrieben hat, Beachtung schenken will, soll sich dem ‚Buch der Thora‘ des Moses zuwenden. Überdies haben die Autoren des Buches Deuteronomium es geschafft, in verfeinerter Weise das ‚Buch der Thora‘ mit ihrem eigenen Buch, Deuteronomium, zu identifizieren, ohne es explizite zu sagen.‘

Der göttliche Name selbst ist es, der die Initiative ergreift, mit dem Finger die zwei Tafeln zu beschreiben. Nachdem Mose diese aber zertrümmert hat, ist es auch Mose, der sich bemüht, zum zweiten Male beschriebenen Tafeln zu bekommen – ein zweites Mal wovon Derrida offenbar nicht weiß, oder nicht wissen will. Mose ist also ein Mittler, der den Bund ermöglichen will, und seine lange Rede, die im Buch der Thora einen Niederschlag findet, druckt dieses Mittlertum auch aus als eine Funktion und eine Absicht des Textes. Dieser ist es auch, mit den Wörtern Melanchthons, in welcher ‚die Gottheit ihr vollkommenes Bild eingeprägt hat‘, denn wo die Anbetung des Bildes des Gusskalbes den Gottesdienst zur Abgötterei macht, kann man umgekehrt aus dem Buch erfahren wie der Name sein Bild verstanden wissen will. Dabei bleibt es eine Zweiheit: die zwei Tafeln im Schrein des Bundes, und das Buch der Thora des Moses (das Buch ‚Reden‘ selbst…) zur Seite des Schreins. Keine direkte Identifikation beider schriftlichen Dokumente, keine Lehre wie in der helvetischen Konsensformel! Aber doch auch keine kein Stilisierung der totalen Zertrümmerung (trotz der Geschichte des Kalbes), sondern ein Versuch, inmitten der Trümmer doch eine ‚Richtung und Linie‘ zu skizzieren, ein menschliches Buch zu schreiben und zu bewahren in der Nähe des göttlichen Wortes des Bundes, ein Buch, das, statt das Exil nur zu beklagen, eine Weisung zu geben beansprucht.

Martin Buber und Franz Rosenzweig, ‘Die Bibel auf Deutsch. Zur Erwiderung‘ (1926) 

Wir schließen mit einem Zitat aus einem Versuch zur Verteidigung ihrer Verdeutschung der Schrift, von Martin Buber und Franz Rosenzweig gemeinsam unternommen.[25] Nach dem Erscheinen des ersten Buches, ‚Im Anfang‘, hatte der linke (in einer jüdischen Familie geborenen) Soziologe, Kritiker und Publizist Siegfried Kracauer in April 1926 eine sehr kritische Rezension in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht.[26] Seine allgemeine, ‚metaphysisch-sozialwissenschaftliche‘ These behauptete die ‚Stummheit der Bibel „in unserer Zeit“‘, seine spezifische Kritik der Verdeutschung lautete, dass sie ‚wagnerisiere‘. Buber und Rosenzweig erwiderten im Hauptteil ihrer Replik diese letzte Kritik, und erklärten, dass nicht eine Vorliebe für eine archaisierende Wortwahl, aber Treue zur Eigentümlichkeit der hebräischen Sprache für sie führend gewesen war. Aber dann kommen sie am Schluss doch auf die – inzwischen als ‚fehlbewiesene‘ aufgezeigte – allgemeine These Kracauers zur Stummheit der Bibel zurück. Ihre eigene These, so bekennen sie, ist aber eine ‚beweislose‘ These. Es konnte auch nicht anderes sein, denn sie beruht auf einem Glauben:

‚Wir glauben, daβ dem Wort, das in der Bibel Schrift geworden ist, jede Zeit, die unsere so gut wie irgendeine vergangene, fremd und feindlich gegenüber liegt, daβ aber dies Wort in jeder Zeit die Kraft bewährt, die ihm Hörigen[27] zu ergreifen. Die Zeit ist passiv, das Wort aktiv. Das Wort nur bewahren, nur konservieren, nur allenfalls durch die Zeit tragen zu wollen ist Lästerung. Es will reden, zu jeder Zeit, in jede Zeit, jeder Zeit zum Trotz.[28] Wir wissen nicht, ob es unser Übersetzungswerk in seinem Dienst nehmen wird und in welcherlei Dienst. Wir haben nur das eine zu bedenken: ihm treu zu sein. Ob die um dieser Treue willen geschehenden vereinzelten Wortheimholungen sich einbürgern werden, das ist uns, gegen jenes oberste Gesetz und seine Forderung, eine geringe Sorge.

Wir stehen in diesen Tagen am Abschluß der Arbeit an dem zweiten biblischen Buch. In ihm wird erzählt, wie das Wort bei dem Volk, an das es entboten wird, zunächst taube Ohren findet

„vor Geistes Kürze und vor hartem Frondienst“ [Ex. 6, 9]

Genauer als in dieser Zeile läßt sich eine ungünstige ‚metaphysische und soziologische Situation‘ – so nennt man das ja wohl – kaum beschreiben. Gewiß haben auch damals die Wahrschreiber Ägyptens und seine Weisen Pharao beruhigt, daβ angesichts jener Situation in ‚unserer Zeit‘ jenes Wort zu Stummheit verurteilt sei. Dann geschah, was geschah.‘

Rinse Reeling Brouwer


[1] Dieser Beitrag enthält eine Ausarbeitung des ‚Impulses‘ für den Bibelkongress ‚Gotteswort und Menschenwort. Zur Bedeutung der Bibel‘ Woltersburger Mühle, 24.-26. August 2018.

[2] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Band V.2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, 1072f.

[3] Philipp Melanchthon, Loci Communes 1521. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt von Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1997, 14-15: Immo nihil perinde optarim, atque si fieri possit, christianos omnes in solis divinis literis liberrime versari et in illarum indolem plane transformari. Nam cum in illis absolutissimam sui imaginem expresserit divinitas, non poterit aliunde neque certius neque proprius cognosci. Fallitur, quisque aliunde christianismi formam petit quam e scriptura canonica.

[4] Die Synode hatte sich wahrscheinlich aus kirchenpolitischen Gründen bewusst mittelalterlichen Vorbilder angeschlossen, wenn Sie sich zur folgenden Ordnung der Anfangsartikel entschloss: 1. Der eine und einziger Gott, 2. Die zweifache Manifestation Gottes: in seiner Schöpfungswerke und in seinem Wort, 3-5. Die Heilige Schrift, 6. Der Dreieinigkeit Gottes. Siehe Rinse Reeling Brouwer, ‚The Two Means of Knowing God: not an Article of Confession for Calvin’, in: Studies in Reformed Theology vol. 23, Leiden: Brill 2013, 31-45.

[5] Joannis Calvini Opera Selecta (ed. P. Barth) Vol. I, München: Kaiser 1926, 418. Zu Farels vermutlichen Autorschaft siehe die Calvin Studienausgabe Band I.1, Neukirchen 1994, 133.

[6] Ich zitiere nach der kritischen Herausgabe in: De Nederlandsche Belijdenisgeschriften. Vergelijkende teksten, samengesteld door J.N. Bakhuizen van den Brink, Amsterdam: Holland, 1941, 58f. und 70, siglum O.

[7] ‘Pource que le fondement de croire, comme dit St. Paul, est par la parole de Dieu, nous croyons que le Dieu vivant [c’] est manifeste en sa Loy et par ses prophetes, et finalement en l’Evangile et y a rendu tesmoignage de sa volunté autant qu’il est expedient pour le salut des hommes. Ainsi nous tenons les livres de la saincte Escripture du vieil et nouveau Testament comme la somme de la seule verité infaillible procedee de Dieu, à laquelle il n’est licite de contredire. Mesmes pource que là est contenue la regle parfaicte de toute sagesse, nous croyons qu’il n’est licite d’y rien adiouster ne diminuer mais qu’il [y] faut acquiescer en tout et par tout. Or comme ceste doctrine ne prend son autorité des hommes ne des anges, mais de Dieu seul, aussi nous croyons (d’autant que c’est chose surmontant tous sens humains, de discerner que c’est Dieu qui parle) que lui seul donne la certitude d’icelle à ses elues, et la seelle en leurs coeurs par son Esprit.’

[8] Im letzten Satz situiert Calvin das Wirken des Geistes als die Gabe und die Versiegelung der Gewissheit des versprochenen Wortes in den Herzen des Menschen. Damit präludiert er die große Frage seines Landesgenossen René Descartes im folgenden Jahrhundert nach der Begründung der Gewissheit der Wahrheit im Subjekt. Bei Calvin ist diese Begründung (noch) in einer Instanz außerhalb des Subjektes gegeben.

[9]  ‘Estans ainsi fondez nous croyons en un seul Dieu eternel, d’une essence spirituelle, infinie, incomprehensible et simple: toutesfois en laquelle il y a trois personnes distinctes, le Pere, sa Parole ou sa Sagesse, et son Esprit. Et combien que le nom de Dieu soit quelque fois attribué en particulier au Pere d’autant quíl est [le] principe et origine de sa Parole et de son Esprit, toutesfois cela n’empesche point [pas] que le Fils n’ait en soy toute Divinité en perfection, comme aussi le sainct Esprit, d’autant que chacun ha tellement ce qui luy est propre quant à la Personne que l’essence unique n’est point divisee. Et en cela nous a[uo]vons ce qui a esté determiné par les anciens Conciles et detestons toutes sectes et heresies qui ont esté reiettees par les saincts docteurs depuis S. Hilaire, Athanase, iusq’à S. Ambroise et Cyrille.’

[10] K.H. Miskotte, 1. ‘Opmerkingen over theologische Exegese ‘, in: M.C. Slotemaker de Bruine e.a., De openbaring der verborgenheid, Baarn: Bosch & Keuning 1934, 63-99, Zitat auf S. 86; 2. Derselb., ‘Das Problem der theologischen Exegese’, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum. 50. Geburtstag, München: Kaiser 1936, 51-77, Zitat auf S. 63f.; 3. Derselb., ‚De opdracht der exegese‘, in: Om het levende Woord, ’s Gravenhage: Daamen 1948, 7-114, Zitat auf S. 75, die Erweiterungen auf S. 75f. und 78.

[11] Sc. eine Anspielung an dem Ausdruck ‚ubi et quando visum est Deo‘ aus dem Augsburger Konfession art. V.

[12] [1948, S. 75:] ‘De term ‘woord‘ is zelf antropomorf (zo men wil oosters-magisch); juist zo moet men hem ernstig nemen om te verstaan wat hij als kwalificatie van de Schrift betekent. Dabar is de macht, waardoor de wereld aan de menselijke verklaring en beschikking onttrokken wordt; die tegelijk de mens aan zichzelf ontdekt en als zodanig over hem beschikken wil. Dabar is dit soeverein gebeuren, waarin feit en zin één zijn. Het is de daad, die spreekt en het woord, dat ingrijpt; de zaak, die wordt meegedeeld, zingt erin; en de zang, die zich verheft, is de ziel van de zaak; en het geheel van dit daadwerkelijk spreken moet gedacht worden als nergens neutraal maar altijd scheppend, nergens een onpersoonlijke waarheid of een rustend feit, steeds gericht op een bepaald mens in een bepaalde situatie, steeds vol ‘tendens’, om mens en volk te verzetten uit hun zelfverkozen posities. […][S. 78:] Naar ons inzicht geeft een zuiver benutten van de zin van dabar een onmiddellijke correctie aan de leer van het testimonium Spiritus Sancti. Deze leer is slechts in zoverre heilzaam als zij verstaan wordt in overeenstemming met de werkzaamheid van de Geest in het algemeen, die ‘extern’ moet heten. Dit kan alleen dor en koud en veraf lijken, zolang men de Schrift ziet als een rustend ding buiten ons, waaraan in onze ziel, minstens een grond-ervaring, een mystiek oer-inzicht zou moeten beantwoorde. De ‘these’ die wij bespreken, gaat echter juist aan dit schema voorbij.’

[13] So um 1700 schon bei Samuel Werenfels in Basel und um 1850 bei J.H. Scholten in Leiden.

[14] Martin Buber, Werke II. Schriften zur Bibel, München und Heidelberg: Kösel und Lambert Schneider 1962, 303.

[15] K.H. Miskotte, Bijbelsch ABC, Nijkerk: Callenbach 1941, 8f; derselb., Bijbels ABC, Baarn: Ten Have 1971, 12f; derselb., Biblisches ABC, übers. Von Hinrich Stoevesandt (1976), Knesebeck: Erev-Rav, 1997, 20f.

[16] Vorschlag zur Übersetzung von Dick Boer.

[17] [1941] ‘Maar nu het gevaar […] dat wij gaan praten en nog eens praten en geloven in ons eigen gepraat en gelijk-hebben of gelijk-willen-hebben, voordat wij hebben gezien, persoonlijk en tezamen, dat HET GEZAG VOOROP GAAT. Want dat zou betekenen dat wij, eenzaam-geworden, prijsgegeven aardekinderen, opnieuw in onze eenzaamheid gelaten worden en onszelf zouden moeten opvoeden in plaats van opgevoed te worden, ons zelf een weg zouden moeten banen door de wirwar van meningen in plaats van overgezet te worden in de wereld, in het Rijk van Hem die de ‘Vader der geesten van alle vlees’ heet [Num. 16:22 en Hebr. 12:9]. Zelfopvoeding is géén opvoeding; wij kunnen niet tot de Schrift komen, wij moeten ervan uitgaan; er is een vruchtbare beweging naar alle zijden in het ontzaglijke leven mogelijk, maar alleen wanneer wij onze positie kiezen, of liever (want hier valt niets te kiezen) verkoren worden om plaats te nemen in het hart van deze waarheid en der werkelijkheid. Zeker is het honderdmaal eenvoudiger om het gezag der Schrift te beredeneren dan het gezag van de totaalstaat of van een heidense wereldbeschouwing. En toch mág het niet, omdat het in láátste instantie niet kán. Gods Woord zou niet Woord van God zijn, indien het wél zou kunnen. Het gezag gaat voorop! Maar nu, anderzijds en positief, wat is nódig? Wat snijdt aan onze kwade neigingen, ons zelf te rechtvaardigen door middel van de bijbel, de pas af en bewaart ons voor particuliere, sektarische strevingen? [1966:] Hoe vinden wij echte vrijheid uit het gezag? Wat is in staat te verhinderen dat wij dit gezag misverstaan? Gezag is hier het gezegde zelf, als het zich in zijn eigen aard aan ons aandient. Het wordt ons niet opgelegd, maar aangeboden. Het treedt aan het licht en trekt ons tot het licht. Het legt beslag op ons, méér zoals een kunstwerk dat doet dan zoals een betoog dat zou doen. Het wint ons hart niet door het te onderwerpen maar door het te bevrijden. De Schrift ontneemt ons niet onze zelfstandigheid, maar zij betekent een inwijding in haar hogere oorspronkelijkheid. Het gezegde komt daarbij tot ons in een eenvoud die onze complicaties beschaamd maakt.’

[18] Siehe Giorgio Agamben, Stato di eccezione, Torino: Bollati Boringhieri, 2003 (Deutsch: Ausnahmezustand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004), Kap. 6.2.

[19] F.H. Breukelman, Bijbelse Theologie I, 1. Schrift-lezing, Kampen: Kok, 60.

[20] ‘Vanwege de drie gestalten van het Woord Gods – de Openbaring, de heilige Schrift en de prediking van de kerk – zijn er drie mogelijkheden van fatale directe identificatie. De eerste is die van de Openbaring met de heilige Schrift, zoals we die in de theologie van de protestantse orthodoxie aantreffen (1560-1720). De tweede is die van de Openbaring met de traditie van de ecclesia docens, zoals die in de klassieke rooms-katholieke theologie wordt gevonden. De derde mogelijkheid is de directe identificatie van de Schrift met de prediking van de kerk, en daarmee hebben we in vele moderne vertalingen te maken. Hierdoor wordt het onderscheid tussen het spreken van profeten en apostelen en het spreken van de huidige gemeente tenietgedaan. Door echter de profeten en de apostelen te dwingen om als getuigen van de openbaring in de vertaling ook de moderne mens direct aan te spreken – hetgeen niet hun, maar ons is opgedragen – kunnen zij ons niet meer doen horen wat zij ons ook in  de vertaling zouden willen laten horen; en ons is het onmogelijk gemaakt om aan mensen van onze eigen tijd in een taal die ze kunnen verstaan, de strekking en de portée van het getuigenis van profeten en apostelen duidelijk te maken, waarin we dat moeten doen op grond van een vertaling, waarin zij in onze taal hun eigen taal niet meer mogen spreken. Het fatale van de drie genoemde directe identificaties bestaat hierin, dat er geen speelruimte meer is voor de Geest en dan ook niet voor de onmisbare fantasie.’

[21] Siehe jetzt in der kritischen Ausgabe der Reformierten Bekenntnisschriften Band 3/2, Neukirchen-Vluyn 2016, canones auf die Seiten 454ff. (mit einer Einleitung von Emidio Campi).

[22] In J. Derrida, L’Écriture et la différence, Paris: Seuil, 1967, Zitat auf 102; deutsche Übersetzung: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, (102-120)105f.

[23] ‘Entre des morceaux de la Table brisée pousse le poème et s’enracine le droit á la parole. Recommence l’aventure du texte comme mauvaise herbe, hors de loi, loin de « la patrie des Juifs « qui « est un texte sacré au milieu des commentaires ». La nécessité du commentaire est, comme la nécessité poétique, la forme même de la parole exilée. En commencement est l’herméneutique. [Citations « … » d’Edmond Jabès]. Mais cette commune impossibilité de rejoindre le milieu de l’exégèse, et cette nécessité commune, cet impérative de l’interprétation est interprété différent par le poète et le rabbin. La différence entre l’horizon du texte original et l’écriture exégétique est irréductible la différence entre le poète et le rabbin. […] L’ouverture originaire de l’interprétation signifie essentiellement qu’il y aura toujours des rabbins et des poètes. Et deux interprétations de l’interprétation.’

[24] C.J. Venema, Schriftuurlijke verhalen in het Oude Testament, Diss. Universität von Amsterdam 2000. Zitiert ist hier nach der englischen Zusammenfassung, S. 242.

[25] Martin Buber und Franz Rosenzweig, ‚Die Bibel auf Deutsch. Zur Erwiderung‘, in: Martin Buber und Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken Verlag 1936, (276-291)291. Die Erwiderung erschien zwar in der Frankfurter Zeitung, sondern gekürzt. Buber publizierte sie erst 1936 vollständig.

[26] Zu meinem Bedauern war Walter Benjamin von dieser Rezension begeistert. Siehe Walter Benjamin, Gesammelte Briefe Band III. 1925-1930, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, (110) 143ff., 162-165, 167.

[27] Das Wort ‚hörig‘ hat evident eine spezifische Konnotation zur Bezeichnung einer Form feudaler Abhängigkeit bekommen. Buber und Rosenzweig geben ihm einen rein theologischen Sinn: auf das Wort der Miqra, der laut gerufenen Schrift, kann man nur hören, man kann ihm nur ‚hörig‘ sein.

[28] Dieser Satz bildet den Titel dieses Beitrags (RRB).

About the author

R.H. Reeling Brouwer

Plaats een reactie